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John Eldredge

Mit Gott die
Welt verändern

Beten mit Vollmacht und Leidenschaft

Titel der englischen Originalausgabe: Moving Mountains

© 2016 by John Eldredge

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing, Inc.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Thomas Nelson, einem Imprint von HarperCollins Christian Publishing.

Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben, dem Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. Copyright © 2011 Genfer Bibel­gesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Weitere verwendete Übersetzungen sind wie folgt gekennzeichnet:

BaB – BasisBibel. Das Neue Testament und die Psalmen, © 2012 Deutsche Bibel­gesellschaft, Stuttgart.

 – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

GNB – Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Hfa – Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

L – Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

MSG – The Message by Eugene H. Peterson. © 1993, 1994, 1995, 1996, 2000. NavPress Publishing Group. Alle Rechte vorbehalten. Deutsche Fassung von der Übersetzerin.

NeÜ – NeÜ bibel.heute © 2010 Karl-Heinz Vanheiden, www.derbibelvertrauen.de, und Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg, www.cv-dillenburg.de.

ELB – Revidierte Elberfelder Bibel © 1985/1991/2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: Renate Hübsch

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

© 2017 Brunnen Verlag Gießen

Umschlagfoto: mauritius images / SuperStock / Ed Darack

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

ISBN E-Book 978-3-7655-7471-9

www.brunnen-verlag.de

Für all die Männer und Frauen,
die mich beten lehrten –
ich bin dadurch ein anderer Mensch geworden.

Eins

Gebet, das etwas bewirkt

Der 26. Juni 2012 war ein brütend heißer Sommertag im Bundesstaat Colorado. In Colorado Springs stieg das Thermometer auf die Rekordhöhe von 38,5 Grad Celsius – und fachte damit die Angst vor dem herannahenden Waldbrand in der Bergregion westlich der Stadt noch weiter an. Die Einsatzkräfte der Feuerwehr hatten sich bisher vergeblich bemüht, ihn unter Kontrolle zu bringen. Die anhaltende Trockenheit hatte die Berghänge bereits zu Zunder ausgedörrt.

An diesem Tag richteten sich viele besorgte Blicke auf die Berge. Dann, wie auf ein arglistiges Stichwort hin, fegten Windböen mit fast 100 Stundenkilometern über Stadt und Bergregion. (Schon ein Sturm von nur halber Stärke wirft einen Mann um; aber 100 Stundenkilometer – Windstärke 11 bis 12 –, das gilt auf der Beaufort­skala für Windgeschwindigkeit als Orkan.) Sturm und Flammen auf knochentrockenem Bergland – wahrlich eine unheilige Trinität.

Durch den starken Wind angefacht, sprang das Waldo-­Canyon-Feuer über die Feuerschneisen und näherte sich so raubgierig und ungehindert der östlichen Stadtgrenze, wie 1939 Hitlers Blitzkrieg über Polen dahingetobt war. Letzten Endes sollten dem Feuer knapp siebeneinhalbtausend Hektar Land und 346 Wohnhäuser zum Opfer fallen.

Ich saß an jenem Nachmittag an meinem Schreibtisch, als ein Kollege hereinkam und fragte: „Hast du das gesehen?“ Instinktiv eilte mein Blick zu den Bergen – das Bürofenster geht nach Westen – und ich sah die Feuerfront, deren Vorhut sich gerade über die letzte Bergkette vor der Stadt wälzte. Für unser Wohnviertel (das an den Wald grenzt) war bereits zweimal die Evakuierung angekündigt worden. Seit Tagen beobachteten wir die Rauchsäulen über dem Epizentrum des Feuers im Westen, die sich zehn Kilometer emporblähten wie eine riesige Gewitterwolke oder das Deckbett eines Vulkans – unheilschwanger in ihrem leuchtenden Orange und düsteren Schwarz.

Aber in den Nachrichten hatte man uns immer wieder ver­sichert, das Feuer würde nordwestlich an der Stadt vorbeiziehen, und wir hatten einfach unser Leben weitergeführt wie sonst – bis zu dem Moment, in dem ich die Flammen über die Bergkette kriechen sah. Auf dem Weg zur Tür schnappte ich mir mein Handy und rief meine Frau Stacy an: „Du musst packen; ich bin unterwegs nach Hause.“ – „Aber es gab doch keinen Evakuierungsalarm“, protestierte sie. „Das Feuer kommt“, erklärte ich. „Es kommt näher, ich kann es sehen. Ich bin unterwegs.“ Wie jemand, der einer auflaufenden Flut zu entkommen sucht, raste ich buchstäblich mit dem Feuer um die Wette, das Bergkuppe um Bergkuppe eroberte. Der Hund und ein paar Habseligkeiten waren rasch ins Auto geladen – es stimmt, was man so sagt: Wenn „der Augenblick“ gekommen ist, gibt es nur noch wenig wirklich Wichtiges – allem anderen sagten wir Lebe­wohl.

Unsere Nachbarn waren die Letzten, die flohen; später erzählten sie uns, dass Häuser auf dem Hügel explodiert waren. Im Stau feststeckend, der durch die Evakuierung verursacht war und auf den die Asche wie ein makabrer Schneesturm herabwehte, benachrichtigten wir verzweifelt Freunde per SMS oder Anruf und baten um ihr Gebet. Mein Wagen hat keine Klimaanlage; also tauchte ich einen Schal von Stacy in Wasser und hielt ihn mir vor den Mund, um keinen Rauch einzuatmen. Währenddessen schmiedete ich Notfallpläne, sollte das Feuer uns einholen – denn die Windböen fegten jetzt heulend von den Bergen heran und trieben die Feuerwalze vor sich her wie eine Ausgeburt der Hölle.

Wir erreichten Freunde im Osten der Stadt, wo wir erst einmal unterkamen, und beobachteten angespannt, wie das Feuer sich entwickelte. Es sollte noch drei lange Tage dauern, an denen Flammen und Rauch aufstiegen und Aschewolken die Berge verhüllten, bis wir Nachricht bekamen – unser Haus war verschont worden.

