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Brigitte Troeger

Florence Nightingale

Brigitte Troeger

Florence Nightingale

Der Engel der Verlassenen

Biografische Erzählung

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Die Zeichnung Seite 7 zeigt Florence Nightingale als Mädchen,
gezeichnet von ihrer Schwester Parthenope.

Inhalt

Die Personen

Auf dem Landschloss

Wilder Schwan im Ententeich

Lieber sterben als in diesen langweiligen Salons herumsitzen!

Mit der Kutsche durch Europa

Zum Nichtstun verurteilt

Der Stimme des Herzens folgen

Gute Freunde

Die Liebe, aber …

Schönes Kaiserswerth

Ich wünsche mir keine andere Welt als diese hier

Ein Adler muss fliegen dürfen

Kriegsgeschrei

Die Überfahrt

In der Hölle von Skutari

Die Lady mit der Lampe

Die Heerestruppe Nightingale

Was heißt hier Gesindel?

Fast das Ende

Die Kommission

Der Engel der Krim

Das Krimfieber

Ungewöhnliche Kriegsbeute

Turbulenzen und Überraschungen

Bewundert und bejubelt

Heimkehr

Nachwort – wie es weiterging

Gebet von Florence Nightingale

Zeittafel

Weitere Bücher zum Thema

Nachbemerkung der Autorin

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Die Personen

Florence Nightingale, Tochter reicher englischer Landadeliger, Begründerin der modernen Krankenpflege

William Edward Nightingale, genannt WEN, Landadliger, Vater von Florence

Frances Nightingale geb. Smith, genannt Fanny, Mutter von Florence

Parthenope Nightingale, genannt Parte, Schwester von Florence

Mai Smith geb. Shore, »Tante Mai«, die Lieblingstante von Florence, eine Schwester ihres Vaters

Sam Smith, Tante Mais Mann und der Bruder ihrer Mutter, Bankkaufmann

Julia Smith, eine Schwester der Mutter, Vorbild für Florence

Hilary Bonham-Carter, die liebste Cousine von Florence

Kutscher Charles, Flos heimlicher väterlicher Freund

Seline und James Bracebridge, Freunde der Familie

Mary Clark, genannt Clarky, Pariser Salondame, später verheiratet mit Julius Mohl, einem bekannten Orientalisten, gleichgesinnte Freunde von Florence

Sidney Herbert, Kriegsminister und Freund von Florence

Elizabeth Herbert, seine Frau, Freundin von Florence

Richard Monckton Milnes, Freund der Familie Nightingale, Dichter und Politiker. Gründete zusammen mit Sidney Herbert die Florence-Nightingale-Stiftung

Dr. Edward Menzies, der leitende Arzt im Lazarett von Skútari (in einem Stadtteil von Konstantinopel; heute: Üsküdar, ein Stadtteil von Istanbul)

Major Sillery, der militärische Befehlshaber in Skutari

Dr. John Hall, der Chefchirurg zunächst im Lazarett von Skutari, dann in den Krankenhäusern in Balaklava auf der Krim

Dr. John Sutherland, Leiter einer Sanitätskommission aus London

Mutter Bridgeman, Nonne, Leiterin einer Delegation von pflegebereiten englischen Frauen

Lord Stratford, der britische Gesandte in Konstantinopel

Mrs Roberts, die leitende Krankenschwester in Skutari

Robert Robinson (Robbie), 12 Jahre, Trommler in der britischen Armee, Laufjunge im Lazarett Skutari

William Jones, 17 Jahre, junger englischer Infanteriesoldat

Peter Grillage, 5 Jahre, russisches Waisenkind

William Russell, Reporter der »London Times«

Sara Christie, Hauslehrerin von Florence und Parte

Auf dem Landschloss

ALS DIE PRÄCHTIGE, altbekannte Reisekutsche der Nightingales sich dem südenglischen Holloway nähert, blüht die Heide kräftig rosa und die Ahornalleen breiten ein gelb leuchtendes Baumkronen-Dach über die Straßen. Wolken und Sonne tauchen die üppige Natur in wechselnde Farben. Die Wege erschweren das Reisen – sie sind noch weich vom letzten Regen, aber die Sonne hat die Kinder im Dorf Holloway auf die Straße gelockt. Man schreibt Herbst 1821.

