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Klaus-Dieter John

„Ich habe Gott gesehen“

Diospi Suyana –
Hospital der Hoffnung

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1. Auflage Februar 2010
2. Auflage Mai 2010
3. Auflage November 2010
4. Auflage Juli 2011
5. Auflage Februar 2012

© 2010 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Eva-Maria Busch
Umschlaggestaltung: Sabine Schweda
Landkarte: Dr. Lutz Münzer, Marburg
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-1757-0
eISBN 978-3-7655-7053-7

Widmung

Dir, Tina, denn du hast
in über dreißig Jahren
an jeder dieser Seiten
mitgeschrieben.

Inhalt

Am Rande des Todes

Eine Schulromanze fürs Leben

Sechs Wochen Ghana und zurück

Mein „Briefkastenerlebnis“

Kreuz und quer durch die USA

Schuften bis zum Umfallen

Im Reich der Inkas

Die Jahre bei Yale

Zwischen Messerstich und Kugelhagel

Die Weichen werden gestellt

Unter der Äquatorsonne

Das Startsignal

Zehn Menschen entschließen sich zur Tat

Peru oder Bolivien

Reif für das Guinnessbuch der Rekorde

„Indoor-Camping“

Ein Marathon durch Deutschland

Der große Durchbruch

„Mit dem musst du reden!“

Die Kaltenbach-Story

Beim Europäischen Parlament

Rädchen im großen Räderwerk

Nägel mit Köpfen

Lagerhalle gesucht

Ein Fest der Freude

Stoßgebete auf der Autobahn

Ausreise nach Peru

Im Sumpf der Korruption

Hindernisse und Sackgassen

Erstaunliche Wendung

Das Amphitheater

Reise durch 12 Bundesstaaten

In den Mühlen der Bürokratie

Der erste Container

Schneeballeffekt

Wie in einer belagerten Stadt

Die ersten Mitarbeiter treffen ein

Das Weihnachtsgeschenk von Siemens

Die große Verpackungsaktion

Sieben Container auf einen Streich

Im Schloss Bellevue

So teure Kirchenfenster?

Eine verwegene Truppe

Panik vor dem Tag X

Vorhang auf für Diospi Suyana!

Vom Gipfel ins Tal

Das Krankenhaus wird (niemals) fertig gebaut

Antroferno, Luciana und all die anderen

Ein Staatspräsident als Sherlock Holmes

Unter Strom

Fäkalien

Salzburg, São Paulo, Washington

Das Hospital Diospi Suyana heute

Unsere treuesten Freunde

Der Glaube in den Medien

Der Draht zu Gott

Dank

Unser Team

Weltweite Aktionen zu Gunsten von Diospi Suyana

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Am Rande des Todes

Der Nebel hüllte die Serpentinen in ein undurchdringliches Weiß. Vorsichtig manövrierte ich meinen Wagen über endlose Kurven den Pass hinauf.

David Brady und ich hatten in Abancay mit den Beamten der Regionalregierung verhandelt. Unsere Hartnäckigkeit hatte sich wohl gelohnt, denn die Behörde wollte in Kürze mit der Zementierung der Auffahrt zu unserem Missionsspital beginnen.

Gelegentlich flackerten verschwommen die Lichter entgegenkommender Fahrzeuge auf. Leider ließen sich diese gefährlichen Fahrten bei Nacht nicht immer vermeiden. Ich wischte die Windschutzscheibe mit der Hand und warf David neben mir einen vielsagenden Blick zu: „Wir werden bei diesem Wetter bestimmt eine Stunde länger nach Curahuasi brauchen als sonst“, meinte ich missmutig. Die Baumgrenze hatten wir längst unter uns gelassen, in wenigen Minuten würden wir die Passhöhe erreichen.

Die grellen Scheinwerfer näherten sich schnell. Der schemenhafte Umriss eines Lastwagens verließ die Innenkurve vor uns und nahm urplötzlich an Größe zu. Etwas war hier nicht in Ordnung ... Eben hatten uns die Lichtkegel des Wagens passiert, aber etwas Dunkles kam rasend auf uns zu und versperrte uns den Weg. Reflexartig zog ich meinen Allradwagen über die seitliche Begrenzung der Fahrbahn. Ich kannte jeden Meter der Straße und wusste, dass jenseits der Außenspur die Tiefe lauerte.

Der Aufprall mit dem Anhänger war hart. Ich erhielt einen Schlag von der linken Seite. Glassplitter wirbelten durch die Kabine und das Ächzen von Metall drang wie aus der Ferne an meine Ohren. Dann war es wieder still, aber mein Auto rollte geradeaus weiter, in Richtung Böschung. David Brady saß wie gelähmt neben mir. Unendliche Augenblicke von wenigen Sekunden verstrichen. Schließlich gab David, ohne zu wissen, ob ich überhaupt noch bei Bewusstsein war, die rettende Anweisung: „Klaus, bremsen!“

Mechanisch presste ich meinen rechten Fuß aufs Pedal. Das Fahrzeug kam zum Stehen, haargenau am Rande des Abgrunds. Wir hatten überlebt – und das gleich zweimal unmittelbar hintereinander. Ein etwas anderer Winkel beim Zusammenstoß oder ein Sturz ins Bodenlose hätte zwei Witwen und sechs Halbwaisen hinterlassen.

Da standen wir nun an der Unfallstelle. Bei Nacht, im Nieselregen auf 3700 Meter Höhe. Ungläubig starrte ich auf den Haufen Schrott vor mir, dem ich soeben nur mit größter Anstrengung über den Beifahrersitz entstiegen war. Nur meine linke Schulter schmerzte und etwas Blut rann meine linke Wange hinunter.

Etwas später dachte ich: Gott hat wohl seine Gründe gehabt, unser Leben am 16. Dezember 2008 zu verschonen. Vielleicht war einer dieser Gründe unser Auftrag, die Geschichte von Diospi Suyana aufzuschreiben.

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Eine Schulromanze fürs Leben

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Aus den Augenwinkeln schielte ich heimlich zur anderen Seite des Klassenraums: Dort saß sie. Wie so oft war sie in ein Gespräch mit ihrer Banknachbarin vertieft. Schon seit sechseinhalb Jahren besuchte sie das Elly-Heuss-Gymnasium in Wiesbaden – genauso lange wie ich -, aber zum ersten Mal nahm ich sie bewusst wahr. Das Kurssystem der Oberstufe hatte die alten Klassenverbände völlig durcheinandergewirbelt. Und plötzlich fand ich mich gleich in sieben Kursen mit diesem attraktiven Mädchen konfrontiert! In der Enge eines Schulraumes von nur 30 Quadratmetern.