Es wurde dies und das gemunkelt, aber was uns endgültig sprachlos machte, war schließlich der Bericht der Feuerwehr. Ein erfahrener Einsatzleiter und ein paar besonders Unerschrockene aus seinem Trupp waren in unserer Straße, als sie Zeuge eines Geschehens wurden, wie sie es noch nie erlebt hatten. Die dreißig Meter hohe Feuerfront hätte unseren knochentrockenen Berghang eigentlich wie Pulver in Brand setzen müssen und es wäre eine Frage von Sekunden gewesen, bis unser Anwesen nur noch Schutt und Asche gewesen wäre.

Aber das geschah nicht. Als die rasenden Flammen die Grenze unseres Grundstücks erreichten, war es, als seien sie plötzlich unschlüssig. Sie zögerten – und wichen schließlich zurück. Das geschah etliche Male. Die höllische Front gelangte einfach nicht auf unseren Grund und Boden. Sie stürmte heran, zog sich zurück, stürmte wieder, wich wieder zurück – obwohl der Wind sie von hinten antrieb und das Feuer soeben in wenigen Minuten etliche Kilometer Land verwüstet hatte.

Irgendwann fiel uns auf, dass das zur selben Zeit geschehen war, als ein Freund uns diese Nachricht geschickt hatte:

Ich habe einen Engel gesehen. Er schwebte über eurem Haus, breitete die mächtigen Flügel aus und trat so Wind und Flammen entgegen. Ich glaube, es wird euch nichts geschehen.

Als es schließlich gestattet war zurückzukehren, bot sich ein erstaunliches Bild: Das schwelende Buschfeuer war bis an die ­Veranda des Hauses herangekrochen. Aber die große Feuerwalze hatte die Grundstücksgrenzen nicht überwunden. Die Pappeln im Garten standen in ihrer ganzen sommerlichen Frische unversehrt da.

Ich weiß – diese Geschichte gibt Anlass zu schwierigen Fragen. Sie rührt an den empfindlichen Nerv unseres Bedürfnisses nach Schutz und Rettung und an unsere lange Liste unbeantworteter Gebete. Andere haben auch ernsthaft gebetet, als das Feuer heranstürmte – wieso wurden deren Häuser nicht verschont?

Ich will nicht so tun, als wüsste ich die Antwort auf diese Fragen. Gebete, die erhört wurden, Gebete, die nicht erhört wurden, oder ein Schweigen, auf das ich mir keinen Reim machen kann? Davon kann ich ebenso ein Lied singen wie Sie vermutlich auch. Dies ist kein Bericht über meine Erfahrungen mit dem Beten.

Aber eines weiß ich: Jeden Tag, wenn ich aus der Haustür trete, sehe ich vor mir auf dem Berghang die Silhouette der geschwärzten Baumruinen und davor, direkt an unserer Grundstücksgrenze, grüne, unversehrte, blühende Bäume. Der Hintergrund gleicht Mordor; der Vordergrund dem Garten Eden. Ein Bild wie ein unwiderlegbares Zeugnis für die Macht des Gebets.

Eine verstörende, aber hoffnungsvolle Wahrheit

Also, nennen wir das Problem doch gleich beim Namen. Manche Gebete wirken, manche Gebete wirken nicht. Warum überrascht uns das? Ärgert uns sogar? Manche Diäten funktionieren, die meisten funktionieren nicht; das überrascht kaum jemanden. Wir suchen einfach weiter nach der, die für uns funktioniert. Manche Investitionen zahlen sich aus, andere nicht; wir suchen nach der, die sich für uns auszahlt. Manche Schulen sind effektiv; andere überhaupt nicht; hoffentlich können Sie die finden, die für Ihr Kind die beste ist.

Es gibt eine Weise, wie Dinge funktionieren. Nennen Sie mir irgendetwas in dieser Welt, für das das nicht gilt.

Letzten Sommer habe ich mir beim Arbeiten den Arm verletzt. Ein paar Wochen lang habe ich das Problem ignoriert, bis ich mich schließlich doch gezwungen sah, meine Physiotherapeutin aufzusuchen. Das tat ich in der Annahme, dass ein paar Termine bei ihr das Problem aus der Welt schaffen würden; es war ja schließlich nichts Ernstes, nur eine Muskelzerrung, Überbelastung, kein Knochenbruch. Aber die Therapie dauerte Monate – und das ­ärgerte mich maßlos. Meinen Arm ärgerte ich ebenfalls – indem ich ihn benutzte, bevor er ganz geheilt war. Ich reizte den Muskel immer mehr, weil ich nicht bereit war, mein Leben den Tatsachen anzupassen – in diesem Fall der Tatsache, dass ein winziger Muskel in meinem linken Arm Schonung brauchte.

Sie kennen diese Verärgerung, von der ich spreche. Irgendetwas Pubertäres in der menschlichen Natur hat etwas dagegen, dass es sich den Realitäten der Welt um uns herum (und in uns) beugen soll. Wir wollen essen, wenn uns danach ist; und wenn unsere Gesundheit das nicht lange mitmacht, sind wir überrascht und bestürzt. Wir wollen, dass Fitness schnell erreichbar ist, dass Diäten rasche Erfolge bringen; alles soll bitteschön fein ordentlich in unseren Terminplan passen. Wir wollen, dass unsere Freunde freundlich zu uns sind, ohne dass wir uns mit der Frage beschäftigen müssen, wie unser Charakter und Verhalten auf unsere Freunde wirken. Wir wollen, dass die Kinder „wohlgeraten“, ohne dass wir die Opfer bringen, die Eltern nun einmal bringen müssen, um ihren Kindern gerecht zu werden.

Und mit dem Gebet ist es nicht anders. Wir hätten es gern leicht, easy, ungefähr nach dieser Formel:

Gott liebt uns und er ist mächtig.
Wir brauchen seine Hilfe.
Wir bitten darum, so gut wir können.
Der Rest ist seine Sache.

Er ist schließlich Gott. Ihm ist alles möglich.

Das Problem ist nur: Manchmal erhört Gott unser Gebet, manchmal tut er es nicht – und wir haben nicht die geringste Ahnung, warum oder nach welchem Muster er mal so und mal so handelt. Wir verlieren den Mut und geben das Beten ganz auf. (Und wir sind gekränkt und glauben auch, wir hätten ein Recht dazu.) Wir missachten genau den Schatz, den Gott uns gegeben hat, damit wir gerade nicht den Mut verlieren, damit wir „Berge“ auf unserem Weg versetzen und die Welt in eine Richtung verändern können, wie wir sie uns so dringend ersehnen.

