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C. S. Lewis

Das Gespräch mit Gott

Beten mit den Psalmen

Titel der Originalausgabe: Reflections on the Psalms

© C. S. Lewis Pte Ltd. 1961

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der CS LEWIS COMPANY LIMITED, irst Floor, Unit 4, Old Generator House, Bourne Valley Road, Poole, Dorset BH12 1DZ United Kingdom.
www.cslewis.com.

Bibelstellen werden wiedergegeben nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984. Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung.

© 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Weitere verwendete Übersetzungen sind wie folgt gekennzeichnet:

Elb – Revidierte Elberfelder Bibel (Rev. 26)
© 1985/1991/2008 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

© der deutschsprachigen Ausgabe: 2016 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Umschlagillustration: shutterstock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-7655-7371-2

Für
Austin und Katharine
Farrer

Inhalt

1 Einführung

2 Das Gericht in den Psalmen

3 Die Fluchpsalmen

4 Der Tod in den Psalmen

5 Die Freundlichkeit des Herrn

6 „Süßer als Honig“

7 Heimliches Einverständnis

8 Die Natur

9 Ein Wort über den Lobpreis

10 Mehrschichtige Bedeutungen

11 Die Heilige Schrift

12 Mehrschichtige Bedeutungen in den Psalmen

Anhang

Vorwort

Als C. S. Lewis im Oktober 1958 vom Erzbischof von Canterbury in die siebenköpfige „Kommission für die Revision des Psalters“ berufen wurde (zu der auch T. S. Eliot gehörte), um bei der Überarbeitung der Psalmtexte im anglikanischen Book of Common Prayer zu helfen, war gerade einen Monat zuvor sein Buch Reflections on the Psalms erschienen. In einer Zeit großer Sorgen um seine krebskranke Frau und seine eigene Gesundheit hatte er es auf Anregung eines befreundeten Theologen geschrieben und einem anderen Freund gegenüber als „eine sehr unambitionierte kleine Arbeit über die Psalmen“ bezeichnet.

In der Tat war C. S. Lewis kein studierter und examinierter Theologe, und das gibt er gleich zu Anfang seines Buches zu. Da bezeichnet er sich als Amateur, aber er betrachtet das als Chance, für andere Amateure über das nachzudenken, was ihm „beim Lesen der Psalmen an Schwierigkeiten begegnet oder auch an Lichtern aufgegangen ist … in der Hoffnung, dies möge andere, ebenso wenig fachkundige Leser zumindest interessieren und ihnen bisweilen sogar helfen“. Solche Bescheidenheit bedeutet aber nicht, dass Lewis nicht die Psalmen durch und durch kannte. Er war mit ihnen vertraut durch seine persönliche Bibellektüre, vor allem aber auch durch die regelmäßig von ihm besuchten Sonntagsgottesdienste in seiner Kirche und die wochentäglichen Morgenandachten in seinem College. In dem dort verwendeten Book of Common Prayer werden während der Morgen- und Abendandachten in einem Zyklus von 30 Tagen alle 150 Psalmen gebetet.

Von den Psalmen haben die meisten Menschen in der westlichen Welt schon einmal gehört – von diesen Gedichten und Liedtexten, die David, Asaph und andere Texter und Musiker vor wahrscheinlich mehr als 2500 Jahren für den gottesdienstlichen Gebrauch im Tempel verfassten. Einige dieser Gebetstexte gehören zum abendländischen Kulturgut, und manche sind zu regelrechten Lieblingstexten der Christenheit geworden. Angesichts eines atemberaubenden Bergpanoramas kommt zum Beispiel vielen Menschen der 19. Psalm in den Sinn. Den 23. Psalm schlagen sie auf, wenn sie in schwierigen Lebenslagen Trost brauchen oder wenn sie für andere ein tröstliches Wort suchen. Psalm 145 benutzen viele Familien als Tischgebet.

Aber die Psalmen schenken uns nicht nur Worte und Sätze für praktische Anlässe, sondern sie greifen auch die großen Menschheitsfragen von Leid, Schuld und Tod auf und bringen sie mit Gott in Verbindung. Oder sie überschlagen sich manchmal fast vor Lebensfreude und vor Jubel über den Schöpfer. Diese Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit ruft geradezu nach einem genaueren Hinhören und Hinschauen, und hier bietet sich uns der Professor aus Oxford als ehrlicher und kundiger Begleiter an.