»Da kommt die Herrschaft!«, ruft die Bäuerin Hester, die gerade ein paar frisch geerntete Steckrüben von der schweren Erde säubert. Die Kinder springen auf die Seite, um die sechs Pferde und das breite Gefährt durchzulassen. Regenwasser spritzt aus den Pfützen.

»Jetzt sind sie zurück aus Italien«, sagt der Barbier zu seinem Kunden, dem Hufschmied Miller. Er unterbricht seine Arbeit für eine Weile und schaut dem Gefährt nach. Die Kinder haben sich an die Kutsche gehängt, und wer keinen Platz ergattern konnte, läuft einfach hinterher.

»WEN ist wieder da!« Die Leute in der Grafschaft Derbyshire nennen den Landedelmann William Edward Nightingale einfach WEN.

»Der Nightingale, von seiner Hochzeitsreise?«

Der Barbier lacht in den blinden Spiegel: »Zu zweit sind sie abgereist, zu viert kommen sie nun zurück. Ich habe ganz flüchtig auch die kleinen Töchter gesehen. Sehen ganz hübsch aus – aber die Frau Gemahlin ist ja auch eine Schönheit, wen wundert’s?«

Eine Weile hört man in der kleinen Barbierstube nur das monotone Schaben des Rasiermessers. Stück für Stück legt der geschickte Barbier das energische Kinn des Hufschmieds frei.

»Stimmt es, dass sie sich geweigert hat, ins alte Landhaus zu ziehen? Es sei ihr nicht gut genug, sagen die Leute. Dass sie drei Jahre lang in Italien waren, damit das neue Haus Lea Hurst gebaut werden konnte?«

»Ja, die Lady kommt aus reichem Hause, da kann sich der Nightingale doch nicht lumpen lassen. Ein schönes Schlösschen hat er in Auftrag gegeben, die besten Leute verpflichtet. Es ist gerade fertig geworden, vorgestern hat man den Kies für die Auffahrt geliefert.«

»Das ist knapp genug«, meint der frisch rasierte Kunde und fährt prüfend mit der Hand über sein glattes Kinn. Und während er seine abgetragene Jacke anzieht, meint er: »Ich habe den alten Nightingale gekannt. Das war ein tollkühner Bursche. Trinkfest und übermütig, wenn er bei nächtlichen Hindernisrennen Kopf und Kragen riskierte. Er wurde auf seiner Kupfermine immer reicher. Die hatte er zufällig bei seiner Feldarbeit gefunden. So viel unverschämtes Glück müsste man haben! Hatte nicht mal einen ordentlichen Erben! Der junge William Shore, sein Neffe, hatte seine Eltern früh verloren, und weil sein Onkel keine Söhne bekam, konnte er das Erbe antreten. Über Nacht wurde er steinreich, ohne auch nur einen Finger zu rühren! Aber eine Gegenleistung hat der Alte ihm abverlangt: seinen Namen sollte er übernehmen.« Der Hufschmied lacht: »Der Name Nightingale – Nachtigall – passt wirklich gut zu einem Mann, der über Nacht steinreich wird.«

Inzwischen ist die Kutsche am Fuß des Hügels von »Lea Hurst« angekommen, der Kinderschweif ist immer länger geworden. Jetzt schnalzt der Kutscher mit der Zunge und gibt den Tieren die Peitsche. Mit einem Ruck ziehen die Pferde an, die Kinder springen und purzeln vom Trittbrett herunter, und während der Reisewagen mit Schwung die Auffahrt nimmt, schaut die Schar hinterher, bis er schließlich hinter Rhododendren und Akazien verschwunden ist.