Die unbequeme Wahrheit lautet: Das ist eine sehr naive Auffassung vom Beten, ungefähr so naiv wie der Glaube, dass es nur Liebe braucht, damit eine Ehe gelingt, oder die Auffassung, Außenpolitik solle auf dem Vertrauen in unsere Mitmenschen gründen.

Diese vereinfachte Sicht des Gebets hat schon viele Seelen zerstört, weil sie entscheidende Fakten außer Acht lässt. Es gibt eine Weise, wie Dinge funktionieren.

Gott ist mächtig, ich bitte ihn um Hilfe und dann ist er am Zug – dieses Muster erinnert mich an eine Szene aus dem Film Patch Adams. Patch ist ein junger Medizinstudent mit einem Herzen aus Gold. Er möchte Menschen am Rand der Gesellschaft medizinische Versorgung bieten. Er sammelt eine Gruppe gleichgesinnter Idealisten um sich und sie beginnen, ihren Traum umzusetzen.

Dann schlägt das Schicksal zu. Patchs Freundin wird ermordet – und zwar von einem schizophrenen Mann, einem der Leute, denen Patch und seine Freunde helfen wollen. Die folgende Szene nimmt uns mit auf einen Felsen; Patch steht am Rand des Kliffs. Die Stimmung ist unheilschwanger; man erwartet, dass er sich jeden Moment hinunterstürzt. Patch streitet mit Gott. Ich mag diese Szene sehr – er kommt aus der Deckung, er kämpft mit dem richtigen Gegner. Bis deutlich wird, dass er die Welt völlig falsch versteht:

Patch blickt zum Himmel auf.

„Also bitte, gib mir eine Antwort – sag mir, was du im Schilde führst.“

Schweigen.

„Okay, betrachten wir’s mal logisch: Du erschaffst den Menschen. Der Mensch erleidet enorm viel Schmerz. Der Mensch stirbt. – Vielleicht hättest du ein wenig länger brainstormen sollen, bevor du diese Welt erschaffen hast.“

Pause.

„Am siebten Tag hast du dich ausgeruht. Vielleicht hättest du den Tag besser verwendet, um uns zu bemitleiden.“1

Patchs Weltsicht ist lückenhaft – gefährlich lückenhaft. Sie lässt ein paar schrecklich entscheidende Fakten der Geschichte außer Acht:

„Du erschaffst den Menschen. Der Mensch beschließt, gegen dich zu rebellieren. Wir liefern unser Leben, diese Welt und die Geschichte der Menschheit dem Bösen aus. Unser ganzes Elend beruht auf dieser Tatsache. Aber du greifst ein – du sendest deinen Sohn, um uns zu retten. Seitdem befinden wir uns in einem weltgeschicht­lichen Kampf um diese Menschheit und um diesen Planeten.“

Sehen Sie, welchen Unterschied die wenigen „Auslassungen“ machen? Ohne diese Elemente der Geschichte können wir Dinge wie Waldbrände oder Mordfälle nicht verstehen. Ebenso wenig wie die Frage, warum manche Gebete wirken und manche nicht.

Es gibt Antworten

Das Gebet stellt uns vor ein furchtbares Dilemma. Wir wollen beten, das liegt in unserer Natur. Wir wollen verzweifelt gern glauben, dass Gott sich für unsere Sache einsetzt. Aber dann … sieht es nicht danach aus, als ob er das täte. Und was machen wir dann?

Ich glaube, gerade in diesem Dilemma steckt Gott. Ich glaube, er will, dass wir dranbleiben, dass wir damit ringen, so lange, bis wir wirkliche, tragfähige Antworten gefunden haben.

Die Wirklichkeit, in der wir uns vorfinden, ist weitaus komplexer, als man die meisten Menschen glauben gemacht hat – besonders Menschen, die an Gott glauben. Wie Patch haben wir ein gefährlich lückenhaftes Verständnis von unserer Situation, zum Beispiel:

Gott ist allmächtig.
Er hat nicht eingegriffen.
Also war es wohl nicht sein Wille, etwas zu tun.

Ja – Gott ist souverän. Und in dieser Souveränität hat er eine Welt erschaffen, in der die Entscheidungen von Menschen und die Entscheidungen von Engeln zählen. Und zwar gewaltig.

Er hat uns die „Würde der Ursächlichkeit“ verliehen, wie ­Blaise Pascal es formuliert hat. Unsere Entscheidungen haben enorme Konsequenzen. Darauf werden wir noch ausführlich zurückkommen. Auf jeden Fall lässt sich das Gebet nicht auf die schlichte Formel bringen: „Ich habe gebetet; Gott hat sich nicht gerührt. Er hat es wohl nicht gewollt.“

Wir sind in die spannendste Geschichte eingestiegen, die sich überhaupt nur denken lässt. Eine Geschichte voller Gefahr, Abenteuer und Wunder. Es gibt nichts Hoffnungsvolleres als den Gedanken, dass die Dinge auch anders sein können, dass wir in der Tat Berge versetzen können und dass wir eine Rolle darin spielen, dass dies geschieht.

Vielleicht finden wir erste Antworten oder wenigstens eine neue Perspektive auf die Dinge in einer Geschichte aus dem Alten Testament. Während der Herrschaft von König Ahab (circa 860 v. Chr.) litt der Nahe Osten unter einer Dürre, die dreieinhalb Jahre anhielt. Die Ernte verdorrte; im Land herrschte Hunger; das Vieh musste geschlachtet werden, weil es nicht genug Futter fand. Eine Szene wie aus den jüngsten Hungergebieten Afrikas. Aber ein Ende war in Sicht; Gott hatte dem Propheten Elia gesagt, dass die Zeit der Dürre zu Ende sei. „Nach mehr als zwei Jahren sagte der Herr zu Elia: ‚Geh jetzt, und zeig dich Ahab! Ich will es wieder regnen lassen‘“ (1. Könige 18,1; Hfa).

