WARUM GERECHTIGKEIT?
Gottes Großzügigkeit, soziales Handeln und was ich tun kann
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Generous Justice: How God’s Grace makes us Just
© 2010 by Timothy Keller
Published by Dutton, a member of Penguin Group (USA) Inc.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Friedemann Lux.
Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben, der
Hoffnung für alle®, © 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.™.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten.
Übersetzt und herausgegeben durch: Brunnen Verlag Basel, Schweiz.
Sonst der Lutherbibel (LÜ), revidierter Text 1984, durchgesehene Auflage in
neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
© 2012 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Uwe Bertelmann
Umschlagmotiv: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Ralf Simon
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-1179-0
eISBN 978-3-7655-7078-0
FÜR DIE DIAKONE UND DIAKONINNEN
DER REDEEMER PRESBYTERIAN CHURCH
UND DIE LEITER VON HOPE FOR NEW YORK,
IN TIEFER BEWUNDERUNG UND HOCHACHTUNG
INHALT
Einleitung: Warum dieses Buch?
Zur deutschen Ausgabe
Kapitel 1: Was heißt Gerechtigkeit üben?
Kapitel 2: Gerechtigkeit und das Alte Testament
Kapitel 3: Was hat Jesus über Gerechtigkeit gesagt?
Kapitel 4: Gerechtigkeit und mein Nächster
Kapitel 5: Warum sollen wir Gerechtigkeit üben?
Kapitel 6: Wie sollen wir Gerechtigkeit üben?
Kapitel 7: Gerechtigkeit im öffentlichen Diskurs
Kapitel 8: Friede, Schönheit und Gerechtigkeit
Danke!
Über den Autor
Anmerkungen
EINLEITUNG
Warum dieses Buch?
Als er aufstand, um aus der Heiligen Schrift vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Jesus öffnete sie, suchte eine bestimmte Stelle und las vor: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich berufen hat. Er hat mich gesandt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen. Ich rufe Freiheit aus für die Gefangenen, den Blinden sage ich, dass sie sehen werden, und den Unterdrückten, dass sie bald von jeder Gewalt befreit sein sollen …“ (Lukas 4,16-18)
Dies sind die Worte, die Jesus in der Synagoge in Nazareth vorlas, als er den Beginn seines Dienstes ankündigte. Er identifizierte sich mit dem von Jesaja verheißenen „Knecht des Herrn“, der „den Völkern mein Recht verkünden“ wird (Jesaja 42,1-7, LÜ). Die meisten Menschen wissen, dass Jesus kam, um Vergebung und Gnade zu bringen. Weniger bekannt ist die biblische Lehre, dass Männer und Frauen, die eine echte Erfahrung der Gnade Jesu Christi gemacht haben, unweigerlich dazu motiviert werden, sich für Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen.
Als ich an diesem Buch arbeitete, fragten mich Freunde: „Für wen schreibst du das?“ und: „Wie bist du dazu gekommen, dich für das Thema ‚Gerechtigkeit‘ zu interessieren?“ Die Antworten auf diese beiden Fragen sind eine gute Einführung in die Thematik dieses Buches.
Für wen ist dieses Buch?
Es gibt vier Arten von Menschen, von denen ich hoffe, dass sie dieses Buch lesen werden. Zunächst einmal jene zahlreichen jungen Christen, die auf den Ruf, den Bedürftigen zu helfen, begeistert antworten. In den USA ist heute das ehrenamtliche Engagement ein Markenzeichen einer ganzen Generation von Studierenden und solchen, die gerade ihr Studium abgeschlossen haben. Die NonProfit Times berichtet von „Rekordzahlen bei der Anmeldung zu ehrenamtlichen Programmen“. Alan Solomont, Aufsichtsratsvorsitzender der Corporation for National and Community Service, sagt, dass „[diese] jüngere Generation … sich mehr für den Dienst an der Allgemeinheit interessiert als andere Generationen“1. Das ehrenamtliche Engagement unter jungen Erwachsenen ging in den 1970er- und 1980er Jahren in den USA stark zurück, aber „die heutigen jungen Menschen sind in Schulen aufgewachsen, in denen soziales Engagement eher auf dem Lehrplan stand … sodass die jungen Leute heute viel früher an den Dienst an der Allgemeinheit herangeführt werden“2.
Als Pastor einer Kirche mit sehr vielen jungen Erwachsenen bekomme ich einiges von diesem Engagement für soziale Gerechtigkeit mit, aber ich erlebe auch viele, bei denen das soziale Engagement keine Auswirkungen auf ihr persönliches Leben hat. Es ändert nichts an der Art, wie sie ihr Geld für sich selbst ausgeben, wie sie ihre berufliche Karriere planen, auch nichts daran, in was für ein Viertel sie ziehen und wie sie dort wohnen oder wen sie sich als Freunde suchen. Und bei nicht wenigen kühlt die Begeisterung für das Ehrenamt im Laufe der Zeit merklich ab.
Die Jugendkultur, in der sie aufgewachsen sind, hat ihnen nicht nur eine emotionale Empfindsamkeit für soziale Gerechtigkeit gegeben, sondern auch ein Konsumdenken, das Selbstverleugnung und das Aufschieben von Befriedigung untergräbt. Die Jugendkultur in den westlichen Ländern ist nicht imstande, den tief greifenden Wechsel in unserem Lebensstil herbeizuführen, der nötig ist, wenn wir die Lage der Armen und Marginalisierten wirklich verändern wollen. Es gibt viele junge Erwachsene, die sowohl Christen sind als auch den Wunsch haben, Menschen in Not zu helfen, aber in deren Leben diese beiden Dinge nicht miteinander verbunden sind. Sie haben nicht darüber nachgedacht, was der Anspruch von Jesus, das Evangelium den Armen und Zerschlagenen zu bringen, für die verschiedenen Bereiche ihres Lebens bedeutet. In diesem Buch möchte ich versuchen, diese Verbindung zwischen Evangelium und Gerechtigkeit herzustellen.