Lewis war Literaturwissenschaftler, und als solcher hatte er ein sicheres Gespür für die poetische Qualität der Psalmen, für die Art und Weise, wie die Psalmsänger das Lob Gottes sprachlich kunstvoll gestalteten. Deshalb kann er uns in seiner Einführung mitnehmen auf eine Entdeckungsreise durch die Formen und die Klänge dieser Lieder. Wer ihm dabei folgt, stellt fest, dass viele der Psalmen sich durchaus mit der großen Literatur aller Nationen messen können – und Lewis empfiehlt uns, die Augen nicht vor den literarischen Qualitäten zu schließen.

Aber er macht sich dann auch in ehrlicher Weise zum Sprecher all derer, die Probleme mit einzelnen Psalmen haben, und stellvertretend setzt er sich mit einigen unbequemen Fragen auseinander: Warum rufen die Psalmen so oft nach Gott als dem Richter? Warum erscheinen die Sänger manchmal so selbstgerecht? Warum steht in den Psalmen etwas für Christen so Undenkbares wie die Verfluchung von Feinden oder sogar der Wunsch, dass sie und ihre Kinder auf grausame Weise umkommen?

Lewis hat keine einfachen Antworten, aber er zeigt uns, wie wir auch diejenigen Psalmen mit Gewinn lesen können, die nicht so zugänglich und tröstlich sind wie der Psalm vom guten Hirten. Zum Beispiel könnten ja die Verwünschungen im Psalter stehen, um uns daran zu erinnern, dass das Böse in dieser Welt existiert und dass im Fall der Fälle auch der christliche Psalmleser zu solchen Ausbrüchen fähig wäre. Eine andere verstörende Frage: Warum sprechen die jüdischen Psalmen so wenig von einer klaren Jenseitshoffnung – so wie es die Religionen vieler damaliger Nachbarvölker taten? Kann das göttliche Strategie sein?, fragt Lewis. Möglicherweise will Gott ja, dass Menschen ihn nicht wegen irgendwelcher Zukunftshoffnungen lieben, sondern um seiner selbst willen.

Dass C. S. Lewis ein Liebhaber des Psalters (also ein „Amateur“ im Wortsinn) war, und wie sehr er in diesen Texten gelebt hat, lässt sich an der Leichtigkeit abspüren, mit der er mit dem rechten Bein in den Psalmen spazieren geht und mit dem linken in unserer gegenwärtigen Welt. Wir lesen mit ihm den ersten Psalm und sind mitten in den Spötteleien des modernen Medienbetriebs über ernsthafte religiöse Inhalte. Und das bringt ihn zu der Frage, ob Christen zu der Gewalttätigkeit einer von Gott entfernten Welt einfach schweigen oder ob sie Einspruch gegen das Unrecht erheben sollten.

Was wir als Menschen des 21. Jahrhunderts leicht vergessen, ist die bäuerliche Wirklichkeit, in der die Juden zur Zeit der Psalmen lebten. Lewis erinnert uns daran, dass ihre Freude über die Natur nicht der Ausdruck eines Glaubens an die Natur, d. h. einer pantheistischen Vergötterung der Umwelt ist, sondern eine Freude an der Schöpfung, weil sie das Werk eines Schöpfers ist. Und er malt uns die überaus direkte und ansteckende Liebe der jüdischen Psalmsänger zu ihrem Gott vor Augen: „Das Kostbarste, das mir die Psalmen geben, ist, dass sie jene Freude an Gott ausdrücken, die David zum Tanzen brachte.“ Diese Freude mündet ganz von selbst in Lobgesänge, und es tut uns übrigens selber gut, Gott zu loben und auch andere zum Lob zu ermutigen: „Lob scheint hörbar gemachte innere Gesundheit zu sein.“