Endlich hatte sich der Himmel erbarmt; es würde regnen; eine wahre Sturzflut nahte bereits heran, beinahe eine biblische Sintflut – Regen von der Art, dass Ochsenkarren bis zu den Rad­achsen im Schlamm versinken und die Kinder eine Woche schulfrei kriegen. Aber bevor das geschehen konnte – und das ist der erste faszinierende Zug an der Geschichte –, bevor es so weit war, musste Elia beten. Warum das denn? Konnte Gott es nicht einfach regnen lassen? Schwer zu sagen. Bleiben wir also bei der Geschichte …

Während Ahab aß und trank, stieg Elia zum Gipfel des Karmel hinauf. Dort oben kniete er nieder, verbarg das Gesicht zwischen den Knien und betete. Nach einer Weile befahl er seinem Diener: „Steig auf den höchsten Punkt des Berges, und blick über das Meer! Dann sag mir, ob du etwas Besonderes siehst.“ Der Diener ging, hielt Ausschau und meldete: „Kein Regen in Sicht!“ Doch Elia schickte ihn immer wieder: „Geh, sieh noch einmal nach!“

Endlich, beim siebten Mal, rief der Diener: „Jetzt sehe ich eine kleine Wolke am Horizont, aber sie ist nicht größer als eine Hand.“ Da befahl Elia: „Lauf schnell zu Ahab, und sag ihm: ,Lass sofort anspannen, und fahr nach Hause, sonst wirst du vom Regen überrascht!‘“ Da kam auch schon ein starker Wind auf, und schwarze Wolken verfinsterten den Himmel. Es dauerte nicht mehr lange, und ein heftiger Regen prasselte nieder. Ahab bestieg hastig seinen Wagen und fuhr in Richtung Jesreel (1. Könige 18,42-45; Hfa).

Ich liebe diese Geschichte; sie ist so bodenständig und unglaublich hilfreich, wenn es darum geht zu verstehen, was Beten ist und wie es funktioniert. Gott will handeln, das steht fest; aber er besteht darauf, es nicht ohne Elias Gebet zu tun. Das erinnert mich an ein Wort von Augustinus: „Ohne Gott können wir nicht. Ohne uns will Gott nicht.“

Wir befinden uns in einem Universum, das so gestaltet ist, dass das Gebet darin eine wesentliche Rolle spielt, manchmal die entscheidende Rolle. Unsere Entscheidungen zählen.

Weiter: Elia sondert nicht nur ein paar kleine Stoßgebete ab; keine „Schnittblumen-Gebete“, wie Eugene Peterson sie nennt. Kein schnelles „Jesus, bitte geh mit uns in diesen Tag“. Elia ist entschlossen, Ergebnisse zu sehen. Er kniet nieder und betet und dann schickt er seinen Diener, damit der feststellt, ob sein Gebet funktioniert – hat es irgendwelche Auswirkungen?

Ich liebe diese Haltung des alten Propheten, seine Bereitschaft, alles daranzusetzen, zu sehen, was geschieht, und dann anhand der Ergebnisse den nächsten Schritt zu tun. Der Diener kommt zurück und berichtet, der Himmel sei klar und blau, so wie seit Jahren, so verschlossen wie der Schoß der alten Sarai. Das ist der Punkt, an dem die meisten von uns aufgeben. Aber der alte Prophet bleibt bei der Stange. Noch eine Gebetsrunde, noch einmal muss der Diener Ausschau halten. Nichts.

Elia zieht den Mantel aus, stemmt sich in die Riemen und betet weiter. So schnell lässt er sich vom Augenschein nicht entmutigen.

Noch sechs Mal wiederholt er sein Gebet. Wir würden inzwischen längst bei Starbucks hocken und etwas von der „dunklen Nacht der Seele“ vor uns hin jammern und fragen, was wir nur mit dem „Schweigen Gottes“ anfangen sollen. Ganz anders unser alter Israelit – der ist noch immer auf seinem Berg und hält durch. Nach acht Gebetsrunden – und Runden scheint mir tatsächlich ein angemessener Ausdruck; man denkt an Runden im Boxring, an Schweiß, verbissenen Siegeswillen und ganzen Einsatz –, nach acht Runden also sagt der Diener: „Tatsächlich, da ist eine kleine Wolke am Horizont, kaum eine Hand groß.“ Mehr braucht es nicht und der Sturm ist im Anmarsch.

Vergleichen wir dies mit einer Geschichte, die Anne Lamott in ihrer Autobiografie Traveling Mercies erzählt. Sie schildert ihre verständliche überwältigende Sorge angesichts einer möglichen ­Diagnose von schwarzem Hautkrebs (verständlich, da ihr Vater daran verstorben war) und die sechs Wochen, die sie auf einen Biopsietermin warten musste. Nach einem Besuch beim Hautarzt kommt sie nach Hause: „Auf einem Zettel schrieb ich Gott eine kleine Nachricht. Sie lautete: ,Ich bin ein bisschen besorgt. Hilf mir, nicht zu vergessen, dass du auch jetzt bei mir bist. Ich werde jetzt meine klebrigen Finger vom Steuerknüppel nehmen, bis ich wieder von dir höre.‘ Dann hab ich den Zettel zusammengefaltet und in die Nachttischschublade gesteckt, als sei es Gottes Briefkasten.“2

Um das vorwegzusagen: Ich mag Anne Lamott sehr; ihr Buch erzählt eine berührende Geschichte, die so viel Wahres über uns und unsere Menschlichkeit enthält. Aber wenn sie zum Thema Gebet kommt, finde ich nicht mehr viel Hilfreiches. Was glauben Sie, wessen Gebet wird wohl eher Ergebnisse sehen können – Elias oder Anne Lamotts? Wenn Sie einen von beiden bitten könnten, für einen nahestehenden Menschen zu beten – wen würden Sie wählen?

Seien wir ehrlich – manche Gebete wirken, manche wirken nicht. Es mag uns peinlich sein, das zuzugeben, aber wir wissen, dass es so ist. Wenn wir uns überhaupt für das Gebet interessieren, dann natürlich für ein Gebet, das wirkt. Und ein solches Gebet ist Gegenstand dieses Buches. Das bringt uns zurück zu Elia, dem Propheten aus Tischbe in Gilead.

Es gibt eine oft übersehene Aussage im Neuen Testament, die unser Bild von Gebet auf unerwartete Weise bereichern kann. Wir finden sie im Jakobusbrief und sie bringt uns zurück zu dem alten Propheten bei seinem Gebetskampf auf dem Berg Karmel: „Das Gebet eines Menschen, der sich nach Gottes Willen richtet, ist wirkungsvoll und bringt viel zustande. Elia war ein Mensch wie wir, und als er Gott im Gebet anflehte, es möge nicht regnen, fiel drei Jahre und sechs Monate lang im ganzen Land kein Regen. Danach betete er erneut, und diesmal ließ der Himmel es regnen, und das Land brachte wieder seine Früchte hervor“ (Jakobus 5,16-18).