Mehr noch als ihre blauen Augen, die mich mit wenigen Blicken ziemlich nervös machen konnten, war es ihre weiche, einfühlsame Stimme, die mich geradezu verzauberte. Mit meinen 17 Jahren hatte ich schon einige Tausend verschiedener Stimmlagen akustisch aufgenommen, aber diese Tonlage war anders. Pure Erotik, leise und verführerisch. Sie drang von meinem Ohr direkt ins Herz. Als Schulsprecher war ich es durchaus gewohnt, das große Wort zu schwingen. Vielleicht hörte ich mich sogar selbst gerne reden. Aber wenn sie sprach, verstummte ich und lauschte gebannt, um ja keine Silbe zu verpassen.

Die reizende Dame war ohne Zweifel das pulsierende Zentrum einer großen Mädchenclique. Das hatte ich als aufmerksamer Beobachter schnell festgestellt. Ob sie am Nachmittag das Pferd eines Geschäftsmanns ausritt oder am Abend mit ihren Freundinnen die einschlägigen Diskotheken der Stadt unsicher machte -, es war stets das Gleiche: Alle Freizeitaktivitäten waren spätestens am Ende der 6. Schulstunde mit einigen Mitschülerinnen bis ins Detail abgestimmt. Sie lebte in einer für mich fremden Welt.

Meine Herkunft war der Betrieb eines Familienunternehmens fleißiger Bäckersleute. Von nachts um zwei bis zu den Neunzehnuhr-Nachrichten im Radio arbeiteten meine Eltern unentwegt in der Backstube oder im Laden. Ihr nimmermüder Fleiß entsprang wohl dem Drang von Menschen, die alles verloren hatten, sich und ihren vier Kindern einen Lebensunterhalt zu sichern. Meine Mutter Wanda war eine Vertriebene aus Pommern, mein Vater Rudolf ein entlaufener Kriegsgefangener aus Schlesien. Ihre Herkunft aus dem Osten, das Leid des Krieges und schließlich auch die Liebe hatten die beiden Heimatlosen zu einer echten Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt. Was sie jedoch am meisten verband, war ihr Glaube an einen persönlichen Gott.

Der Sonntagmorgen spielte sich bei uns stets in den Räumen der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde ab. Wir nannten das Gebäude liebevoll „Kapelle". Die Gottesdienste kamen mir als Junge zwar lang, aber nicht langweilig vor. Obwohl ich mich mehr mit dem bunten Glasfenster in der Decke und den Gesichtern der Anwesenden beschäftigte, als auf das Gesagte zu achten, gruben sich viele Fragmente der Predigten in meine Erinnerung ein.

Spannend fand ich es dagegen, wenn Missionare vorbeikamen und uns mit Lichtbildern Einblick in ihre Arbeit gaben. In Gedanken bestieg ich mit ihnen den Einbaum, um gefährliche Stromschnellen des Amazonas zu bezwingen. Der Landrover, mit dem die meisten Missionare die afrikanische Savanne durchquerten, wurde für mich bald zum Inbegriff meiner „motorisierten“ Ambitionen. Jedes Dia auf der Leinwand roch nach Gefahr, Abenteuer und Exotik.

Am Abend las ich dann im Bett die Geschichten des Dschungeldoktors Paul White. Dieser Allgemeinarzt aus Australien hatte zwei Jahre seiner aktiven Laufbahn in den endlosen Weiten Tansanias verbracht. Als ob er als Arzt nichts Besseres zu tun gehabt hätte, schrieb er darüber Abenteuerromane für Kinder und Jugendliche. Der Doktor unter dem Affenbrotbaum wusste sicherlich nicht, was er mit seinen Erlebnisberichten bei mir anrichten würde. Die Buchbände von jeweils 100 Seiten füllten meine Fantasie mit geheimnisvollen Figuren und lebendigen Gestalten aus einem rätselhaften Afrika. Sie alle waren dazu angetan, meine Aufmerksamkeit mehr zu fesseln als der Alltag in Wiesbaden, einer mittleren deutschen Großstadt der Sechzigerjahre.

Schon aus Zeitgründen hatten meine Eltern bewusst auf einen Fernseher verzichtet. Wenn meine Schulkameraden in den Pausen die gängigen Filme besprachen und die Fernsehwitze des Vorabends wiederholten, schwieg ich. Ich hatte ihren Kommentaren zum bunten Geflimmer aus der Tele-Konserve nichts beizusteuern. Doch meine Stunde schlug im Unterricht, wenn der Lehrer von fremden Kulturen, fernen Ländern und ihren Entdeckern erzählte. Diese Welt kannte ich, denn irgendwie fühlte ich mich ihr zugehörig.

Wie von einer unsichtbaren Hand angezogen, ging ich mit diesem weiblichen Wesen langsam auf Tuchfühlung. Dabei kam mir während einem unserer ersten Gespräche die große Erleuchtung. Was das Mädchen mit den blauen Augen mir soeben mitgeteilt hatte, klang geradezu unglaublich. „Ich möchte nach dem Abitur einmal Medizin studieren und dann in einem Land der Dritten Welt arbeiten!“ Bereits in der achten Klasse hatte sie die umfangreichen Seiten eines Schulaufsatzes diesem ziemlich ungewöhnlichen Lebenstraum gewidmet.

„Das will ich eigentlich auch“, entgegnete ich betont beiläufig und betrachtete das hübsche Gesicht neben mir noch genauer als jemals zuvor. Könnte es etwa sein, dass sich unsere Wege nicht zufällig gekreuzt hatten? Würden sich mit diesem Wirbelwind an meiner Seite einmal meine geheimsten Sehnsüchte erfüllen? Eine leise Ahnung regte sich. Tief in mir kam die Gewissheit auf, dass ich dieses Mädchen einmal heiraten würde. Martina Schenk, eine junge Frau voller Leidenschaft und Energie, und zudem ausgestattet mit der gleichen tiefen Entschlossenheit, die auch mir zu eigen war.

Sechs Wochen Ghana und zurück

Unsere Wege sollten sich seit dem Sommer 1978 nie mehr trennen. Zwar gab es gelegentlich offizielle Unterbrechungen unserer Freundschaft, aber irgendwie steckten wir beide ständig zusammen. Wir leiteten gemeinsam eine Jugendgruppe, gingen in die gleiche Kirchengemeinde, engagierten uns in der Friedensbewegung und teilten sogar denselben Freundeskreis. Und natürlich studierten wir gemeinsam Medizin an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. In unseren Unterhaltungen ging es oft um unseren zukünftigen Einsatz als Ärzte in einem Entwicklungsland. Das war in keiner Weise etwas Besonderes. Viele Medizinstudenten reden davon, zumindest bis zum Abschluss ihres Studiums. Dann holt die Wirklichkeit sie meistens ein, und es folgen Familiengründung, Facharztzeit und der Kauf eines passenden Hauses. Die Reihenfolge dieser Stationen mag unterschiedlich ausfallen, aber das Endergebnis ist fast immer das Gleiche – man bleibt in seinem Heimatland.