Juden und Christen lesen den Psalter nicht nur seiner literarischen Qualitäten wegen, sondern als „Wort Gottes“. Beim Nachdenken über diese Tatsache begnügt sich Lewis nicht mit einem achselzuckenden „Das muss man halt glauben.“ Vielmehr widmet er sich ausführlich der Frage, durch welche Art von Texten Gott zu seinen Menschen redet. Er selbst hatte die Erfahrung gemacht, dass in seine fantastischen Geschichten (z. B. die Narnia-Erzählungen oder die Raumfahrt-Trilogie) alle möglichen Bedeutungen hineingelesen wurden, die er beim Schreiben gar nicht im Sinn gehabt hatte. (Diese Erfahrung machen fast alle, die Geschichten erfinden und Texte veröffentlichen, und manchmal sind Schreiber oder Schreiberin später positiv davon überrascht, was sie da geschrieben haben.) Wer sich nicht vorstellen kann, wie die göttliche Inspiration biblischer Texte vor sich geht, mag hier einen ganz neuen Zugang zum Wort Gottes finden. Und er mag plötzlich sehen, was C. S. Lewis auch an anderen Stellen sagte: dass Gott manches von seinen ewigen Wahrheiten auch nicht christlichen Autoren offenbart hat. Wenn es stimmt, dass nirgendwo ein gutes Werk entstehen kann „ohne die Hilfe des Vaters des Lichts“, dann können wir seine Stimme auch in Schriften vernehmen, die uns zunächst gar nicht heilig vorkommen, weil wir ihre Entstehung zu kennen meinen. Lewis macht uns Mut, Gott die Mittel zu überlassen, durch die er seine Wahrheit in Texten offenbart.

Viele Leser haben den Christen C. S. Lewis als Apologeten kennengelernt, als Autor, der den christlichen Glauben verteidigt und Skeptikern in einladender Weise die Logik der christlichen Lehre erklärt. In seiner Beschäftigung mit den Psalmen will er das aber gar nicht tun: „Man kann die Wahrheit nicht immer nur verteidigen; manchmal muss man auch von ihr zehren.“ Dass er von der Wahrheit der Psalmen zehrte, spüren wir seinem Buch auf jeder Seite ab. Doch es lädt gleichzeitig auch uns zu einer möglichst offenen, unmittelbaren und umfassenden Begegnung mit Gott ein: „Kein Netz, das weniger weit ist als das ganze Menschenherz oder weniger fein geflochten ist als die Liebe, wird den heiligen Fisch je fangen.“ Wenn wir uns als Leser so auf das Reden Gottes in den Liedern des Alten Testaments einlassen, werden sie uns nicht einfach den Kopf füllen, sondern unsere Herzen berühren und unsere Füße und Hände bewegen.

Manfred Siebald

1 Einführung

Dies ist kein wissenschaftliches Buch. Ich bin weder Hebraist noch Textkritiker noch Althistoriker noch Archäologe. Ich schreibe für Laien über Dinge, in denen ich selbst ein Laie bin. Wenn es einer Rechtfertigung bedarf (und vielleicht ist das der Fall), dass ich ein solches Buch schreibe, dann würde meine Rechtfertigung etwa so lauten: Oft ist es so, dass zwei Schuljungen sich gegenseitig besser über die Schwierigkeiten bei ihren Hausaufgaben hinweghelfen können, als es der Lehrer könnte. Ging man mit einem Problem zum Lehrer, so geschah – wie wir uns alle erinnern – höchstwahrscheinlich Folgendes: Er erklärte einem, was man sowieso schon verstanden hatte, fügte dann einen Haufen Informationen hinzu, die man gar nicht brauchte, und verlor kein Wort über den Punkt, der einem zu schaffen machte. Ich habe dies von beiden Seiten des Netzes aus beobachtet. Denn wenn ich selbst als Lehrer versuchte, Fragen zu beantworten, mit denen meine Studenten zu mir kamen, habe ich manches Mal nach einer Minute sehen können, wie sich jene Miene über ihre Gesichter breitete, die mir zu verstehen gab, dass meine Bemühungen bei ihnen ebenso aussichtslos waren wie die meiner Lehrer bei mir.

Ein Mitschüler kann besser helfen als ein Lehrer, weil er weniger weiß. Die Schwierigkeit, die wir uns von ihm erklären lassen wollen, ist ihm ja selbst erst vor Kurzem begegnet. Bei dem Fachmann ist das schon so lange her, dass er es längst vergessen hat. Er sieht das ganze Fachgebiet inzwischen in einem so gänzlich anderen Licht, dass er überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann, was dem Schüler Schwierigkeiten macht. Ihm stehen ein Dutzend anderer Schwierigkeiten vor Augen, die dem Schüler eigentlich zu schaffen machen müssten, es aber nicht tun.