Jakobus gibt seinen Lesern Nachhilfe in Sachen Gebet. (Immerhin hatte er ein paar beeindruckende Demonstrationen für die Macht des Gebets selbst miterlebt – er war schließlich mit dem Mann aufgewachsen, der aus dem Lunchpaket eines Knaben ein großzügig kalkuliertes Buffet für fünftausend Männer samt Anhang machte.)

Jakobus erinnert an die Geschichte der Dürre, die ich oben geschildert habe, und kommt dann zu einer atemberaubenden Schlussfolgerung: Du bist nicht anders als Elia. Nur sagt er es andersherum: „Elia war ein Mensch wie wir.“ Jakobus will eine Haltung entkräften, die es häufig unter den Frommen gibt und die den Wert biblischer Erzählungen vergiftet: Ja, sicher, das galt für Den-und-den (in diesem Fall Elia), aber der war ja auch kein Normal­sterblicher. Nö. Gilt nicht. Trifft einfach nicht zu. Deutlicher kann man es ja wohl kaum sagen: „Elia war ein Mensch wie wir“ – wie Sie und ich.

In anderen Worten: Was Elia möglich war, ist uns auch möglich.

Ich will Sie gar nicht überzeugen, dass Sie beten sollten. Wenn die Probleme der Menschen, die Sie lieben, das Leid der Welt oder Ihre eigenen Träume, Wünsche oder Anfechtungen nicht Grund genug sind, dann habe ich nichts zu sagen, das mehr Überzeugungskraft haben könnte.

Was ich aber tun kann: Ich kann Ihnen helfen, tiefer zu verstehen, was Beten bedeutet, und ich kann Ihnen genug Anwendungsbeispiele vor Augen malen, dass Sie ein Gefühl dafür bekommen, wie die Dinge funktionieren. Es gibt nämlich eine Weise, wie die Dinge funktionieren. Aber bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sollten wir uns ein paar gefährliche Missverständnisse über Gott und das Gebet von der Seele schaffen.

Zwei

Drittklässler
in der Normandie

Ich gehöre zu den zahllosen Lesern, die sich für Die Chroniken von Narnia begeistern können. Wir haben sie unseren Söhnen schon vorgelesen, als sie klein waren, und sie und wir lieben diese Geschichten als Erwachsene noch genauso. (Übrigens: Die Bücher sind viel besser als die Verfilmung; wenn Sie die Geschichten nur vom Film kennen, müssen Sie unbedingt noch das Original lesen!) Nebenbei: Stacy und ich lesen uns derzeit abends gegenseitig den sechsten Band vor: Der silberne Sessel. Diesmal hat mich besonders beeindruckt, in was für gefährliche Aufgaben die Kinder hineingerufen werden. In Kapitel zwei treffen sie den Löwen Aslan und Jill erfährt, warum er sie aus unserer Welt heraus und nach Narnia gerufen hat:

„Dies ist deine Aufgabe. Weit von hier im Lande Narnia lebt ein betagter König. Er ist traurig, weil es keinen Prinzen seines Blutes gibt, der nach ihm König werden könnte. Er hat keinen Erben, weil ihm sein einziger Sohn vor vielen Jahren geraubt wurde, und keiner mehr weiß, wo sich dieser Prinz aufhält und ob er noch am Leben ist. Doch das ist er. Ich gebe dir den Auftrag, nach dem verlorenen Prinzen zu suchen, bis du ihn gefunden und zum Haus seines Vaters gebracht hast; oder bis du bei diesem Versuch dein Leben lassen musstest oder in deine eigene Welt zurückgekehrt bist.“3

Moment mal – wie war das? Bis du bei diesem Versuch dein Leben lassen musstest? Wahrlich gewichtige Aufgaben für ein paar Schulkinder. Aslan ist die beste, freundlichste, jesusähnlichste Figur in der ganzen Literatur. Und er verwickelt diese Kinder in eine solche Geschichte? Würden Sie Ihren zwölfjährigen Sohn nach Somalia schicken? Trotzdem – ich glaube, der Autor C. S. Lewis hat hier etwas sehr Wahres über das Wesen Gottes und das Wesen der Welt, in der wir leben, ausgesagt.

Die Kinder werden einberufen.

Wir finden ein ähnliches Thema in J. R. R. Tolkiens Roman Der Hobbit. Gandalf veranlasst den jungen Bilbo Beutlin, mit einem Trupp Zwerge eine abenteuerliche Unternehmung anzugehen: Sie wollen den Zwergenschatz zurückgewinnen, der in Zwergenstadt in den Tiefen des Einsamen Berges liegt, die die Zwerge nach einem Überfall durch den Drachen Smaug verlassen haben. Der junge Hobbit hat noch nie ein Schwert in der Hand gehabt, noch nie im Freien übernachtet, noch nie die Welt jenseits seines Heimatfleckchens Auenland gesehen. Er liebt Bücher, hält gern Teestunde und sitzt gern in seinem Armsessel und er hat stets ein Taschentuch bei sich. Zudem kann Gandalf nicht sicher sagen, ob der Drache – die „ehrwürdigste und entsetzlichste aller Katastrophen“4 – nicht in den Höhlen lauert. Bilbo könnte in eine Falle geraten.

Erinnern wir uns – Gandalf liebt Bilbo, sogar sehr. Und trotzdem schickt er ihn auf ein so gefährliches Unternehmen, auf eine „Reise, von der vielleicht manche von uns oder sogar alle … nie zurückkehren werden“5, bei der nicht sicher ist, ob der Hobbit lebend daraus zurückkommt. Und Gandalf fügt hinzu: „… falls doch, wirst du nicht mehr derselbe sein.“

Und damit bin ich bei der ersten von zwei Grundannahmen, die wesentlich sind für das Gebet.

Gott lässt uns erwachsen werden

Meine lieben Kinder, ich schreibe euch, weil euch eure Sünden um Jesu willen vergeben sind. Väter, ich schreibe euch, weil ihr den kennt, der von allem Anfang an da war. Ihr jungen Leute, ich schreibe euch, weil ihr den Bösen besiegt habt, den Teufel (1. Johannes 2,12-13).