Medizinstudenten müssen einige praktische Arbeitseinsätze an Krankenhäusern nachweisen, die man Famulaturen nennt. Das Hineinschnuppern in die reale Arbeitswelt ist unter Studenten durchaus beliebt und sichert nicht selten die erste Arbeitsstelle nach dem bestandenen Examen.

Dass Martina im Frühjahr 1983 einen solchen Abschnitt ausgerechnet in Ghana verbringen wollte, schockierte nicht nur ihre Eltern. Wahrscheinlich spielte ihr Kontakt zu einem ghanaischen Studenten namens Chris Sackey eine Rolle, den Tina an der Uni kennengelernt hatte. Dieser wuchtige Schwarze hatte sich in Mainz als Wirtschaftsstudent immatrikuliert. Er bezeichnete sich selbstbewusst als Berater der Regierung in Accra, und vermutlich verfügte er wirklich über vielseitige Beziehungen. Chris machte einen durchaus sympathischen Eindruck, wenn er auch etwas undurchsichtig wirkte. Wie wir später feststellten, war er der unumstrittene Chef einer Gang und schmuggelte sogar gelegentlich Gold über die ghanaische Grenze, um sein mageres Gehalt aufzupolstern. In den damaligen innenpolitischen Wirren seines Heimatlandes sah er keinerlei Hindernisse für Tinas Besuch. Auch dann nicht, als zwei Wochen vor Beginn der Reise ein Putschversuch gegen Diktator Jerry Rawlings fehlschlug und der allgemeine Ausnahmezustand verhängt wurde.

Vielleicht erschien Martina ihr Ausbruch in die weite Welt nun doch etwas zu riskant, zumindest alleine. Als sie mich fragte, ob ich mitkommen wolle, willigte ich sofort ein. Wir waren zu diesem Zeitpunkt zwar nicht direkt liiert, aber wohl genau das richtige Duo für ein brenzliges Unternehmen.

Nur noch wenige Tage trennten uns von dem vielleicht ersten großen Abenteuer unseres Lebens. Auf die Empfehlung eines ehemaligen Entwicklungshelfers hin fuhren wir nach Tübingen, um Frau Dr. Marquard einen kurzen Besuch abzustatten. Die katholische Ärztin hatte ein Vierteljahrhundert in Ghana gearbeitet. Sie überreichte uns einige Büchsen mit Antimalariatabletten und bewirtete uns mit Brot und heißem Tee. Zum Abschied las sie einige Verse aus dem 91. Psalm: „Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dichnicht treffen!“ Sie hätte keinen besseren Vers für uns auswählen können – denn auch wenn wir uns äußerlich recht furchtlos gaben, tief drinnen war uns in jeder Beziehung mulmig zumute.

Mit der Aeroflot flogen wir über Moskau, Odessa und Tripolis in die ghanaische Hauptstadt Accra. Unsere Rucksäcke hatten wir vorsichtshalber randvoll mit Konservendosen und Hartkäse gefüllt. Die Hungersnot des Landes würde uns also nichts anhaben können, es sei denn, unsere Vorräte würden geraubt.

Etwas zögerlich traten wir aus dem Flugzeug in die schwülheiße Luft der afrikanischen Westküste. Der Blick hinüber zum Flughafengebäude flößte uns ziemliches Unbehagen ein. Wie eine dunkle Wand standen Hunderte von Schwarzen vor uns.

Schritt für Schritt näherten wir uns langsam dem Ausgang des Flughafens und damit der Wirklichkeit eines Landes der sogenannten Dritten Welt. Wir hatten immer vollmundig behauptet, wir würden gerne ein Leben lang für die Armen arbeiten wollen. Nun waren wir ihnen zum ersten Mal recht nahe gekommen. Aber egal, wie unser Experiment ausgehen sollte, sechs Wochen später würde uns der Flieger ja wieder ins sichere Deutschland befördern.

„Hey, hier bin ich!“, rief ein groß gewachsener Mann aus der unübersichtlichen Menschenmenge heraus. Chris Sackey hatte Wort gehalten und war tatsächlich am Flughafen erschienen, um uns abzuholen. Martinas Brief hatte zwar das zentrale Postgebäude Accras niemals verlassen, aber irgendwie hatte er die Nachricht mit den Daten unserer Ankunft rechtzeitig aus einem Postsack herausgefischt.

Dass Afrika anders war als Deutschland, bemerkten wir spätestens beim Versuch, die Toilette des Flughafens zu benutzen. Bis zum obersten Rand schwappte in allen Schüsseln der übelriechende Kotbrei. Der Ekel hätte uns womöglich eine chronische Verstopfung beschert, doch zwei Tage später setzte bei uns ein hartnäckiger Durchfall ein, den wir bis zur Heimreise nicht mehr loswurden.

Würde sich unsere berufliche Zukunft einmal in Afrika abspielen? Entgeistert blickten wir auf die kilometerlangen Autoschlangen vor den Tankstellen. Es gab kein Benzin und die Besitzer hatten in der Hoffnung auf bessere Zeiten ihre Fahrzeuge einfach in endlosen Reihen abgestellt. Wohin wir schauten, sahen wir Bettler und verkrüppelte Kinder am Boden. An einer Straßensperre zwang ein Soldat einen alten Mann mit vorgehaltener Waffe auf die Knie. Erleichtert holten wir tief Luft, als der Knall ausblieb.

Im Wohnzimmer der ghanaischen Familie Yeboah gab es allabendlich viel Gesprächsstoff. Über abenteuerliche Wege waren wir in Kumasi, der Hauptstadt der stolzen Ashantis, gelandet. Monika Yeboah, eine Frankfurterin, lebte hier mit ihrem ghanaischen Mann und sechs ihrer acht Kinder. Also stellten wir ihr all unsere Fragen: Warum sahen wir so viele Männer, die sich im Schatten der Bäume dem Würfelspiel hingaben, während ihre Frauen auf den Feldern hart arbeiten mussten? Warum hatten die meisten Männer, die wir trafen, Nebenfrauen und Geliebte? Eine übliche Praxis, unter der die Frauen offensichtlich sehr litten.