Gerechtigkeit und die Bibel
Eine andere Gruppe, die dieses Buch hoffentlich lesen wird, reagiert auf das Thema „Gerechtigkeit üben“ traditionell mit einem gewissen Argwohn. Im 20. Jahrhundert gab es in den amerikanischen Kirchen eine Trennung zwischen den „Liberalen“, die die soziale Gerechtigkeit betonten, und den „Fundamentalisten“, die die persönliche Bekehrung hochhielten. Einer der Begründer der Social-Gospel-Bewegung war Walter Rauschenbusch, ein deutschstämmiger baptistischer Theologe, der als junger Pastor in den 1880er-Jahren eine Gemeinde am Rand des Armenviertels Hell’s Kitchen in New York übernahm. Die schreckliche Armut, die er dort unmittelbar kennenlernte, ließ ihn die traditionelle Praxis der Evangelisation hinterfragen, die sich für die Rettung von Seelen aufopferte, aber nichts an den sozialen Systemen änderte, die die Menschen zu einem Leben in Armut verdammten. Rauschenbusch fing an, für „Seele und Leib“ der Menschen zu sorgen, doch mit diesem Wechsel in den Methoden ging ein Wechsel in der Theologie einher. Rauschenbusch verwarf das überkommene Bibelverständnis und die traditionelle Versöhnungslehre. Er lehrte, dass Jesus nicht auf die Erde gekommen war, um der Gerechtigkeit Gottes Genüge zu tun, und dass sein Kreuzestod daher lediglich ein besonderes Beispiel für Selbstlosigkeit war.3
Stimmen wie Rauschenbusch haben dazu geführt, dass in den Köpfen vieler Christen, die an den klassischen christlichen Glaubensüberzeugungen festhalten wollen, das Stichwort „Gerechtigkeit üben“ untrennbar verbunden ist mit dem Verlust gesunder Lehre und geistlicher Dynamik. Ganz anders sah das z.B. der amerikanische Theologe und kongregationalistische Pfarrer Jonathan Edwards (1703-1758), Autor der Predigt „Sinners in the Hands of an Angry God“ [Sünder in der Hand eines zornigen Gottes], der ein strikter Calvinist war und wohl kaum als „Liberaler“ bezeichnet werden kann. In seiner Schrift über „The Duty of Charity to the Poor“ [Warum ein Christ barmherzig zu den Armen sein muss] kommt er zu dem Schluss: „Wo gibt es in der ganzen Bibel ein Gebot, das eindrücklicher, kategorischer und dringlicher formuliert ist als das Gebot, den Armen zu geben?“4
Im Gegensatz zu Rauschenbusch argumentiert Edwards, dass man sich von der klassischen biblischen Erlösungslehre nicht zu verabschieden braucht, um den Armen zu dienen. Ganz im Gegenteil: Der diakonische Dienst ergibt sich direkt aus der klassischen evangelischen Lehre. Für Edwards gehörten Engagement für die Armen und klassische biblische Lehre untrennbar zusammen. Diese Kombination ist heute relativ selten, doch sie sollte es nicht sein. Ich schreibe dieses Buch für Menschen, die noch nicht sehen, was Edwards sah: Wenn Gottes Geist uns erkennen lässt, was Christus für uns getan hat, ist das Ergebnis unweigerlich ein Leben, das sich im Üben von Gerechtigkeit und in barmherziger Liebe zu den Armen verströmt.5
Eine dritte Gruppe, die sich hoffentlich von diesem Buch ansprechen lässt, sind jene jüngeren Evangelikalen, die im Rahmen eines „erweiterten Dienstauftrags“ neben die Evangelisation die soziale Gerechtigkeit stellen.6 Viele von ihnen haben sich nicht nur von älteren Formen der Verkündigung und des Dienstes abgewandt, sondern auch von solchen traditionellen Lehren wie dem stellvertretenden Sühneopfer Jesu und der Rechtfertigung allein durch den Glauben, die sie als zu „individualistisch“ sehen.7 Diese Autoren fordern oft, dass es zu Änderungen in den theologischen Gewichtungen, wenn nicht gar in der theologischen Lehre kommen muss, wenn die Kirche sich mehr für soziale Gerechtigkeit engagieren soll. In diesem Buch ist nicht der Raum für eine Analyse dieser Debatten über die Sühne- und Rechtfertigungslehre, doch eines seiner Hauptanliegen ist es aufzuzeigen, dass eine solche Umdeutung der christlichen Lehre nicht nur in sich falsch, sondern auch schlicht unnötig ist. Die traditionellsten Formulierungen evangelischer und evangelikaler Überzeugungen führen, wenn sie richtig verstanden werden, den Gläubigen wie von selber zu einem Lebensstil, der in der Welt Gerechtigkeit übt.
Es gibt noch eine vierte Gruppe von Menschen, für die dieses Buch von Interesse ist. In der letzten Zeit gibt es immer mehr Bücher und Diskussionsbeiträge im Internet, die behaupten, dass, um Christopher Hitchens zu zitieren, „Religion die Welt vergiftet“.8 Religion im Allgemeinen und die christliche Kirche im Besonderen werden hier als eine Hauptquelle von Ungerechtigkeit und Gewalt auf unserem Planeten gesehen. Für solche Leute ist die Vorstellung, dass der Glaube an den Gott der Bibel notwendigerweise zu mehr Engagement für Gerechtigkeit führt, schlicht absurd. Aber, wie wir noch sehen werden, die Bibel ist von der ersten bis zur letzten Seite ein Buch, in dem Gerechtigkeit in der Welt großgeschrieben wird. Und sie belässt es dabei nicht bei der bloßen Aufforderung, Gerechtigkeit zu üben, sondern sie gibt uns alles, was wir brauchen – Motivation, Anleitung, innere Freude und Kraft –, um ein gerechtes Leben zu führen.