Kinder, Väter, junge Leute – wie freundlich von Johannes, dass er uns daran erinnert, dass jeder von uns auf seinem geistlichen Weg an einer anderen Stelle ist. Wir befinden uns in unterschiedlichen Reifestadien. „Kinder“ im Glauben kennen die Basics – sie wissen, dass ihnen vergeben ist. Die „jungen Leute“ wissen schon mehr – sie wissen schon etwas vom Kampf. „Väter“ (und Mütter) sind noch ein Stück weiter – sie haben eine sehr vertraute Beziehung zu Gott. Wir sind alle unterwegs und wir sind nicht alle am selben Platz. Dies festzuhalten, ist sehr freundlich und realistisch und sehr hilfreich, wenn es darum geht, das eigene Leben oder das Leben anderer zu verstehen. Wenn Sie ein wenig überlegen, können Sie sicher die Kinder, jungen Leute und Väter und Mütter unter den Menschen, die ihnen nahestehen, benennen.

Gott weiß, wo wir stehen. George MacDonald versichert uns: „Welcher Vater wäre denn nicht entzückt über die ersten stolpernden Laufversuche seines Kindes?“ Gleichzeitig ist Gott absolut daran interessiert, dass wir erwachsen werden. „Welcher Vater gäbe sich mit weniger zufrieden als mit dem männlichen Schritt des gänzlich erwachsenen Sohns oder der erwachsenen Tochter?“6

Auch Elia ist wahrscheinlich einmal da gewesen, wo Lamott jetzt ist; und Lamott ist auf dem Weg, ein Elia zu werden. Und Gott setzt alles daran, dass das auch geschieht.

Wie für viele andere Eltern auch war die Zeit, in der unsere Söhne Autofahren lernten, für uns ein haarsträubendes Unternehmen – Anfahrversuche, die mit Han Solo beim Versuch, den Millennium-Falken auf Lichtgeschwindigkeit zu bringen, mithalten konnten; dann wieder Bremsaktionen, die es darauf anzulegen schienen, mich kopfüber durch die Windschutzscheibe zu katapultieren. Die Jungs gaben ihr Bestes; uns versetzte es in Angst und Schrecken – und gleichzeitig war ich so stolz auf sie. Ich war entzückt über jeden ihrer Fahrversuche. Aber natürlich wäre ich mehr als enttäuscht, wenn sie heute, zehn Jahre später, immer noch so halsbrecherisch fahren würden wie beim ersten Mal.

Gott geht es genauso – er ist entzückt über unsere ersten stammelnden Gebete; er liebt die Gebetsbriefchen, die wir in unsere Schubladen stecken. Und er ruft uns dazu auf, in die Mündigkeit und Reife hineinzuwachsen, die er sich für uns vorstellt; auch im Hinblick auf unser Gebet. Elia auf seinem Berg hat keine kleinen Zettelchen in Felsspalten gesteckt. Hätte er das getan, habe ich meine großen Zweifel, dass dann der Regen gekommen wäre.

Aber da liegt das Problem: Die meisten von uns teilen Gottes brennende Leidenschaft nicht, dass wir erwachsen werden. Mal ganz ehrlich, wenn Sie am nächsten Sonntag zehn Menschen, die gerade aus dem Gottesdienst kommen, fragen würden – ich habe große Zweifel, dass auch nur einer davon sagen würde: „Natürlich, mein oberstes und höchstes Ziel für heute Nachmittag ist, reifer zu werden!“ Wie Bilbo Beutlin sind wir eher geneigt, in andere Dinge zu investieren – gutes Essen, ein Schläfchen, ein Spiel, unsere Behaglichkeit inklusive des Versuchs, andere dazu zu bringen, dass sie unser Spiel mitspielen.

Aber wenn wir in die Bibel schauen, ist es nicht zu übersehen: Gott liegt alles daran, dass wir erwachsen werden. Er legt es darauf an,

… dass wir eine Reife erreichen, deren Maßstab Christus selbst ist in seiner ganzen Fülle (Epheser 4,13).

… dass ihr euch als geistlich reife Menschen bewährt, deren ganzes Leben mit Gottes Willen übereinstimmt (Kolosser 4,12).

Geschwister, seid doch nicht wie Kinder! (1. Korinther 14,20).

Weil uns nun aber daran liegt, dass ihr im Glauben erwachsen werdet, wollen wir nicht bei den Anfangslektionen der Botschaft von Christus stehen bleiben, sondern uns dem zuwenden, was zur Reife im Glauben gehört. Wir wollen nicht von Neuem über die Dinge reden, die das Fundament bilden: über die Abkehr von Taten, die letztlich zum Tod führen, und über den Glauben an Gott, über die Bedeutung der Taufe im Unterschied zu anderen Waschungen und über die Handauflegung, über die Auferstehung der Toten und über das letzte Gericht mit seinem ewig gültigen Urteil (Hebräer 6,1-2).

Stopp mal – Heilung durch Handauflegung gehört zum Lernstoff für Anfänger? Diese Unterrichtsstunden muss ich verpasst haben. Aber klar ist: Wir sind aufgerufen, erwachsen zu werden. Und wie sorgt Gott dafür, dass wir im Glauben wachsen? Was sind seine Methoden? Situationen, die uns fordern, die uns anstrengen, die uns zwingen, über die Grenzen dessen hinauszugehen, was wir glaubten aushalten zu können – genau die Situationen, die uns ins Gebet treiben.

Diese Grundannahme ist wichtig, und zwar aus einem einfachen Grund: Sie verändert unsere Erwartungen. Wer ins Fitnessstudio geht, ist wohl kaum überrascht oder verärgert, wenn der Trainer ihn zu schweißtreibender Atemlosigkeit antreibt; genau deswegen geht man ja hin. Aber wenn Sie nach einem langen Arbeitstag abends auf die Couch sinken und Ihre Familie würde jetzt noch Höchstleistungen von Ihnen erwarten, würden Sie vermutlich aus der Haut fahren. (Vielleicht dämmert Ihnen ja schon, was das mit manchen Gefühlen zu tun hat, die wir Gott gegenüber gelegentlich haben.)