Wer sich nicht vorsieht, tappt in Afrika schnell in die Falle des Rassismus. Selbst langjährige Entwicklungshelfer und Missionare beschrieben uns die afrikanische Seele als schier unergründlich. Nachdenklich lutschten Martina und ich an den aufgeschnittenen Apfelsinen und grübelten stundenlang über Afrika und seine Menschen nach. Wir fragten uns etwas ratlos, ob wir in einer solchen Gesellschaft jemals heimisch werden könnten. Es war für uns schwierig genug, den einen Ghanaer von dem anderen zu unterscheiden. Aber noch schwerer fiel es uns, ihr Wesen zu verstehen.

Das Wenige, was wir bisher von Afrika gesehen hatten, kam uns dunkel und bedrohlich vor. Mag sein, dass die Hautfarbe der Menschen eine Rolle spielte. Aber sogar die Stadt Kumasi hüllte sich in der Nacht in tiefe Schwärze. Es brannten weder Straßenlaternen noch sah man das Leuchten irgendwelcher Reklameschilder. In der Tat wirkte die Stadt von immerhin 300 000 Einwohnern auf uns wenig einladend. Auf nächtliche Stadtrundgänge verzichteten wir gerne, ohnehin durfte ab 18 Uhr niemand ohne triftigen Grund auf der Straße angetroffen werden. Und nach unseren ersten Erfahrungen mit den Militärs waren wir auf weitere Erlebnisse mit Bewaffneten keinesfalls erpicht.

An einem Nachmittag wurden wir dann fast Opfer unserer eigenen schlechten Zeiteinteilung. Mit Monika hatten wir eine befreundete amerikanische Familie besucht. Als wir die langen Schatten der Sonne bemerkten, war es schon zu spät. Wir würden niemals die Militärkontrolle vor Beginn der Ausgangssperre passieren können. Monika blieb erstaunlich gelassen. Gemeinsam beteten wir um Gottes Schutz. Als wir uns dem Stacheldrahtverhau der Sicherheitskräfte näherten, setzte plötzlich ein tropischer Platzregen ein und alle Soldaten verschwanden fluchtartig von der Straße. Unbehelligt setzten wir unsere Fahrt fort und erreichten wohlbehalten das Haus der Familie Yeboah. Gebetserhörungen dieser Art waren für uns neu und der Zweifel nagte, ob es sich bei diesem Regenschauer nicht bloß um einen unwahrscheinlichen Zufall gehandelt haben könnte ... eben launisches Wetter zum rechten Zeitpunkt.

In jeder Beziehung entwickelten sich die Wochen in Ghana zu einer für uns eindrücklichen Lebenserfahrung. Beim großen staatlichen Komfo Anokye Krankenhaus in Kumasi mangelte es offensichtlich an Sauberkeit und guter Organisation. Kaum hatten wir seine Gänge betreten, nahmen wir die merkwürdigsten Gerüche wahr. Und schon bald machte man uns auf eines der grundlegenden Probleme der Einrichtung aufmerksam: die Rattenplage.

Monika Yeboah vermittelte uns fürsorglich ein zweiwöchiges Praktikum auf einer kleinen Missionsstation am Lake Bosumtwi. Wer hier aus dem Geländewagen ausstieg, war wirklich im Herzen Afrikas angekommen. Wellige Hügel umsäumten den See, den ein tüchtiger Wanderer in einem strammen Tagesmarsch umrunden konnte. An seinen Ufern lagen verträumte Dörfer mit strohgedeckten Rundhütten. Wenn die Abendsonne den Himmel in warme Rottöne tauchte und der Wind das dumpfe Dröhnen der Trommeln über den See trug, fühlte man sich in die Zeit eines Livingston zurückversetzt. Das Afrika der Kinderbücher war an diesem idyllischen Ort zum Leben erwacht. Hier ließ es sich in Frieden leben, wäre da nicht das ständige Zirpen und Brummen der Insekten gewesen, die an die latente Malariagefahr erinnerten. Sie gab den Ghanaern Anlass zu großer Besorgnis.

Die Gesundheitsstation wurde von Margery, einer methodistischen Krankenschwester aus England, geleitet. Sie selbst und ihre vier ghanaischen Hilfsschwestern behandelten an einem normalen Tag 50 bis 80 Patienten. Sie war in jeder Hinsicht ein Schwergewicht und durch nichts zu erschüttern. Als Tina erstmals an Malaria erkrankte, blieb sie ganz ruhig und verordnete mit stoischer Gelassenheit die Medikamente, auf die es in der Region noch keine Resistenzen gab. Und Tinas rotglühender Kopf nahm bald wieder seine normale Farbe an.

Da kein gutes Labor vorhanden war, bestand die medizinische Behandlung meistens aus Blickdiagnose und Tabletten. Nicht viel höher war der Standard an einem Kinderkrankenhaus in Khumasi. Der indische Arzt Dr. Hunter untersuchte am Morgen bis zu 200 kleine Patienten. Seine gespreizte linke Hand griff rasch auf den Bauch des Kindes, wobei er mit den Fingern die Leber und mit dem Daumen gleichzeitig die Milz abtastete. So blieb ihm noch die rechte Hand, um einige formelhafte Bemerkungen in die Krankenakte zu schreiben.

Als wir zur Mittagszeit bei ihm aufkreuzten, informierte er uns über seine Aktivitäten am Nachmittag. „Jetzt muss ich mich um Papier, Bleistifte, Benzin und Essen kümmern“, sagte er. „Wer das nicht selbst organisiert, geht leer aus!“

Unsere Erfahrungen an den verschiedenen medizinischen Einrichtungen der Gegend machten uns eines schnell deutlich. Es fehlte dort im Land an fast allem, was in Deutschland als selbstverständlich gilt. Der medizinische Standard war erschreckend niedrig. Machte es überhaupt Sinn, sich in Mainz sechs lange Jahre mit Zehntausenden von Seiten an Theorie zu beschäftigen, wenn ein Großteil des Gelernten in Afrika niemals zum Einsatz kommen würde? Am meisten irritierte uns aber die Unmenschlichkeit der afrikanischen Gesellschaft, die wir auch im Krankenhausalltag beobachteten. Wenn der Patient in den staatlichen Häusern nicht bezahlte, wurde er nicht behandelt. Im Klartext bedeutete dies: Blättere dem Chirurgen die Geldscheine auf den Tisch, oder du kannst dich um deinen vereiterten Blinddarm selbst kümmern.