Ich habe vier Gruppen von Lesern beschrieben, die auf den ersten Blick ganz unterschiedlich aussehen. Aber so verschieden sind sie gar nicht. Ihnen allen fehlt irgendwo der Blick dafür, dass das biblische Evangelium von Jesus notwendig und nachdrücklich zum Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt führt. Das Eintreten für Gerechtigkeit in allen Bereichen des Lebens ist weder ein Widerspruch zur Botschaft der Bibel noch eine künstliche Hinzufügung zu ihr.
Warum interessiere ich mich für Gerechtigkeit?
Wie bin ich persönlich zu diesem Thema gekommen? Gerechtigkeit zu üben war in meiner Kindheit kein besonderes Thema für mich. In meiner Schulzeit mied ich das einzige Kind, das ich gut kannte und das arm war – Jeffrey, ein Junge in meiner Klasse in der Grund- und Mittelschule, der „unter der Brücke der Achten Straße“ wohnte. In der strengen sozialen Hierarchie meiner Schule gab es zwei Gruppen: die coolen Insider und die uncoolen Outsider. Ja, und dann gab es noch Jeffrey – eine Kategorie für sich. Er trug schlecht sitzende Kleidung aus Secondhandläden und roch streng. Er wurde gnadenlos gehänselt, war bei Spielen und Gesprächen ausgeschlossen und hatte selbst im Unterricht das Nachsehen, da bei Projekten und Aufgaben kaum jemand mit ihm zusammenarbeiten wollte. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich ihn meistens mied, da ich zu den Uncoolen gehörte und darauf hoffte, zu den Coolen aufzusteigen. Anstatt mich mit Jeffrey zu identifizieren und zu sehen, wie schlimm und ungerecht es war, dass jemand so behandelt wurde, wandte ich mich gegen den einzigen Mitschüler, der noch mehr ein Außenseiter war als ich.9
Als ich dann Ende der 1960er-Jahre mein College-Studium begann, wurde ich Teil einer Studentengeneration, die von der Bürgerrechtsbewegung fasziniert war. Ich hörte von der systematischen Gewalt gegen Schwarze und Bürgerrechtler in den Südstaaten der USA. Ich weiß noch, wie schockiert ich von den Bildern war, die zeigten, wie der junge schwarze Bürgerrechtler James Meredith 1966 während eines Stimmrecht-Marsches am helllichten Tag angeschossen wurde; auf einem der Fotos sah man das ungerührte Gesicht des Täters. Ich verstand nicht, wie eine ganze Gesellschaft etwas so Ungerechtes wie die Rassentrennung auch noch mit Scheinargumenten verteidigen konnte. Zum ersten Mal erkannte ich, dass die meisten älteren weißen Erwachsenen in meinem Leben Ansichten vertraten, die völlig falsch waren. Das Problem waren nicht „ein paar Unruhestifter“, sondern die Schwarzen wurden ungerecht behandelt und hatten ein Recht auf Wiedergutmachung und Reformen.
„Eigentlich bist du ein Rassist“
Ich war mit (und in) der Kirche aufgewachsen, aber als ich studierte, verlor das Christentum für mich seine Anziehungskraft. Einer der Gründe dafür war, dass ich es nicht auf die Reihe brachte, dass meine nichtreligiösen Freunde für die Bürgerrechtsbewegung eintraten, während viele gläubige Christen in Martin Luther King, Jr. eine Bedrohung für das Land sahen. Warum, so fragte ich mich, glaubten die Nichtchristen so leidenschaftlich an gleiche Rechte und Gerechtigkeit, während den Frommen, die ich kannte, diese Dinge egal waren?
Der Durchbruch kam, als ich eine kleine, aber kritisch nachdenkende Gruppe hingegebener Christen entdeckte, die ihren Glauben auf alle Facetten der Gerechtigkeit in der Gesellschaft anwandten. Zuerst „importierte“ ich einfach meine neuen Positionen zur Rassengerechtigkeit in die Theologie, die ich mir als Christ aneignete. Ich sah damals noch nicht das, was ich später erkannte: dass die Bibel selber ja das absolute Fundament für Gerechtigkeit bildet. Ich lernte, dass die Idee der Menschenrechte in den westlichen Ländern letztlich auf den biblischen Schöpfungsbericht zurückgeht10 und dass die biblischen Prophetenbücher voll von Aufrufen zu mehr Gerechtigkeit sind. Jahre später entdeckte ich dann, dass die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 1950er- und 60er-Jahre ja viel stärker in der Sünden- und Erlösungslehre der afroamerikanischen Kirchen gründete als im Säkularismus.11
Als ich dann Theologie studierte, um Pastor zu werden, lernte ich einen afroamerikanischen Mitstudenten kennen, Elward Ellis, der sich sowohl mit mir als auch mit meiner künftigen Ehefrau, Kathy Kristy, anfreundete. Er gab uns eine ebenso freundliche wie brutal ehrliche Einführung in die Realitäten der Ungerechtigkeit in der amerikanischen Kultur. „Eigentlich bist du ein Rassist“, sagte er einmal an unserem Küchentisch. „Du willst zwar keiner sein und das nehme ich dir ab, aber du bist einer, das ist nun mal so.“ Er sagte zum Beispiel auch: „Wenn Schwarze etwas auf eine besondere Art machen, sagt ihr: ‚Das ist halt eure Kultur.‘ Aber wenn die Weißen etwas auf eine besondere Art machen, sagt ihr: ‚So macht man das richtig‘. Ihr merkt gar nicht, dass ihr ja auch eine Kultur habt. Ihr seid blind dafür, wie viele eurer Einstellungen und Praktiken kulturell bedingt sind.“ Kathy und ich begannen zu sehen, wie wir auf hundert Arten unsere kulturelle Brille zu einem moralischen Prinzip erhoben und dann Menschen anderer Rassen als minderwertig abtaten. Elward hatte recht – so sehr, dass wir ihm zu unserer eigenen Überraschung zustimmten.