Bilbo, Jill und Eustace werden einberufen. Und plötzlich finden sie sich in Winkeln der Welt vor, die gefährlich sind, und sehen sich ungeahnten Gefahren ausgesetzt. Was mich zu einer zweiten entscheidenden Grundannahme bringt, wenn wir lernen wollen, wirksam zu beten – eine Grundannahme über unser Leben, die die Bibel voraussetzt.

Wir befinden uns im Krieg

Als im Herbst 2014 die ersten Nachrichten durchdrangen, dass IS-Terroristen Kinder erschossen, waren wir alle erschüttert. Wir erhielten etliche verzweifelte E-Mails, in denen Menschen uns baten, für sie zu beten. Islamische Extremisten zogen durch irakische Dörfer und erschossen Männer, Frauen und Kinder. Christliche Familien standen besonders im Visier (sicher haben Sie die Nachrichten auch gelesen). Die Familien wurden aus den Häusern getrieben, und wenn die Eltern sich nicht von Jesus lossagten, erschoss man die Kinder vor ihren Augen. Es war – und bleibt – entsetzlich.

Diese Nachrichten waren mir noch sehr präsent, als ich einen Abschnitt der Weihnachtsgeschichte las, den wir oft übersehen:

Als Herodes merkte, dass die Sterndeuter ihn getäuscht hatten, war er außer sich vor Zorn. Er schickte seine Leute nach Bet­lehem und ließ in den Familien der Stadt und der ganzen Umgebung alle Söhne im Alter von zwei Jahren und darunter töten. Das entsprach dem Zeitpunkt, den er von den Stern­deutern in Erfahrung gebracht hatte. Damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia vorausgesagt worden war: „Ein Geschrei ist in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen, denn sie sind nicht mehr da“ (Matthäus 2,16-18).

Die Parallele springt ins Auge. Legen wir eine Schweigeminute ein.

Diesen Abschnitt der Weihnachtsgeschichte habe ich noch in keinem Krippenspiel aufgeführt gesehen. Für die meisten Christen, die in den USA aufgewachsen sind, existiert dieser Völkermord nicht – und schon gar nicht gehört er zu unserem Verständnis von Weihnachten. Was unser Bild von Weihnachten prägt, sind Weihnachtsgrußkarten und idyllische Krippenszenen in Parks, Kirchen und auf vielen Wohnzimmertischen. Nichts gegen Weihnachtskrippen; ich liebe sie auch. Aber ich bin überzeugt, dass sie etwas anderes erzählen als die ursprüngliche Geschichte.

Schon kurz vor dem Kindermord des Herodes gibt es einen dramatischen Moment:

Als die Sterndeuter abgereist waren, erschien Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten! Bleib dort, bis ich dir neue Anweisungen gebe. Denn Herodes wird das Kind suchen lassen, weil er es umbringen will.“ Da stand Josef mitten in der Nacht auf und machte sich mit dem Kind und dessen Mutter auf den Weg nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes (Matthäus 2,13-15).

Auch diese Szene könnte direkt aus dem heutigen Nahen Osten sein – Flüchtlinge, die um ihr Leben fliehen und im Ausland Schutz suchen. Auch dies habe ich noch kaum je in einem Weihnachts­szenario abgebildet gesehen (zumindest nicht im Amerika des 20. und 21. Jahrhunderts). Ich verstehe, dass unsere Weihnachtstraditionen uns teuer sind. Aber sie sind noch etwas: Sie sind irreführend. Sie wecken jede Menge angenehme und lauschige Gefühle, Assoziationen und Erwartungen – oftmals ganz unbewusst – darüber, wie das Leben als Christ sich für uns gestalten wird. Die Auslassungen, die darin enthalten sind, sind allerdings gefährlich – genauso gefährlich, wie wenn man die IS-Terroristen ignorieren würde.

Der pubertäre Teil in mir sagt: „Mach mal halb lang. Gott ist allmächtig, er herrscht über hundert Milliarden Galaxien; gegen seine Macht ist eine Atomexplosion nur ein Niesen. Sein Sohn – und damit der Plan zur Rettung der Welt – war in höchster Gefahr. Warum hat der Allmächtige denn nicht seine himmlischen Heerscharen geschickt, um den kleinen Jesus zu beschützen?“ Ja, wirklich – warum musste ein Engel mitten in der Nacht die ganze Familie verstohlen und heimlich jenseits der Grenze in Sicherheit bringen? Herodes und seine Geheimpolizei sind doch Nichtse vor dem lebendigen Gott.

Die Geschichte sollte uns nachdenklich machen. Was glauben wir eigentlich, was in dieser Welt vorgeht? Und wie Gott in der Welt wirkt? Auf jeden Fall sollte sie uns veranlassen, unser Verständnis des Betens zu überdenken. Mit „Ich habe gebetet; er hat sich nicht gerührt“ scheinen wir gravierend danebenzuliegen, das machen diese beiden Geschichten klar. Vielleicht hilft uns ein Bericht über Daniel und die Art, wie er gebetet hat. Es beginnt mit einem Gebet und mit ziemlicher Verwirrung:

Im 3. Regierungsjahr des persischen Königs Kyrus empfing Daniel, der Beltschazar genannt wurde, eine Botschaft von Gott. Sie kündigt eine Zeit großer Not an und wird sich ganz sicher erfüllen. In einer Vision wurde Daniel diese Botschaft erklärt (Daniel 10,1; Hfa).

Daniel ist beunruhigt. Wer wäre das nicht? Warum diese Vision über sehr schlimme Zeiten? Ich hab nicht darum gebeten. Was mag das bedeuten? Was tut er? Er widmet sich dem Gebet und er fastet. Drei Wochen lang. Allein dieses kleine Detail unterscheidet Daniel von uns. Die längste Zeit, die ich je gefastet habe, waren drei Tage. Und das ist mir auch schon sehr schwergefallen. Am Ende dieser Fastenzeit spaziert Daniel im antiken Weltreich Babylon an den Ufern des Tigris entlang. Das gefällt mir. Ich laufe gern beim Beten. Und plötzlich erscheint ein echter, leibhaftiger Engel des Herrn. Wir wissen, dass er sehr echt und sehr lebendig gewesen sein muss, denn die Männer, die Daniel begleiten, bekommen „plötzlich große Angst“ und laufen um ihr Leben. Daniel läuft nicht fort; er kann sich nicht rühren; er liegt mit dem Gesicht am Boden, fast wie in Trance (faszinierend, all diese Einzelheiten in den Texten, nicht?).