In diesem Buch schreibe ich also als Amateur für Amateure, und zwar über das, was mir beim Lesen der Psalmen an Schwierigkeiten begegnet oder auch an Lichtern aufgegangen ist. Ich tue dies in der Hoffnung, dies möge andere, ebenso wenig fachkundige Leser zumindest interessieren und ihnen bisweilen sogar helfen. Ich „vergleiche Notizen“; es liegt mir fern, andere belehren zu wollen. Manchem mag es scheinen, ich hätte die Psalmen lediglich als Aufhänger für eine Reihe bunt gemischter Essays benutzt. Soweit ich sehe, hätte es auch nichts geschadet, wenn ich das Buch auf diese Weise geschrieben hätte, und ich habe nichts dagegen, wenn jemand es in diesem Sinne liest. Aber in Wirklichkeit ist es nicht so entstanden. Das Buch enthält die Gedanken, zu denen ich mich gedrängt fühlte, wenn ich die Psalmen las – sei es durch das, was mich daran begeistert hat, oder durch die Konfrontation mit dem, worüber ich zunächst überhaupt nicht begeistert war.

Die Psalmen wurden von vielen Dichtern zu vielen verschiedenen Zeiten geschrieben. Einigen gesteht man, wie ich glaube, zu, dass sie bis in die Regierungszeit Davids zurückreichen. Ein paar Forscher halten es meines Wissens für möglich, dass Psalm 18 (der in leicht veränderter Form auch in 2. Samuel 22 zu finden ist) von David selbst stammen könnte. Viele jedoch entstanden erst nach der „Gefangenschaft“, die wir besser die Deportation nach Babylon nennen sollten. In einem wissenschaftlichen Werk wäre die Chronologie der erste Punkt, den man klären müsste. In einem Buch wie diesem dagegen ist es weder notwendig noch möglich, mehr darüber zu sagen.

Gesagt werden muss hingegen, dass die Psalmen Gedichte sind, und zwar Gedichte, die dazu gedacht sind, dass man sie singt. Es sind keine Lehrabhandlungen, ja nicht einmal Predigten. Leute, die davon sprechen, man müsse die Bibel „als Literatur“ lesen, meinen damit manchmal, glaube ich, man müsse sie lesen, ohne sich mit der Hauptsache zu beschäftigen, um die es darin geht – so, als läse man Burke1, ohne sich für Politik zu interessieren, oder die Äneis ohne jedes Interesse an Rom. Mir erscheint das unsinnig. In einem vernünftigeren Sinn jedoch kann die Bibel, die ja nun einmal Literatur ist, gar nicht anders richtig gelesen werden als so, dass man sie als Literatur liest; und ihre verschiedenen Teile nicht anders denn als die verschiedenen Arten von Literatur, die sie sind. So müssen die Psalmen unbedingt als Gedichte gelesen werden; als Liedtexte, mit all den Freiheiten und Formalitäten, den Übertreibungen, den eher emotionalen als logischen Zusammenhängen, die der Lyrik eigen sind. Man muss sie als Gedichte lesen, wenn man sie verstehen will – genauso, wie man Französisch als Französisch und Englisch als Englisch lesen muss. Andernfalls wird uns entgehen, was in ihnen steckt, und wir werden Dinge zu sehen glauben, die gar nicht da sind.

Glücklicherweise ist ihr hauptsächliches formales Merkmal, ihr offensichtlichstes gestalterisches Element, eines, das auch in der Übersetzung erhalten bleibt. Die meisten Leser werden schon ahnen, dass ich von dem spreche, was die Fachleute „Parallelismen“ nennen; also die Gepflogenheit, dieselbe Aussage zweimal zu treffen, aber in unterschiedlichen Worten. Ein perfektes Beispiel dafür ist Psalm 2,4: „Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer“, oder auch 37,6: „[Er] wird deine Gerechtigkeit heraufführen wie das Licht und dein Recht wie den Mittag.“ Wo dies nicht als gestalterisches Muster erkannt wird, geht der Leser entweder in seinem Bemühen, jeder Hälfte des Verses eine andere Bedeutung zu entlocken, allen möglichen Hirngespinsten auf den Leim (wie mancher Prediger in früheren Zeiten), oder aber er wird das Ganze schlicht als recht dümmlich empfinden.