Während meiner ersten Stelle als Pastor in Hopewell (Virginia) beschloss ich, eine Doktorarbeit zu schreiben. Darin ging es um die Ausbildung von Diakonen. In den presbyterianischen Kirchen gibt es traditionell zwei Ehrenämter: die Ältesten und die Diakone. Die Diakone hatten ursprünglich die Aufgabe gehabt, sich um die Armen und Bedürftigen in der Gemeinde zu kümmern, doch im Laufe der Jahre ging dieses Erbe verloren und die Diakone wurden zu Hausmeistern und Kassenwarten. Mein Mentor gab mir die Aufgabe, die Geschichte des Diakon-Amtes zu studieren und mir zu überlegen, wie die presbyterianischen Kirchen diesen verloren gegangenen Aspekt ihres Gemeindelebens wiederbeleben könnten.
Ich schrieb die Arbeit, und das setzte einen Veränderungsprozess in mir in Gang. Ich ging in den Fachbereich für Sozialarbeit einer nahe gelegenen Universität, besorgte mir die Lektüreliste für die Einführungsseminare und verschlang sämtliche dort angegebenen Bücher. Ich stellte historische Forschungen an, wie in europäischen Städten wie Genf, Amsterdam und Glasgow Diakone praktisch die ersten öffentlichen Sozialdienste bildeten. Ich entwarf Fortbildungskurse für Diakone und verfasste Materialien, um Gemeindeleitern zu helfen, eine Vision nicht nur für den „Dienst des Wortes“ (Predigt und Lehre) zu bekommen, sondern auch für den „Dienst der Tat“ an Menschen, die in materiellen Nöten stecken.12
Nach meiner Zeit als Pastor in Virginia wurde ich Dozent am Westminster Seminary in Philadelphia. In meinem Fachbereich gab es vier Fakultätsmitglieder, die in der Innenstadt wohnten und Kurse über kirchliche Großstadtarbeit gaben. Wenn die wöchentliche Fakultätssitzung war, erschien ich immer etwas früher, sodass ich mich eine Viertelstunde alleine mit dem Fakultätsleiter, Harvie Conn, unterhalten konnte. Harvie war es ein leidenschaftliches Anliegen, in der Innenstadt zu wohnen und zu arbeiten, und er hatte ein scharfes Auge für die systembedingte Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Heute, im Rückblick, ist mir klar, dass ich viel mehr von ihm gelernt habe, als ich damals merkte. Sein kleines Buch Evangelism: Doing Justice and Preaching Grace13, das ich damals, vor jetzt über 25 Jahren, las, hat mein Denken über Gott und die Kirche tief geprägt.
Durch das, was ich von Harvie lernte, und meine diversen Erfahrungen in der städtischen Gemeindearbeit in Philadelphia in den 1980er-Jahren inspiriert und geprägt, nahm ich 1989 den Ruf an, in die Mitte von New York City zu ziehen, um dort eine neue Gemeinde zu gründen, die Redeemer Presbyterian Church.
Gnade und Gerechtigkeit
Es gibt viele große Unterschiede zwischen dem kleinen Hopewell in Virginia und der Riesenmetropole New York, aber es gab eines, das in beiden Städten exakt das Gleiche war. Ich habe überrascht festgestellt, dass es offenbar eine direkte Beziehung gibt zwischen dem Verständnis und der persönlichen Erfahrung, die jemand von der Gnade Gottes hat, und dem Herzen, das dieser Mensch für die Gerechtigkeit und die Armen hat. In beiden Städten predigte ich die klassische biblische Botschaft, dass Gott uns nicht das gibt, was wir verdient haben, sondern uns durch seine freie Gnade rettet – und entdeckte, dass die Hörer, die diese Botschaft am stärksten verinnerlichten, die feinste Antenne für die sozialen Ungerechtigkeiten in ihrem Umfeld entwickelten. Ein Mann in meiner Gemeinde in Hopewell, Easley Shelton, erlebte eine tief greifende persönliche Umwandlung. Er wurde frei von einer sterilen moralistischen Lebenseinstellung und begann zu begreifen, dass seine Erlösung auf der kostenlosen, unverdienten Gnade Jesu beruhte. Dies gab ihm eine neue Wärme, Freude und Zuversicht, die für jedermann sichtbar waren, aber es hatte noch einen zweiten, überraschenden Effekt. „Weißt du“, eröffnete er mir eines Tages, „ich bin mein ganzes Leben ein Rassist gewesen.“ Ich war überrascht, denn ich hatte in dieser Gemeinde noch nicht über dieses Thema gepredigt. Er war von alleine darauf gekommen. Als er seine pharisäische Selbstgerechtigkeit verlor, verlor er auch seinen Rassismus.