Martina und ich zogen eine Zwischenbilanz. Erstens: Die drei Missionskrankenhäuser, die wir besucht hatten, funktionierten bei allen Mängeln wesentlich besser als staatliche Kliniken. Zweitens: Christliche Nächstenliebe ist kein Schlagwort. Sie steht für die liebevolle Hinwendung des Arztes zum Patienten und war genau das, was hier an vielen Orten offensichtlich fehlte. Unter dem Strich erschien uns der Gedanke, einmal langfristig in Ghana oder einem ähnlichen Land zu arbeiten, wenig attraktiv.

Wir fragten uns, ob wir unsere Pläne, künftig ein Leben als Missionsärzte zu verbringen, nicht doch lieber über Bord werfen sollten. Doch es kam ganz anders. Wir trafen Professor Perry. Unsere Begegnung mit dem hageren und ernsten Arzt aus England verschaffte uns genau den positiven Impuls, den wir uns von unserer Famulatur in Ghana erhofft hatten.

Nicht dass er unsere Bedenken durch schlaue Argumente zerstreute oder uns aufmunternd auf die Schultern klopfte. Nichts dergleichen. Er sprach überhaupt eher wenig. Trotzdem verkörperte er ein hoffnungsvolles Signal in einem Umfeld der Ungerechtigkeit. Eine vielversprechende Karriere hatte er zum Leidwesen seiner Familie in England aufgegeben, um als Arzt beim Aufbau des ghanaischen Gesundheitssystems zu helfen. Wo immer er auftauchte, war sein guter Leumund ihm längst vorausgeeilt. „Er teilt sogar seine letzte Scheibe Brot mit seinem Gärtner!“, flüsterten die einen. „Er ist ein Vorbild von Kopf bis Fuß!“, raunten die anderen.

Kurz vor Ende unseres Aufenthaltes in Ghana verbrachten wir eine Nacht in seinem Haus. Bevor uns die Müdigkeit übermannte, hörten wir ihn im Untergeschoss leise singen. Es waren keine Schlager aus dem Radio, sondern Psalmen aus der Bibel. Dieser Mann hatte sich von seinen eigenen ungelösten Fragen nicht entmutigen lassen. Seine Kraft holte er sich vielmehr aus seinem Glauben an Gott. Ein Glaube, der nicht von momentanen Gefühlsschwankungen oder sich verändernden Situationen abhängig zu sein schien. Professor Perrys Leben wurde für uns zu einer überzeugenden Botschaft und er selbst zu einem unserer wichtigsten Vorbilder.

Mein „Briefkastenerlebnis“

Schnell glitten meine Finger über die Seiten des Buches und ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Was ich vor mir in Händen hielt, entpuppte sich als eine wahre Schatzkiste. In alphabetischer Ordnung führte der Katalog alle amerikanischen Universitäten auf, die eine medizinische Fakultät besaßen. Im Sommer 1984 waren das in den USA um die 120 Hochschulen. Genau diese Information hatte ich gesucht. Noch gab es kein Internet mit Suchmaschinen, die sekundenschnell Daten und Adressen ausspuckten. Ich schrieb mir den Verlag des Buches auf und bestellte ein Exemplar auf dem Postweg. Einige Wochen später stand es ordentlich im Regal meiner Studentenbude.

Ich hatte mich tapfer ins 8. Semester vorangekämpft und machte mir bereits Gedanken, wo ich meine Studienzeit abschließen würde. Aus Gesprächen anderer Studenten hatte ich aufgeschnappt, dass die Ausbildung in den USA praktischer und damit besser wäre als in Deutschland. Irgendwann stand mein Entschluss dann fest: Ich würde meine beiden letzten Semester komplett in den USA absolvieren.

Ein Austauschjahr im Ausland ist heutzutage nichts Außergewöhnliches. Zahlreiche politische und pädagogische Organisationen stehen bereit, um Schülern und Studenten diese wichtige Erfahrung in einem fremden Kulturkreis zu verschaffen. Auf der Beliebtheitsskala rangieren die USA, Kanada, Neuseeland, Australien und England auf den obersten Plätzen. Doch für deutsche Medizinstudenten war es vor 25 Jahren ungleich schwerer, zwei oder sogar drei Semester jenseits der eigenen Landesgrenzen zu studieren. Und dies betraf besonders die USA. Das hatte gleich mehrere Gründe. Zum einen mussten amerikanische Studenten schon damals erhebliche Studiengebühren entrichten, zum anderen unterschieden sich die Ausbildungssysteme beider Länder gehörig voneinander. Anders als in Amerika bestand das letzte Studienjahr in Deutschland aus drei Abschnitten von jeweils vier Monaten in den Bereichen der Inneren Medizin, Chirurgie und einem Wahlfach. Der Student konnte sich an den Lehrkrankenhäusern seiner Universität um diese Stellen bewerben.

Etwas wehmütig blickte ich auf die Karte der Vereinigten Staaten von Amerika. Wie sollte ich mein Vorhaben jemals umsetzen können? Ich verfügte weder über persönliche Kontakte zu einflussreichen Professoren mit transatlantischen Beziehungen, noch besaß ich gute Englischkenntnisse. Je mehr Erkundigungen ich im Mainzer Dekanatsbüro einholte, desto unrealistischer erschien mir mein Ziel.

Welche amerikanische Universität würde mich für drei oder vier Monate annehmen, wenn ihre eigenen Studenten nur für maximal acht Wochen die Uni wechseln durften? Doch als größte Hürde erkannte ich bald die deutsche Bürokratie. „Entweder Sie finden einen Platz für mindestens vier Monate an einer Uni, oder Sie bleiben halt hier!“ Die Maßgaben des Studiendekans waren unmissverständlich klar.

Ich musste mir eingestehen, dass meine Lage recht aussichtslos war. Ohne eine kräftige Hilfestellung, woher auch immer, würde ich niemals in die USA gelangen. Konfrontiert mit meinen eigenen begrenzten Möglichkeiten, entschied ich mich, woanders Beistand zu suchen. Ich fing an zu beten. Ab Januar 1984 betete ich an jedem Abend zu Gott, er möge mich durch alle logistischen und bürokratischen Schwierigkeiten hindurch über den Atlantik führen – vorausgesetzt, meine Pläne deckten sich mit den seinen. Ich wurde dabei ziemlich konkret und bat Gott sogar, dass ich alle Formalitäten bis zum ersten Prüfungstag meines Staatsexamens im August 1985 regeln könnte. Noch blieb mir viel Zeit. Abend für Abend sprach ich das gleiche Gebet.