Doch eine Hand berührte mich und rüttelte mich wach. Ich konnte auf die Knie gehen und mich mit den Händen abstützen. Der Mann sprach zu mir: „Gott liebt dich, Daniel! Steh auf und achte auf meine Worte, denn Gott hat mich zu dir geschickt.“ Zitternd stand ich auf. „Hab keine Angst!“, ermutigte er mich. „Du wolltest gern erkennen, was Gott tun will, und hast dich vor ihm gedemütigt. Schon an dem Tag, als du anfingst zu beten, hat er dich erhört. Darum bin ich nun zu dir gekommen. Aber der Engelfürst des Perserreichs stellte sich mir entgegen und hielt mich einundzwanzig Tage lang auf. Doch dann kam mir Michael zu Hilfe, einer der höchsten Engelfürsten. Ihm konnte ich den Kampf um das Reich der Perser überlassen. Ich bin jetzt hier, um dir zu erzählen, wie es mit deinem Volk weitergeht. Denn was du nun von mir erfährst, wird sich in ferner Zukunft erfüllen“ (Daniel 10,10-14; Hfa).

Haben Sie es bemerkt? Schon am ersten Tag, als Daniel betet, erhört Gott ihn. Und er sendet einen Engel, um die Antwort persönlich zu überbringen. Aber die Überbringung der Antwort verzögert sich um drei Wochen, weil ein mächtiger gefallener Engel das Perserreich (in dem Daniel lebt) in seiner Gewalt hat und den Weg versperrt. Ein Engel Gottes muss sich seinen Weg nach Babylon erst erkämpfen und, so erfährt Daniel im Verlauf ihrer Begegnung, das wird beim Rückweg auch wieder der Fall sein.

Die Heilige Schrift ist eine Art Weckruf für die Menschheit, ein Fanfarenstoß, wie Francis Thompson gesagt hat, „von den verborgenen Wehrmauern der Ewigkeit“.7 Und diese Fanfaren signalisieren uns beständig eines: Wir befinden uns mitten in einer gewaltigen Kollision von Weltmächten – das Reich Gottes im Ansturm gegen das Reich der Finsternis, das gegenwärtig den größten Teil der Welt in seinem Bann hält.

Ist das Ihr Bild von der Welt, in der Sie leben? Ist das die Vorstellung, die Ihr Gebet prägt – und auch die Weise, wie Sie „unerhörte“ Gebete verstehen?

Gewiss, Jesus ist gekommen und das hat alles verändert. Aber vielleicht nicht so, wie Sie denken. Dass Jesus zu Weihnachten in diese Welt kam, hat aus einem Zusammenprall der Weltmächte einen kosmischen Krieg gemacht:

werden

Aber mit dem Gesamtbild vor Augen beginnen Sie vielleicht zu verstehen, warum harmlose kleine „Jesus, geh mit uns durch diesen Tag“-Gebete absolut unangemessen sind? Warum Patchs Sicht der Welt so krass unzutreffend ist – und einem das Herz bricht?

Als Aslan die Kinder, die er liebt, für eine schwierige Mission beansprucht, erweist er ihnen eine große Ehre. Er weiß, was ihnen abverlangt werden wird. Genau wie Jesus, als er seinen Jüngern erklärt: „Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Matthäus 10,16). Treffender könnte er unsere Situation gar nicht beschreiben; man muss fast lächeln – eine Szene wie die, in der das frisch vermählte Paar in die Flitterwochen aufbricht und Groß­vater sich zu Großmutter hinüberlehnt und flüstert: „Sie haben keine Ahnung, wo sie sich da gerade hineingeritten haben.“ Es ist so grotesk untertrieben, dass es schon wieder komisch ist.

Aber Schafe unter Wölfen – das ist auch so bedrohlich, dass wir lieber nicht genauer darüber nachdenken. Vielleicht hat das ja auch nur den ersten Jüngern gegolten …

Fassen wir zusammen

Wir versuchen, unsere falschen Vorstellungen über Gott und über diese Welt loszuwerden, damit wir besser verstehen, worum es beim Beten geht.

Gott will, dass wir erwachsen werden.

Wir befinden uns mitten in einem großen und schrecklichen Krieg.

Also, wenn ich Gott wäre, würde ich mich vor allem um Ersteres kümmern; Letzteres würde sich dann schon ergeben. Sorgen wir dafür, dass wir alle gesund und stark und mit der Kraft Gottes erfüllt sind, und dann können wir die Normandie zurückerobern, geistlich gesprochen. Oder vielleicht würde ich auch umgekehrt vorgehen – das Reich der Finsternis besiegen, die Welt in einem einzigen großen Feldzug von allem Übel befreien und dann hätten wir Luft, um die Menschheit zu erneuern.

Denn ganz ehrlich, eine Invasion zu unternehmen, während Gott noch daran arbeitet, dass wir erwachsen werden, sieht für mich ein bisschen danach aus, als wolle man die Normandie nicht mit einem Bataillon Marineinfanteristen zurückerobern, sondern mit der dritten Klasse von Fräulein Müller, dem Jugendkreis der Sankt-Florians-Gemeinde und einer Handvoll Erwachsener, die man sich zufällig aus dem Telefonbuch rausgesucht hat. Es sieht nach einem Hobbit mit einem Taschentuch aus, der gegen einen Drachen in die Schlacht zieht.

Aber ich habe die Geschichte nicht geschrieben und der, der sie geschrieben hat, hat mich nicht um Rat gebeten.

Also stellen wir fest: Wir stecken nun mal da drin – in genau derselben Situation, in der Bilbo Beutlin und die Kinder in Narnia sich vorfinden. (Vielleicht ist das der Grund, warum wir diese Geschichten so lieben; irgendwo tief drinnen wissen wir, dass sie die Wahrheit erzählen.)

Nehmen wir an, wir wären zutiefst überzeugt von den beiden Grundannahmen über Gott und über diese Welt, die ich oben dargestellt habe. Würden wir dann nicht ebenso dringlich beten lernen wollen, wie ein Soldat lernen will, wie er mit der Waffe umgehen muss? Wir haben wirklich keine Vorstellung davon, welche Siege wir tatsächlich erringen können, solange wir nicht lernen zu beten. Vielleicht werden auch wir Dürrezeiten beenden und Waldbränden Einhalt gebieten.