Elaine Scarry aus Harvard hat ein faszinierendes kleines Buch mit dem Titel On Beauty and Being Just [Über die Schönheit und das Gerechtsein] geschrieben,14 in dem sie behauptet, dass die Erfahrung des Schönen uns weniger ichbezogen und offener für die Gerechtigkeit macht. Ich habe im Laufe der Jahrzehnte immer wieder beobachten können, dass dann, wenn Menschen die Schönheit der Gnade Gottes in Christus sehen, dieses Erlebnis sie mit Macht zur Gerechtigkeit hinführt.
Dieses Buch richtet sich also sowohl an den Gläubigen, der die Bibel als vertrauenswürdigen Führer zu Gott sieht, als auch an den Skeptiker, der sich fragt, was die Welt denn vom Christentum hat. Ich möchte den Rechtgläubigen zeigen, wie zentral für die Botschaft der Bibel das Thema der Gerechtigkeit für die Armen und der Marginalisierten ist. Denen, die nicht an das Christentum glauben, möchte ich Mut machen, die Bibel nicht als einen repressiven Text zu sehen, sondern als das Fundament der Menschenrechte, wie wir sie heute verstehen. Jedes der Kapitel dieses Buches werde ich mit einem direkt der Bibel entnommenen Aufruf zur Gerechtigkeit beginnen und dann zeigen, wie diese Worte das Fundament eines gerechten, großzügigen menschlichen Gemeinwesens werden können. Ich bilde mir nicht ein, jeden Leser überzeugen zu können, aber ich hoffe, dass ich vielen von ihnen eine neue Art des Denkens über Bibel, Gerechtigkeit und Gnade vorstellen kann.
Zur deutschen Ausgabe
„Dies ist vielleicht mein ‚amerikanischstes‘ Buch – ihr müsst schauen, ob es für euren Kontext passt“. Diese Bedenken äußerte Tim Keller, als wir am Rand der City-to-City-Europa-Konferenz in Berlin 2011 über dieses Buch sprachen. Wir haben geschaut – und wir sind der Meinung: Es passt! Natürlich ist gerade im Sozialsystem in Amerika vieles anders als in Deutschland. Viele (vielleicht die meisten) Gedanken in diesem Buch sind aber nicht vom kulturellen Kontext abhängig, besonders natürlich die Darstellung der biblischen Aussagen zum Thema Gerechtigkeit. Wenn es um die konkrete Umsetzung dieser Prinzipien geht, um Beispiele oder um Autoren, auf die Tim Keller sich bezieht, wird natürlich deutlich: Tim Keller ist Amerikaner, er lebt in Manhattan und nicht in Berlin oder Frankfurt. Allerdings sind viele politischen oder sozialen Verhältnisse zwar nicht gleich, aber doch so ähnlich, dass wir sie problemlos auf unsere Situation übertragen können – z.B. wenn es um die unterschiedlichen Ideologien der politischen Parteien geht: Während die „Konservativen“ allgemein eher auf Eigenverantwortung und Werte setzen, sind es in Amerika die „Liberalen“, also die „Demokraten“, die eher die ungerechten Verhältnisse verantwortlich machen. Bei uns träfe das eher auf das „linke“ Parteienspektrum zu, während unsere „Liberalen“ diesbezüglich eher „rechts“ einzuordnen wären – die konkreten Verhältnisse sind anders, es gibt sicher unterschiedlich deutliche Ausprägungen, aber im Grundsätzlichen doch Parallelen (dort, wo im Original „liberal“ steht, ist dies in der deutschen Ausgabe deshalb meist mit „links“ wiedergegeben). Ähnliches gilt, wenn Tim Keller von Rassenproblemen spricht. Während es in Amerika vor allem um den Konflikt zwischen Schwarz und Weiß geht, haben wir in Deutschland bezogen auf das Thema des „Rassismus“ unsere ganz eigene Geschichte. Viele Deutsche (von den unverbesserlichen Neonazis abgesehen) werden heute vielleicht sagen, dass dieses Problem die Eltern- bzw. Großelterngeneration betraf, sie selber davon aber ein für alle Male geheilt sind. Aber wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, lassen sich Tim Kellers Ausführungen zum Rassismus ohne größere Schwierigkeiten auf unsere Herausforderungen bei der Integration von Migranten der verschiedensten ethnischen Hintergründe anwenden.
Und wenn Tim Keller von Jonathan Edwards erzählt, um deutlich zu machen, dass soziale Gerechtigkeit sich zwangsläufig aus klassischen evangelischen Überzeugungen ergibt und dass Gerechtigkeit und die Verkündigung des Evangeliums zusammengehören, dann gibt es hierfür natürlich auch in Deutschland leuchtende Vorbilder. Um nur die zwei vielleicht bedeutendsten herauszuheben: Nachdem August Hermann Francke (1663-1727) sich 1687 bekehrt hatte, engagierte er sich nicht nur für eine Reform der Kirche und des Theologiestudiums und für die Außenmission – sondern nahm sich auch der Armenfürsorge an und gründete ein Waisenhaus und eine Armenschule mit dem Ziel einer umfassenden Gesellschaftsreform. In seinem Todesjahr lebten und lernten in den „Hallischen Anstalten“ 3000 Menschen.15 Im 19. Jahrhundert war es Johann Hinrich Wichern (1808-1881), der in Deutschland die soziale Dimension des Evangeliums angesichts des Elends der Arbeiter in der frühen Zeit der Industrialisierung neu ins Bewusstsein rückte.16 Wichern regte 1848 die Gründung der „Inneren Mission“ an, woraus später das „Diakonische Werk der EKD“ wurde, und wollte ganz bewusst beides: Die Wiedergewinnung der der Kirche entfremdeten Massen und soziale Reform.17 Soziales Engagement und Verkündigung des Evangeliums gehören zusammen – und in Kapitel 618, wo es um dieses Thema geht, geht es nicht um etwas Neues, was andere nicht schon vorher gesagt hätten – es ist nur leider, auch in Deutschland, immer wieder in Vergessenheit geraten, dass soziales und diakonisches Engagement einerseits und die Verkündigung des Evangeliums andererseits zusammengehören. Umso wichtiger, es neu zu entdecken und entsprechend zu handeln!