Vor dem nagelneuen Anwesen Lea Hurst versammeln sich die Bediensteten. Der Kutscher ist abgestiegen, um die Pferde zu halten, während der Lakai vom Bock springt und die Wagentür öffnet. WEN steigt aus und reicht seiner Gattin die Hand. Die Lady erscheint unter dem ledernen Dach der großen Kutsche, ordnet ihre resedagrünen, wollenen Reiseröcke und setzt ihren blumenbesetzten Hut auf. Nun wird dem Lakai die kleine Florence angereicht. Die Einjährige zappelt in ihren Reisekleidern und will auf die Füße. Dann setzt sie kurze, unsichere Schritte in den Kies und schlägt energisch die angebotene Hand des Vaters aus. Eine weinende und frierende Zweijährige kommt zum Vorschein, und zum Schluss klettert das Kindermädchen hinterher und versucht, die unglückliche zweijährige Parthenope zu beruhigen.

WEN hat sich zuerst einmal gestreckt und gereckt, so wie die Tiere es tun, wenn ihnen der Käfig ihre Bewegungsfreiheit genommen hat. Dann schaut er mit großer Zufriedenheit und Stolz auf das neue Bauwerk. Was für eine prächtige Fassade! Seine Augen glänzen. Nein wirklich, es kann sich sehen lassen!

Lady Fanny aber steht wie versteinert: »Was, in dieser kleinen Hütte sollen wir wohnen? William, was hast du dir denn dabei gedacht? Wie viele Schlafzimmer hat denn das Haus?«

»Fünfzehn, meine Liebe«, erwidert William mit Nachdruck. Fannys Mund wird zu einem Strich. »Nur fünfzehn? Nein, das ist doch unmöglich, William! Wir alleine sind doch schon vier, denk doch mal an die Dienerschaft! Ich werde nicht dulden, dass zwei sich ein Zimmer teilen! Und wo sollen wir bitteschön unsere Gäste unterbringen? Wir brauchen ein viel, viel größeres Haus!« Spricht es, rafft ihre Röcke und schwebt entrüstet die breite Freitreppe hinauf, vorbei am Spalier der Bediensteten.

William lässt sich die Enttäuschung nicht anmerken und begrüßt das Gesinde, stellt stolz seine Töchter Parthenope und Florence vor und freut sich am Entzücken der Dienerschaft, bevor er sich in der Eingangshalle in einen weichen Sessel wirft und ins Leere schaut.

So eine Pleite! Na ja, er kennt seine Fanny erst seit drei Jahren. Wenn sie von Hausbällen und Festen schwärmte, dann nahm er sich fest vor, sie auszuführen, sooft sie nur wollte – viel lieber würde er mit ihr in den Wald gehen, aber sie will offensichtlich repräsentieren, und das kann sie auch wirklich gut. Nun denn, soll sie ihre schönen Kleider und ihren Liebreiz geltend machen, ihre geschliffenen Umgangsformen und ihr Organisationstalent doch ausleben! Er will ihr nicht im Weg stehen. An ihm soll es nicht liegen, ihr ein viel größeres Haus zu bieten. Aber sein geliebtes Gut Lea Hurst wird er nicht aufgeben – niemals!

So kommt es, dass die Nightingales bald zwei Schlösser bewohnen: ein größeres in Embley Park in der Grafschaft Hampshire, näher bei London, und diesen kleineren Landsitz Lea Hurst, den sie jeweils im Sommer aufsuchen. Embley Park ist ein gewaltiger Herrensitz mit Sprossenfenstern und holländischen Giebeln. Er macht den Eindruck von Erhabenheit und ist doch sehr schlicht und solide ausgestattet. Im Park – großzügig angelegt – kann man zwischen Lorbeerbäumen, Azaleen und Rosen spazieren gehen, und die Kinder haben auf dem grünen Rasen viel Platz zum Toben. Das Gelände ist groß genug für ausgedehnte Ausritte mit der jungen Stute Peggy, die besonders mit Florence Freundschaft geschlossen hat.