Die Wochen und Monate vergingen. Um meine Englischkenntnisse zu verbessern, machte ich eine Famulatur am American Air Force Krankenhaus in Wiesbaden. Der Chirurg Dr. Locker aus Texas nahm sich meiner an. Trotz seines herzlichen Lachens konnte er mich nicht aufmuntern. Eine ängstliche Unsicherheit steckte mir in den Knochen. Als ich zum Mittagessen an der Theke mein Essen aufs Tablett stellte, warf ich ein volles Milchglas um. Die Milchlache am Boden vor den Augen eines belustigten Publikums entsprach meinem Seelenzustand: Ich fühlte mich völlig inkompetent und überfordert.

Im Januar 1985 nahm ich allen Mut zusammen und tippte mit der Schreibmaschine eine Bewerbung auf Englisch. Mithilfe eines Schwarz-Weiß-Kopierers stellte ich die Unterlagen für 40 Universitäten zusammen. Ich warf die Umschläge mit gemischten Gefühlen in den Briefkasten und harrte der Dinge, die da kommen würden. Der Countdown von acht Monaten bis zum Examen hatte begonnen.

Lange passierte gar nichts. Schließlich trudelten peu à peu die ersten Absagen ein. „Es tut uns leid, aber wir können Ihnen keinen positiven Bescheid geben.“ – „Alle unsere Plätze für Besuchsstudenten sind bereits vergeben!“ – „Unser Ausbildungssystem sieht einen Besuch von vier Monaten nicht vor!“ So und ähnlich lauteten die Absagen, die ich sorgfältig in einer Mappe aufbewahrte. Nur die Universität von Wisconsin bot mir eine zweimonatige Ausbildungsstelle in der Chirurgie an, während die Universität von Texas einen Platz in der Gynäkologie in Aussicht stellte. Allerdings nur für acht Wochen und sowieso erst zum Jahresende 1986. Diese beiden Schreiben waren ein Lichtblick, aber ich konnte mit ihnen nichts Rechtes anfangen. Das Tor nach Amerika blieb verschlossen.

Die Zeit verstrich. Aus Winter wurde Frühling und aus Frühling wurde Sommer. Ich stand immer noch mit leeren Händen da und meine Hoffnung schmolz wie Butter in der Sonne. Meine zunehmende Enttäuschung verarbeitete ich am Abend in einem schon fast stereotypen Gebet: „Gott, wenn du es willst, bring mich bitte nach Amerika!“

Der Juli hatte begonnen und das Examen rückte in Sichtweite. Im Mainzer Dekanatsbüro machte man mir zunehmend Druck. „Geben Sie uns bitte umgehend Bescheid, an welchem deutschen Lehrkrankenhaus Sie arbeiten möchten“, forderte die Sekretärin. „Mit den USA wird das ja wohl nichts!“

Wie so oft saß ich am Abend wieder auf meinem Bett. Meine eigenen Bemühungen der vergangenen acht Monate waren erfolglos geblieben. Und meine täglichen Gebete der letzten zwanzig Monate hatten ebenfalls nichts bewirkt. Ich hatte umsonst gewartet und mir Hoffnungen gemacht. Die Erkenntnis meiner persönlichen Niederlage schmeckte bitter. In diesem Augenblick der totalen Frustration schoss mir ein verwegener Gedanke durch den Kopf: Bitte doch Gott um eine Zusage in der morgigen Post!

Ich kniete vor meinem Bett nieder und betete im Gefühl der eigenen Hilflosigkeit: „Gott, wenn du da bist und wenn du es willst, schick mir in der Post morgen bitte eine Zusage aus den USA!“

Ich zitterte vor Aufregung, als ich am nächsten Morgen zur üblichen Zeit meinen Briefkasten öffnete. Ein Brief war gekommen – und ich konnte unschwer erkennen, dass er aus den USA stammte! Ein Stempel auf der Vorderseite gab die Case Western Reserve Universität aus Cleveland, Ohio, als Absender an. Hastig riss ich den Umschlag auf und klappte das Schreiben auseinander.

„Herr John, wir freuen uns Ihnen mitzuteilen, dass wir Ihnen für zwei Monate eine chirurgische Ausbildungsstelle anbieten können!“

Ich war sprachlos! Ein zweites und ein drittes Mal übersetzte ich behutsam jedes einzelne Wort. Ohne Zweifel, die berühmte Case Western Reserve-Universität hatte mich als Besuchsstudenten angenommen. Nach einem innigen Dankgebet fuhr ich mit meinem Auto gleich zur Universität nach Mainz. Studiendekan Prof. Löffelholz musterte sorgfältig den Brief aus Amerika. Schließlich entschied er sich, in meinem Fall eine besondere Ausnahmeregelung zu treffen. Er erlaubte mir, den chirurgischen Teil meiner Ausbildung an zwei verschiedenen Universitäten, nämlich in Wisconsin und Ohio, zu absolvieren.

Damit waren die restlichen acht Monate der Inneren Medizin und meines Wahlfachs zwar noch nicht geklärt, aber mein „Briefkastenerlebnis“ hatte mir zu der felsenfesten Überzeugung verholfen, dass Gott mit mir war. Er würde mich führen und ich könnte ihm vertrauen. In dieser Gewissheit meldete ich mich noch am selben Tag von der Johannes Gutenberg Universität ab.

Anderthalb Wochen blieben mir bis zum ersten der vier Prüfungstage. Es war klar, dass Gott noch handeln musste, denn außer den vier Monaten Chirurgie hatte ich sonst nichts in der Tasche. Da ich mich von der Uni in Mainz bereits verabschiedet hatte, glich ich einem Sportler, der zwar vom Boden abgesprungen, aber noch nicht wieder sicher gelandet war. Doch mein Glaube an Gott war jetzt so groß wie noch nie ... und ich war kaum überrascht, als ich im Briefkasten einen Brief der Universität von Virginia vorfand. „Herr John, Sie dürfen bei uns für vier Monate das Fach der Inneren Medizin studieren!“

Warum die Uniklinik in Richmond mir dieses außergewöhnliche Angebot gemacht hatte, erfuhr ich einige Monate später, als ich vor Ort eintraf. „Ja, das war so“, erklärte der zuständige Verwaltungsbeamte, „wir nehmen jedes Jahr einen einzigen Studenten aus Europa. Natürlich hatten sich über 100 Studenten um diese Stelle beworben. Und die Entscheidung fiel mir auch nicht ganz leicht. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe ziemlich wahllos in den Haufen hineingegriffen und Ihren Brief dabei herausgezogen!“ Ich schluckte. So war das also.