Sicher nicht „eins zu eins“ übertragbar ist die Situation der Kirchen – zumindest nicht dort, wo es bei uns in Deutschland noch starke volkskirchliche Strukturen gibt. Und wir Deutschen mögen einwenden, dass es ja bereits eine etablierte „Diakonie“ gibt, und vielleicht denken, dass das, was Tim Keller in diesem Buch fordert, bei uns ja schon lange umgesetzt ist. Und natürlich ist unser Gesundheitssystem ein ganz anderes als in Amerika, und vielleicht ist bei uns auch die staatliche Strafverfolgung unparteiischer, als Tim Keller dies für Amerika skizziert. Hier müssen wir das, was er sagt, auf unsere Situation übertragen, und vielleicht besteht gerade in unserem Kontext die Gefahr, dass wir uns auf einer organisierten Diakonie und dem Sozialstaat ausruhen. Die Frage, wo Gemeinden und Christen gefordert sind, sich der Nöte ihrer Mitmenschen anzunehmen, und wo sie aktiv werden können zum Wohle der Gesellschaft (und dies auch auf „unbürokratische Weise“) müssen sie sich immer wieder neu stellen – weil die Herausforderungen sich ständig ändern. Vielleicht lässt uns gerade dieses „amerikanische“ Buch einmal unsere „Sozialstaat-Mentalität“, in der es für jedes Problem eine „zuständige Stelle“ gibt, hinterfragen. Wenn wir mit offenen Augen durch unsere Städte und Dörfer gehen, werden wir sehen, dass es viele Menschen und viele gesellschaftliche Probleme gibt, für die sich niemand „zuständig“ fühlt. Und vielleicht werden wir dann merken, wo wir diese „zuständige Stelle“ sind.
Uwe Bertelmann, Lektor
Kapitel 1
Was heißt Gerechtigkeit üben?
Der Herr hat euch doch längst gesagt, was gut ist! Er fordert von euch nur eines: Haltet euch an das Recht, begegnet anderen mit Güte, und lebt in Ehrfurcht vor eurem Gott! (Micha 6,8)
„Ich wusste nicht, wer mich zuerst erschießen würde“
Kürzlich besuchte ich Heather, eine Frau, die zu meiner Gemeinde in New York City gehört. Nach ihrem Jurastudium an der Harvard Law School bekam sie eine lukrative Stelle in einer großen Anwaltskanzlei in Manhattan. Es war das, was man einen Traumjob nennt. Sie war eine dynamische Unternehmensanwältin, sie genoss das quirlige Leben einer Weltstadt – aber irgendwie blieb sie unbefriedigt. Sie wollte etwas bewegen im Leben von Menschen und dachte an die vielen in unserer Gesellschaft, die sich die Honorare, die ihre Klienten ihrer Firma zahlten, nicht leisten konnten. Schließlich nahm sie, zu einem Bruchteil ihres bisherigen Gehalts, eine Stelle in der Bezirksstaatsanwaltschaft von New York County an, wo es bei sehr vielen der Delikte, die sie strafrechtlich verfolgt, um die Ausbeutung der Armen (vor allem armer Frauen) geht.
Als ich Mitte der 1980er-Jahre Dozent in einem theologischen Seminar war, war einer meiner Studenten ein junger Mann namens Mark Gornik. Eines Tages, als wir beide am Kopierer standen, erzählte er mir, dass er demnächst nach Sandtown umziehen würde, eines der ärmsten und gefährlichsten Viertel in Baltimore. Ich war ziemlich überrascht und fragte ihn, warum er das machte. Er antwortete: „Um Gerechtigkeit zu üben.“ Seit Jahrzehnten war kein Weißer mehr nach Sandtown gezogen, und die ersten beiden Jahre war das Leben für Mark dort heftig. Er berichtete einem Reporter: „Die Polizei hielt mich für einen Drogendealer, und die Drogendealer dachten, ich sei ein Polizist. In der ersten Zeit wusste ich nie, wer mich als Erster erschießen würde.“ Doch im Laufe der Jahre konnte Mark zusammen mit führenden Persönlichkeiten des Stadtteils dort eine Gemeinde gründen und eine umfassende Arbeit beginnen, die den Stadtteil langsam, aber sicher verändert hat.19
Heather wie Mark lebten beide sicher und komfortabel. Beide entdeckten sie ihr Herz für die ärmsten, schutzlosesten und marginalisiertesten Glieder unserer Gesellschaft und brachten langfristig persönliche Opfer, um diesen Menschen und ihren Interessen, Bedürfnissen und Anliegen zu dienen.
Das meint die Bibel, wenn sie davon spricht, „Gerechtigkeit zu üben“.
Gerechtigkeit ist Einsatz für die Schutzlosen
Micha 6,8 fasst zusammen, wie wir „in Ehrfurcht (oder, nach anderen Übersetzungen, ‚demütig‘ oder ‚bescheiden‘) vor unserem Gott“ leben sollen. Es bedeutet, ihn gut zu kennen und auf das zu achten, was er will und liebt. Und was ist das, was er will? Der Text sagt: „Haltet euch an das Recht, begegnet anderen mit Güte“, was auf den ersten Blick wie zwei verschiedene Dinge aussieht, aber sie sind nicht verschieden.20 „Güte“ ist die Übersetzung des hebräischen chesedh, das für Gottes bedingungslose Gnade und Barmherzigkeit steht. Und für „Recht“ steht im Hebräischen mishpat. In Micha 6,8 „betont mishpat die Handlung, während chesedh die Haltung [oder das Motiv] hinter der Handlung betont.“21 Um mit Gott zu leben, müssen wir Gerechtigkeit üben, die aus barmherziger Liebe entspringt.