In Wirklichkeit ist dies ein besonders klares Beispiel für das, was alles Gestalterische und somit alle Kunst ausmacht. Irgendjemand hat einmal das Prinzip der Kunst als „das Gleiche im Verschiedenen“ definiert. So macht man etwa in einem Volkstanz vielleicht drei Schritte und dann noch einmal drei Schritte. Das ist das Gleiche. Doch die ersten drei gehen nach rechts und die zweiten drei nach links. Das ist das Verschiedene. Bei einem Gebäude hat man vielleicht einen Flügel auf der einen Seite und einen auf der anderen, aber beide haben die gleiche Form. In der Musik sagt der Komponist vielleicht ABC, dann abc und dann αβγ. Ein Reim ist die Zusammenstellung zweier Silben, die gleich klingen, bis auf die Anfangskonsonanten, die verschieden sind. Der „Parallelismus“ ist die typisch hebräische Form des Gleichen im Verschiedenen, doch man findet sie auch bei vielen englischen Dichtern. Zum Beispiel bei Marlowe:

Cut is the branch that might have grown full straight And burned is Apollo’s laurel bough.

(Gebrochen ist der Ast, der lang und gerade hätte wachsen können, und verbrannt ist Apollos Lorbeerzweig.)

Oder auch in der kindlich-schlichten Form, die im alten englischen Weihnachtslied Cherry Tree Carol verwendet wird:

Joseph was an old man and an old man was he.

(Joseph war ein alter Mann, und ein alter Mann war er.)

Freilich wird der Parallelismus oftmals bewusst teilweise verhüllt (wie auch die Ausgewogenheit der Flächen in einem Bild viel subtiler sein kann als vollständige Symmetrie). Und natürlich kann es sein, dass noch andere und komplexere Stilmittel eingearbeitet sind, wie etwa im Psalm 119 oder im Psalm 107 mit seinem Refrain. Ich erwähne hier nur das Offensichtlichste, den Parallelismus selbst. Es ist (je nachdem, wie man es sieht) entweder ein wunderbarer Glücksfall oder eine weise Vorsehung Gottes, dass diese Gedichte, die in alle Sprachen übersetzt werden sollten, von einem wesentlichen Merkmal gekennzeichnet sind, das bei der Übersetzung nicht verschwindet (wie es bei bloßer Metrik der Fall ist).

Wenn wir Poesie mögen, dann werden wir an diesem Merkmal der Psalmen Gefallen finden. Auch Christen, die keinen Sinn dafür haben, werden es respektieren, denn unser Herr, der bestens mit der poetischen Tradition seines Landes vertraut war, hat mit Vorliebe davon Gebrauch gemacht. „Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden“ (Matthäus 7,2). Die zweite Hälfte des Verses fügt ihm inhaltlich nichts hinzu; sie ist lediglich ein abgewandeltes Echo der ersten. „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan“ (V. 7). Der Ratschlag wird im ersten Satzteil gegeben und dann noch zweimal mit anderen Bildern wiederholt. Wenn wir wollen, können wir dahinter eine rein praktische und didaktische Absicht sehen. Indem er Wahrheiten, die es überaus wert sind, dass man sie sich einprägt, auf diese rhythmische und beschwörende Weise ausdrückte, machte er es nahezu unmöglich, sie wieder zu vergessen. Ich möchte gern mehr dahinter vermuten. Mir erscheint es passend, ja fast unvermeidlich, dass jene große Vorstellungskraft, die am Anfang zu ihrer eigenen Freude und zur Freude der Menschen, Engel und (auf ihre eigene Weise) auch der Tiere die ganze natürliche Welt erfand und formte, wenn sie sich dazu herabließ, sich in menschlicher Sprache zu äußern, dies auch gelegentlich in der Sprache der Poesie tat. Denn auch die Poesie ist eine kleine Inkarnation – sie verleiht dem, was vorher unsichtbar und unhörbar war, eine Gestalt.

Ich glaube auch, es wird uns nicht schaden, zu bedenken, dass Gott sich, indem er Mensch wurde, unter das sanfte Joch einer menschlichen Herkunft und frühen Prägung beugte. Menschlich gesprochen, dürfte er diesen Stil, wenn von niemandem sonst (obwohl er doch allseits davon umgeben war), zumindest von seiner Mutter gelernt haben. „Dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham.“ Hier ist derselbe Parallelismus. (Und ist dies übrigens der einzige Aspekt, unter dem wir von seiner menschlichen Natur sagen können, er sei „der Sohn seiner Mutter“ gewesen?) In die Anmut des Magnificat mischt sich eine Wildheit, ja ein Hauch von Debora, dem die meisten Madonnengemälde kaum gerecht werden. Sie passt zu der Heftigkeit, die seinen Äußerungen häufig zu eigen war. Sicher war das Privatleben der heiligen Familie in mancher Hinsicht tatsächlich „mild“ und „sanft“, aber vielleicht nicht unbedingt in dem Sinne, der manchen Choraldichtern vorschwebte. Man darf vermuten, dass sich bei passenden Gelegenheiten eine gewisse Schärfe bemerkbar machte, und dies natürlich in dem ländlichen Dialekt des Nordens, der sich für die Leute in Jerusalem ziemlich rau anhörte.