Hier fühlt sich Fanny in ihrem Element, denn in der Nähe ihrer großen Familie lassen sich Besuche leichter arrangieren.

Als die ersten Postkutschen ihren Dienst aufnehmen, scheint Fannys Glück perfekt: Sie schreibt täglich viele Briefe. Die Welt ist groß und die Bekanntschaft auch. Nun wird es auch leichter, Einladungen zu verschicken.

Aber Florence oder Flo, wie sie in der Familie genannt wird, spürt, dass Mama trotzdem nicht zufrieden ist. Eines Tages sagt Fanny: »Das Haus ist zu klein, William – eigentlich braucht es Platz für fünf große Familien.«

WEN schaut erschrocken auf: »Wieso reicht dir unser großes Haus nicht, meine Liebe?«

»Ein Herrschaftshaus braucht Platz für viele Gäste, nicht nur für die Verwandtschaft«, entgegnet sie. »Am liebsten würde ich jeden Abend Gäste bewirten: Landadlige mit ihren Frauen, Barone und Baronessen, höhere Adlige, Grafen und Gräfinnen.«

»Und wie wäre es mit Herzögen?«, fragt William spitz.

»Warum eigentlich nicht?«, erwidert sie hoffnungsvoll.

Im Frühjahr und im Herbst, wenn die Herrschaft in das jeweils andere Domizil umzieht, nutzt man die Gelegenheit, um ein paar Wochen in der Hauptstadt zu verweilen. WEN hat sich geweigert, auch in London ein großes Haus zu bauen. Deshalb wohnen sie dort nur im vornehmen Burlington-Hotel, um kulturelle Höhepunkte zu erleben, Großstadtflair zu genießen und vor allem Gesellschaften zu besuchen oder zu geben.

Die kleine Flo mag diese Bälle nicht. Sie weiß nie, ob sie alles richtig machen wird. Einmal redet sie eine Herzogin mit »Euer Gnaden« an. Dafür bekommt sie einen Tadel von Mama, weil die Herzogin nämlich auch zum Adel gehört. Doch als sie dann einen Baron mit seinem Titel anspricht, sagt Mama hinterher: »Mein liebes Kind! Einen Baron redet man immer mit ›Lord‹ an!« Jedes Mal, wenn Mama »mein liebes Kind« zu ihr sagt, weiß Flo, dass jetzt eine Zurechtweisung folgt.

Mrs Fanny Nightingale hat ein hohes Ziel: In ihrem Haus in Embley Park soll einmal der größte und der interessanteste Salon weit und breit entstehen. Die Voraussetzungen dafür sind günstig, denn William hat Zeit und Geld – und Bildung! Er ist ein wahrer Gentleman. Wie gut, denkt sie, dass ich die erste Verlobung gelöst habe! William ist bei Weitem die bessere Partie. Mit seinem langen Studium in Cambridge steht ihm die Welt offen – und mir auch. Ich würde mich nicht wundern, wenn er einmal eine politische Laufbahn einschlägt. Aber vorläufig ist er glücklich mit Angeln und Jagen; das Leben eines Landedelmannes genügt ihm. Soll er es doch genießen! Von den Zahlungen der Pächter, die unseren Besitz versorgen, können wir sehr gut leben. Außerdem hat er viel Zeit für die Kinder.

Das Schönste aber ist, dass William ein großzügiger und charmanter Gastgeber ist. Er bringt – wie erträumt – seiner geliebten Frau den Adel der weiten Umgebung in den Salon des Hotels, auch die ganz prominenten Politiker. Mit ihnen führt er tiefsinnige, interessante Gespräche. Vom Organisieren versteht er allerdings nicht viel, aber das ist auch nicht nötig. Das besorgt Fanny allein, und er steht ihr nicht im Weg. Sie ergänzen einander in jeder Hinsicht, welch ein Glück! Diese Chance, viele Gäste willkommen zu heißen, möchte Fanny jedoch gerne aus dem Londoner Hotel in ihr Haus nach Embley Park verlegen.