Das Wort mishpat kommt in seinen verschiedenen grammatischen Formen über 200-Mal im hebräischen Alten Testament vor. Seine Grundbedeutung ist: Menschen gerecht bzw. fair behandeln. So warnt 3. Mose 24,22 die Israeliten: „Für alle, ob Einheimische oder Migranten, soll das gleiche Recht [mishpat] gelten.“ Mishpat heißt, dass jeder aufgrund der Umstände seines Falles zu bestrafen oder freizusprechen ist, ohne Rücksicht auf seine Rasse oder seinen sozialen Status. Wer die gleiche Straftat begangen hat, soll auch die gleiche Strafe empfangen. Aber mishpat bedeutet mehr als das Bestrafen von Vergehen. Es bedeutet auch, den Menschen ihre Rechte zu gewähren. In 5. Mose 18 wird festgelegt, dass ein bestimmter Teil des Einkommens der Israeliten an die Priester zu gehen hat, die den Dienst in der Stiftshütte tun. Dies ist „das Recht [mishpat] der Priester“ (5. Mose 18,3, LÜ) – das, was ihnen zusteht. Und in Sprüche 31,9 lesen wir: „Schaffe Recht [mishpat] dem Elenden und dem Armen“ (LÜ). Mishpat heißt also, den Menschen das zu geben, was ihnen zusteht, ob dies nun eine Strafe ist oder Schutz oder Fürsorge.
An den Stellen, wo das Wort im Alten Testament vorkommt, werden immer wieder mehrere ganz bestimmte Gruppen von Menschen erwähnt. Wieder und wieder bedeutet mishpat, dass man sich der Witwen und Waisen, der Migranten und der Armen annimmt – der Menschen, die auch das „Quartett der Schutzlosen“ genannt worden sind.22
Durch die Propheten schärfte ich ihnen ein: „Fällt gerechte Urteile! Geht liebevoll und barmherzig miteinander um! Die Witwen und Waisen, die Armen und die Migranten sollt ihr nicht unterdrücken. “ (Sacharja 7,9-10)23
In vormodernen, agrarischen Kulturen hatten diese vier Gruppen keine gesellschaftliche Macht. Sie lebten nahe am Existenzminimum und waren im Falle von Hungersnöten, Invasionen oder auch nur kleineren sozialen Unruhen nur Tage vom Verhungern entfernt. Heute müssten wir dieses Quartett durch Flüchtlinge, Arbeitsmigranten, Obdachlose und zahlreiche alleinerziehende Elternteile sowie viele ältere Menschen ergänzen.
Die mishpat oder Gerechtigkeit einer Gesellschaft bemisst sich nach der Bibel danach, wie sie diese Gruppen behandelt. Jede Vernachlässigung der Bedürfnisse von Gliedern dieses Quartetts ist für die Bibel nicht nur ein Mangel an Gnade und Barmherzigkeit, sondern eine Verletzung der Gerechtigkeit, der mishpat. Gott liebt und verteidigt die Menschen mit der geringsten ökonomischen und gesellschaftlichen Kraft, und wir sollten dies auch tun. Das ist gemeint mit „Gerechtigkeit üben“.
Gerechtigkeit spiegelt das Wesen Gottes
Warum sollten uns die Schutzlosen wichtig sein? Weil sie Gott wichtig sind. Schauen wir uns die folgenden beiden Bibeltexte an:
Den Unterdrückten verschafft er Recht [mishpat], den Hungernden gibt er zu essen, und die Gefangenen befreit er. Der Herr macht die Blinden wieder sehend und richtet die Niedergeschlagenen auf. Er bietet den Migranten Schutz und versorgt die Witwen und Waisen. (Psalm 146,7f.)
Den Waisen und Witwen verhilft er (der Herr) zu ihrem Recht [mishpat]. Er liebt die Migranten und gibt ihnen Nahrung und Kleidung. (5. Mose 10,17-18)
Es ist erstaunlich, wie oft die Bibel uns Gott als den Anwalt dieser verschiedenen Gruppen von Hilfsbedürftigen vorstellt. Wenn jemand mich fragt: „Wie möchten Sie den Leuten vorgestellt werden?“, antworte ich gewöhnlich: „Sagen Sie ihnen, dass ich Timothy Keller bin, Pastor der Redeemer Presbyterian Church in New York City.“ Ich bin natürlich noch vieles andere, aber meine Haupttätigkeit, meine öffentliche Identität, ist, dass ich Pastor bin. Es ist hoch bedeutsam, dass die Verfasser der Bibel Gott als „Vater der Waisen“ und „Anwalt der Witwen“ (Psalm 68,6) vorstellen. Dies ist eine seiner Haupttätigkeiten in der Welt. Er identifiziert sich mit den Machtlosen, er nimmt sich ihrer Sache an.
Wir können uns kaum vorstellen, wie revolutionär dies in der Welt der Antike war. Vinoth Ramachandra, ein Gelehrter aus Sri Lanka, nennt es „skandalöse Gerechtigkeit“. Er schreibt, dass in praktisch allen antiken Kulturen die Eliten der Gesellschaft die Kanäle der Macht der Götter waren. Die Götter identifizierten sich mit den Königen, Priestern und Heerführern, aber nicht mit den Ausgestoßenen. Wer sich gegen die Eliten stellte, stellte sich gegen die Götter. „Aber hier, in Israels Gegenentwurf“, sind es nicht die ranghohen Männer, sondern „die Waisen, die Witwen und die Migranten“, zu denen Jahwe steht. „Auf ihre Stärkung zielt die Ausübung seiner Macht in der Geschichte der Menschen.“24 Von alters her also ist der Gott der Bibel, anders als die Götter aller anderen Religionen, ein Gott, der für die Machtlosen eintritt und den Armen zu ihrem Recht verhilft.