Der erste Prüfungstag ging zu Ende und erschöpft fuhr ich nach Hause. Am Briefkasten machte ich allerdings erst einmal halt. Mein Herz schlug schneller: Der Brief, der mir da entgegenlachte, kam aus den USA. „Herr John, Sie können bei uns in Denver drei Monatskurse der Kinderheilkunde belegen!“

Die Sache war nun perfekt. Mit den vier Wochen Urlaub, die mir zustanden, löste die Zusage aus Denver das letzte noch verbliebene Rätsel meines amerikanischen Studienjahres. Gott hatte meine Gebete dreimal – sogar bis auf den Tag genau – beantwortet. Es dämmerte mir, dass in meinem Leben mit Gott an der Seite das Unwahrscheinliche, ja sogar das Unmögliche möglich werden könnte. Ich müsste nur eines tun: ihm vertrauen.

Ich kaufte ein Flugticket und packte meine zwei Koffer. Gemäß dem Slogan „Go West, young man“ flog ich am 25. Oktober 1985 mit Peoples Express von Brüssel nach New Jersey in den USA.

Kreuz und quer durch die USA

In New York traf ich meinen alten Schulfreund Axel Peuker wieder. Seine beachtliche Karriere als Wirtschaftsfachmann hatte ihn ein Jahr zuvor bis zur Weltbank geführt. Auf der Couch in seinem schmucken Apartment in Manhattan kurierte ich nun meinen ersten Jetlag aus und hoffte, dass der heiße Tee meine müden Lebensgeister wieder wecken würde. Am Abend zeigte mir Axel ein wenig von der Stadt, die man mit Fug und Recht als den größten Schmelztiegel Amerikas bezeichnen kann.

Während des Stadtausflugs setzten wir auf einer Fähre nach Long Island über. Es war schon kühl geworden und ich schlug den Kragen meiner gefütterten Lederjacke hoch. Die Fahrt dauerte wohl kaum mehr als 15 Minuten, aber sie hinterließ in meiner Gedankenwelt folgenschwere Spuren. Axel war überzeugter Atheist, hochintellektuell und gut belesen. Das Gespräch mit ihm in freundlicher Atmosphäre an der Reling des Schiffes erschütterte meinen Glauben an Gott nachhaltig. Ohne mich an die Details unserer Unterhaltung erinnern zu können, sollten ihre Nachwehen fast 13 Jahre meines Lebens überschatten. Wie ein Quälgeist plagte mich in stillen Augenblicken die Befürchtung, dass Gott nichts weiter als ein frommer Wunsch sei.

Der Start an der Case Western Universität in Cleveland war in jeder Beziehung hart. Ich wurde einer Gruppe von Medizinstudenten zugeteilt, die am Metropolitan Hospital ihr drittes Ausbildungsjahr verbrachten. Morgens um 5 Uhr schlich ich müde durch einen Tunnel, der das Schwesternwohnheim, wo ich mich einquartiert hatte, mit dem Spital verband. Gegen 21 Uhr am Abend schleppte ich mich den langen Gang wieder zurück. An jedem dritten Tag hatte ich Nachtdienst und war durchgehend auf der Station oder im Operationssaal beschäftigt. So kam meine Arbeitswoche auf gut 120 Stunden. Während der Fortbildungskonferenzen saßen wir Studenten auf weichen Stühlen und schliefen fest, was auch niemanden störte. Unsere Chefs hatten das gleiche rigorose Training durchgemacht und wussten, dass der menschliche Körper keine weiteren Kraftreserven hergab.

Meine Englischkenntnisse verbesserten sich und ich gewann zusehends an Selbstbewusstsein. Könnte ich nicht mein Studium an der Eliteuniversität Harvard beenden? Als ultimative Herausforderung setzte sich diese fixe Idee in meinem Kopf fest. Am besten wäre ein Semester am Massachussetts General Hospital, dem berühmtesten Lehrkrankenhaus der USA. Aber würde ich es als deutscher Student dorthin schaffen? Der Gedanke reizte mich und ich wollte es auf einen Versuch ankommen lassen.

Kurz nach Weihnachten fuhr ich von Cleveland mit dem Greyhound Bus nach Madison, Wisconsin, um im Januar 1986 meinen nächsten Abschnitt zu beginnen. In Madison wird es im Winter richtig kalt. Eine dichte Schneedecke liegt über den Häusern und Wiesen. Trotz seines Capitols, dem zweithöchsten nach Washington, und seinen vielen Colleges trägt die Stadt eher provinzielle Züge. Bei Mrs. Florence Waisman, einer älteren jüdischen Dame, fand ich eine neue Bleibe.

An der Uniklinik steckte man mich in die Arbeitsgruppe von Prof. Mack – und der tägliche Stress ging weiter. Aus mir unerfindlichen Gründen war Prof. Mack von meiner Arbeit sehr angetan. Als ich ihm von meinen Harvard-Plänen erzählte, fackelte er nicht lange und schickte ein ausführliches Gutachten über mich an die dortige medizinische Fakultät. In seinem Schreiben hob er unter anderem meinen Wunsch hervor, nach dem Studium als Missionsarzt in der Dritten Welt zu arbeiten.

Die schwierigste erste Etappe in Cleveland lag hinter mir. Das Arbeitspensum reduzierte sich auf 80 Stunden pro Woche, so blieb mir etwas mehr Zeit zum Nachdenken. Besonders die Frage nach Gott wälzte ich Tag für Tag in meinem Inneren vor mir her. Ob er wirklich existierte? Hatte ich mir vielleicht nur etwas vorgemacht? Ich wollte nicht an Gott glauben, nein, ich wollte ihn vielmehr sehen. Die Ungewissheit nagte an mir und raubte mir manchmal geradezu den Lebensmut. Eines Nachts lag ich im Bett und beobachtete die gespenstischen Schatten, die die Straßenlaternen an die Wand meines Zimmers warfen. Ich weinte und fühlte mich unendlich leer. Auf mein Gebet hin, Gott möge sich mir zeigen, in welcher Form auch immer, war es still geblieben.

Ende Februar brachte mich ein Flugzeug ins warme Richmond nach Virginia. Der Geruch von würzigem Tabak durchzog angenehm die ganze Stadt. Zum ersten Mal befand ich mich in den Südstaaten. Der Umgangston der Menschen in den öffentlichen Einrichtungen, Restaurants und Kirchen war herzlich und höflich zugleich. Mit etwas Fantasie fühlte man sich in die Zeit des Buches „Vom Winde verweht“ zurückversetzt.