Ich habe natürlich nicht versucht, das Thema erschöpfend zu behandeln, nicht einmal auf meinem Amateurniveau. Stattdessen habe ich ganz nach meinem eigenen Interesse Dinge hervorgehoben oder links liegen gelassen. Über die langen historischen Psalmen sage ich nichts – teils, weil sie mir weniger zu sagen hatten, und teils, weil sie kaum einer Kommentierung zu bedürfen scheinen. So wenig wie möglich sage ich über die Geschichte der Psalmen als Bestandteile verschiedener Gottesdienstordnungen; ein weites Feld und nicht mein Gebiet. Und ich beginne mit den Merkmalen des Psalters, die zu Anfang eher abschreckend wirken. Leute in meinem Alter werden den Grund ahnen. Unsere Generation ist dazu erzogen worden, zu essen, was auf den Tisch kommt. Dementsprechend folgten wir in unserer Kindheit dem ratsamen gastronomischen Prinzip, zunächst die widerwärtigen Dinge wegzuputzen und uns die Leckerbissen bis zum Schluss aufzuheben.

Im Wesentlichen folge ich der Übersetzung, die Anglikaner in ihrem Book of Common Prayer finden, nämlich der von Coverdale2. Selbst unter den alten Übersetzern ist er keineswegs der genaueste; und natürlich hat jeder gescheite moderne Theologe mehr Hebräisch im kleinen Finger als der arme Coverdale im ganzen Leib. Wenn es jedoch nach poetischer Schönheit geht, überragen er und der große lateinische Übersetzer Hieronymus alle anderen, die ich kenne. Meist habe ich seine Version anhand der von James Moffatt3 überprüft und hin und wieder auch berichtigt.4

Und schließlich ist dies, wie jeder Leser bald merken wird, kein sogenanntes „apologetisches“ Buch. Ich versuche nirgends, Nichtgläubige davon zu überzeugen, dass das Christentum wahr sei. Stattdessen wende ich mich an diejenigen, die bereits daran glauben, oder auch diejenigen, die bereit sind, für die Dauer der Lektüre ihre „Ungläubigkeit auszusetzen“. Man kann die Wahrheit nicht immer nur verteidigen; manchmal muss man auch von ihr zehren.

Zu sagen ist noch, dass ich als Glied der anglikanischen Kirche schreibe, aber strittige Fragen so weit wie möglich meide. An einer Stelle muss ich erklären, inwiefern ich mich in einer bestimmten Frage sowohl von den Katholiken als auch von den Fundamentalisten unterscheide – in der Hoffnung, mir dadurch nicht das Wohlwollen oder die Fürbitte der einen wie der anderen verscherzt zu haben. Nach meiner Erfahrung kommt der heftigste Widerstand weder von ihnen noch von irgendwelchen anderen tiefgläubigen Menschen und auch nicht sehr oft von Atheisten, sondern von Halbgläubigen aller Schattierungen. Es gibt da so manche aufgeklärte und progressive ältere Herren unter diesen Zeitgenossen, die mit aller Höflichkeit nicht zu beschwichtigen und mit aller Bescheidenheit nicht zu entwaffnen sind. Aber vermutlich bin ich ja auch ein viel unangenehmerer Mensch, als mir bewusst ist. (Ob wir im Purgatorium vielleicht einmal unsere eigenen Gesichter so sehen und unsere eigenen Stimmen so hören werden, wie sie wirklich waren?)


1 Edmund Burke (1729–1797), anglo-irischer Staatsphilosoph, Politiker und Schriftsteller. (Diese und alle folgenden Anmerkungen, soweit nicht anders gekennzeichnet, sind Anmerkungen des Übersetzers.)

2 Myles Coverdale (1488–1569), englischer Theologe und Bibelübersetzer und Bischof von Exeter.

3 James Moffatt (1870–1944), schottischer Theologe und Urheber einer verbreiteten modernen Übersetzung des Neuen Testaments und der Psalmen.

4 Diese deutsche Übersetzung folgt, wo nicht anders angegeben, der Lutherbibel in der Fassung von 1984.