Ist Gott auf der Seite der Armen?
Diese biblische Linie hat manche, so zum Beispiel den lateinamerikanischen Theologen Gustavo Gutiérrez, von einer „Option für die Armen“ sprechen lassen.25 Auf den ersten Blick scheint dies falsch zu sein, vor allem im Lichte von Stellen im mosaischen Gesetz, die vor einer Bevorzugung der Reichen oder der Armen warnen (3. Mose 19,15; 5. Mose 1,16-17). Aber die Bibel nennt Gott oft den Anwalt der Armen, aber nie den Anwalt der Reichen, und es gibt zwar Bibelstellen, die Gerechtigkeit auch für die Glieder der höhergestellten Klassen fordern, aber hundert Mal so viele Stellen, die dazu aufrufen, sich der Sache des Armen anzunehmen.
Warum ist dies so? Ohne Zweifel kann man auch Reiche ungerecht behandeln, aber, wie der Philosoph Nicholas Wolterstorff schreibt, es ist Tatsache, dass die unteren Gesellschaftsklassen „nicht nur überproportional in Gefahr stehen, Unrecht zu erleiden, sondern meist auch überproportional oft tatsächlich Opfer von Ungerechtigkeit werden. Die Ungerechtigkeit ist nicht gleichmäßig verteilt.“26 Es leuchtet ein, dass es leichter ist, Menschen ungerecht zu behandeln, die nicht das Geld und den gesellschaftlichen Status haben, um sich zu wehren. Die Armen können sich nun einmal keine Staranwälte leisten, wie meine Freundin Heather nur zu gut weiß. Sie sind häufiger Opfer von Raubüberfällen, eine der häufigsten Arten von Ungerechtigkeit. Und Polizei und Strafvollzug reagieren, zumindest in den USA, oft viel schneller und gründlicher auf Gewalt gegen die Reichen als auf Gewalt gegen die Armen. Wolterstorff kommt zu dem Schluss: „Man muss sich überlegen, wo die größten Ungerechtigkeiten und die größte Schutzlosigkeit sind … und dann seine Aufmerksamkeit auf diese Bereiche konzentrieren.“27 Kurz: Da die meisten der Menschen, die Opfer von Willkür und Machtmissbrauch sind, Menschen sind, die wenig eigene Macht und keine Lobby haben, widmet Gott ihnen seine besondere Aufmerksamkeit und gibt ihnen einen besonderen Platz in seinem Herzen. Er sagt:
Du aber tritt für die Leute ein, die sich selbst nicht verteidigen können! Schütze das Recht der Hilflosen! (Sprüche 31,8)
Wenn zu Gottes Wesen eine Leidenschaft für Gerechtigkeit gehört, die ihn den Schwachen in der Gesellschaft mit der größten Liebe und dem tiefsten Engagement begegnen lässt, wie sollten dann seine Leute sein? Sie müssen Menschen sein, die genauso leidenschaftlich für die Armen und Schutzbedürftigen eintreten. Mit den folgenden Bibeltexten pflanzt Gott sein Eintreten für Gerechtigkeit in das innerste Herz des Gottesdienstes und der Gesellschaft Israels ein:
„ Verflucht ist, wer Migranten, Waisen oder Witwen vor Gericht ihr Recht verweigert.“ [Und das Volk antwortet:] „So soll es sein!“ (5. Mose 27,19)
So spricht der Herr: „Sorgt für Recht und Gerechtigkeit! Helft den Menschen, die beraubt und unterdrückt werden. Den Migranten, Waisen und Witwen tut keine Gewalt an, und übervorteilt sie nicht! Hört auf, hier vor Gericht unschuldige Menschen hinzurichten.“ (Jeremia 22,3)
Israel war herausgefordert, eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit für die Armen und Schutzlosen zu schaffen, weil es so der Welt Gottes Herrlichkeit und sein Wesen offenbaren sollte. Ein Schlüsseltext ist hier 5. Mose 4,6-8, wo Gott Israel zum Halten seiner Gebote auffordert, damit die Völker der Welt den Frieden und die Gerechtigkeit seiner Gesellschaft sehen und so Gottes Weisheit und Herrlichkeit erkennen und davon angezogen werden.28
Dies ist der Grund dafür, dass Gott sagen kann, dass wir dann, wenn wir den Armen entehren, ihn, Gott, selber beleidigen, und wenn wir den Hilflosen beistehen, wir ihn ehren (Sprüche 14,31). Wenn wir als Gläubige nicht auf das Schreien und Bitten der Armen hören, verweigern wir, zu welchen Glaubensüberzeugungen auch immer wir uns bekennen mögen, Gott die Ehre, weil wir seine Schönheit vor den Augen der Welt verdunkeln. Wenn wir uns dagegen im Dienst für die Armen hingeben, merkt die Welt auf. Auch wenn die Christen zunächst nur eine kleine Minderheit im Römischen Reich waren, verschaffte ihre bemerkenswerte Nächstenliebe gegenüber den Armen ihnen hohes Ansehen im Volk. Wenn wir Gott ehren wollen, müssen wir uns der Armen und Bedrängten annehmen (Jeremia 22,16).
Gerechtigkeit heißt: richtige Beziehungen
tzedaqah,29