Als einziger Gaststudent aus Europa genoss ich einen besonderen Status. Unter den 3000 Medizinstudenten in Mainz war ich relativ anonym geblieben. Hier am Medical College von Virginia wurde mir hingegen eine ungewohnte Aufmerksamkeit durch Professoren und Mitstudenten zuteil. Besonders Douglas Palmore und seine Frau nahmen sich meiner an. Er war der offizielle Ansprechpartner aller Studenten, fühlte sich aber für mich in besonderer Weise verantwortlich. Als sich meine Zeit in Richmond dem Ende zuneigte, schickte er einen warmen Empfehlungsbrief nach Harvard. Sein Vorstoß wurde bald mit Erfolg gekrönt. Einige Wochen später erreichte mich ein positiver Bescheid von dort. Meine Tour durch Amerika würde ich also nach den folgenden Stationen in Denver und Houston – quasi als Höhepunkt – in Boston beenden. Gleich drei Chirurgiekurse durfte ich am Massachussetts General Hospital belegen. Seine Kürzel „MGH“ standen, wie man mir später bei Harvard erklärte, für den Ausspruch „Man's Greatest Hospital“, was auf Deutsch so viel heißt wie „das großartigste Krankenhaus der Menschheit".

Als ich im Mai 1987 nach Deutschland zurückkehrte, war aus einem vormals ängstlichen Studenten ein selbstsicherer Kosmopolit geworden. Fast anderthalb Jahre hatte ich an sechs verschiedenen amerikanischen Universitäten studiert. In einem ständig neuen Umfeld hatte ich mich bewähren müssen und dabei neun Zeugnisse mit Auszeichnung gesammelt. Ich wusste nun ganz genau, was ich wollte. Ich würde meinen chirurgischen Facharzt machen, um danach in einem Land der Dritten Welt etwas zu bewegen. Warum sollte ich nicht sogar einmal selbst ein neues Krankenhaus gründen? Mit meinen 26 Jahren mangelte es mir nicht mehr an Selbstvertrauen, wohl aber an Reife, Erfahrung und Geduld.

Schuften bis zum Umfallen

Das Leben ist kurz. Diese Lektion hatte ich mittlerweile verstanden. Wer ein großes Ziel erreichen will, sollte sich rechtzeitig auf den Weg machen und sein Schritttempo beschleunigen. Nur zweieinhalb Monate nach meiner Rückkehr aus den USA schritten Martina und ich vor den Altar und gaben uns das Jawort.

Wir bezogen eine kleine Dachwohnung im Wiesbadener Westend-Viertel und machten uns an unsere Doktorarbeiten. Als angehende Kinderärztin verfasste Martina eine Studie über die Mukoviszidose, eine Erkrankung, die vorwiegend die Lungen der Kinder schädigt. Ich analysierte anhand eines umfangreichen Patientenkollektivs die Einschätzung von Risikofaktoren vor operativen Eingriffen. Wir vermuteten, dass sich unsere Beschäftigung mit wissenschaftlichen Themen langfristig als vorteilhaft erweisen würde. Für unsere zukünftigen Patienten war der Doktortitel sowieso schon die halbe Therapie ...

Zwischendurch gab es auch Schrecksekunden. Eines Tages stand ich auf der Straße vor der Mainzer Uniklinik und starrte ungläubig nach oben auf eine ganz bestimmte Stelle des Gebäudes. Dichter Rauch quoll aus den Fenstern. Hinter den schwarzen Schwaden befanden sich alle meine gesammelten Unterlagen für die Doktorarbeit! Sollten sie den Flammen zum Opfer fallen, hätte ich einige Monate umsonst am Schreibtisch verbracht. Doch der folgende Tag brachte für mich die erlösende Entwarnung. Zwar hatte der Brand einen Schaden in Millionenhöhe angerichtet, aber mein Arbeitsraum und damit alle meine Daten waren verschont geblieben.

Nach den guten Erfahrungen in den USA verspürte ich nicht das geringste Bedürfnis, meine Karriere in Deutschland fortzusetzen. Auch Tina sah unsere langfristige Zukunft in einem Entwicklungsland. Dazu bedurfte es bei ihr keiner großen Überredungskünste. Im August 1988 packten wir unsere wenigen Habseligkeiten zusammen und siedelten für unsere weitere Ausbildung nach Großbritannien über. Das hinter uns liegende Jahr in Wiesbaden war eine wichtige Übergangsphase gewesen, angefüllt mit Büffeln und Pauken. Außer der Doktorarbeit hatte ich noch das deutsche Staatsexamen abhaken müssen. Und da wir nicht wussten, wohin es uns mal verschlagen würde, hatten Martina und ich in Frankfurt auchdas amerikanische medizinische Staatsexamen abgelegt. Wir waren jung, mobil und unternehmungslustig.

Der englische Ausbildungsmodus empfiehlt dem jungen Arzt einen mehrfachen Arbeitsplatzwechsel. Dieses Konzept ist nicht neu, sondern geht auf die mittelalterlichen Wandergesellen zurück. Während unserer zweieinhalb Jahre im Vereinigten Königreich führte uns der Weg zunächst an die Unikliniken Cardiff und Leicester und dann nach Leeds, Bolton und Manchester. Gleichgültig, an welchem Krankenhaus wir auch unsere Dienste verrichteten, wir gaben unser Bestes. An manchen Wochenenden arbeiteten wir von Freitagmorgen bis Montagabend, ohne das Krankenhaus zu verlassen. Tina und ich waren noch kinderlos, hoch motiviert und belastbar. Unser Wunsch nach einer hervorragenden Ausbildung ging in Erfüllung, doch wir bezahlten einen Preis: Wir litten an chronischer Müdigkeit und sahen uns als Paar oftmals mehrere Tage überhaupt nicht.

Die englische Mentalität sagte uns zu. Wir empfanden die Briten als wesentlich freundlicher und hilfsbereiter als die Deutschen. Wir lernten viel und hätten den Facharzt in Großbritannien abschließen können. Doch Tina und ich suchten erneut die Herausforderung: diesmal in den USA.

Mit dem bestandenen amerikanischen Staatsexamen bot sich uns die Chance, als Quereinsteiger in das US-amerikanische System überzuwechseln. Aber sollten wir solch einen mühevollen Schritt wirklich vollziehen? Wochenlang beteten wir um Gottes Führung in dieser für uns so schweren Entscheidung. Obwohl ich meine Zweifel an Gott längst nicht abgeschüttelt hatte, hoffte ich trotzdem auf den Wink von oben. In den folgenden Monaten häuften sich dann bei uns derart viele unerklärliche Ereignisse, dass wir das nur dem Eingreifen einer höheren Macht zuschreiben konnten.