Während die Familie Nightingale in paradiesischen Verhältnissen lebt, geht in England zu dieser Zeit die bitterste Armut wie ein Schreckgespenst um. Die zunehmende Industrialisierung hat die Lebensverhältnisse der armen Bevölkerung dramatisch verschlimmert, während eine kleine Oberschicht in Saus und Braus lebt.

Die heranwachsenden Töchter merken zunächst nichts von dem Elend. Sie werden weder in Lea Hurst noch in Embley Park mit der Armut konfrontiert. Aber in London ist das ganz anders. Da begegnen ihnen überall auf der Straße Jammergestalten auf der Suche nach Brot und Arbeit. Bettler mit ausgemergelten Gesichtern liegen in den Hauseingängen. Die kleine Florence bleibt nachdenklich stehen, sie spürt ein starkes Verlangen, mit diesen Armen zu sprechen. Aber Fanny zieht sie fort, während Parte, die ältere Schwester, ihre Taftröcke rafft und einen großen Bogen macht.

Flo bleibt hartnäckig: »Mama, warum sind die Leute so arm? Sie haben nichts zu essen, und auf dem Leib tragen sie Lumpen, das muss doch entsetzlich sein! Wir haben so viel zu essen und Kleider in allen Farben!«

Parte zieht verächtlich die Nase kraus. »Das sind doch Schmutzfinken!«

Aber Flo lässt nicht locker. »Warum kümmert sich niemand um sie?«

»Ach Florence«, seufzt die Mutter, »warum freust du dich nicht einfach, dass es dir so gut geht? Gott hat nun mal Reiche und Arme geschaffen, daran lässt sich nicht rütteln. Oder willst du Gottes Ordnungen verachten?«

Flo runzelt die Stirn. Sie fühlt, dass ihre Frage nicht richtig beantwortet ist, und auch, dass Mama ihren festen Standpunkt hat, den sie nie ändern wird. Aber sie, Flo, wird ihn nie mit ihr teilen können, niemals! »Du solltest lieber Gott danken, dass es dir nicht so geht wie diesen armen Leuten«, hat Mama auch gesagt. Ja, das will sie tun, aber glücklich macht sie das nicht. Und obwohl ihr großes, reiches Elternhaus von Verwandten wimmelt, spürt sie schon als Kind eine große Einsamkeit.

Kürzlich hat ihre Lieblingstante Mai Onkel Sam geheiratet. Onkel Sam ist der Bruder ihrer Mama, Tante Mai die Schwester ihres Papas. Bei der Trauzeremonie kommt es zu einem Eklat – die fünfjährige Flo hat sich zwischen das Brautpaar gekniet. Mama zerrt sie zurück auf die Kirchenbank.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, schimpft Fanny später. Flo ist ganz verwirrt. Hat sie das wirklich getan? Es muss wohl so gewesen sein. Flo fühlt nur eine tiefe Trauer, wenn sie an diesen Tag zurückdenkt. Sie fürchtet, dass sie ihre Lieblingstante Mai an den starrköpfigen Onkel Sam verloren hat.

Tante Mai ist ganz anders als Mama, mit ihr kann man Verstecken in den Schränken spielen, sie ist lustig und überhaupt nicht steif. Und da ist auch Mamas Schwester, Tante Julia. Sie ist nicht verheiratet, und es heißt, sie versorge Großmutter Smith in Tapton – aber meistens ist sie mit ihren Freundinnen unterwegs. Flo bemerkt schon früh, dass Mama sie nicht mag. Sie beschäftigt sich mit Fragen, die sich für verheiratete Frauen der Oberschicht nicht schicken.

»Gibt es Frauen im Parlament?«, fragt Tante Julia und antwortet auch gleich selbst: »Nein.«

»Dürfen Frauen die Universität besuchen? Nein.«

»Haben Frauen Stimmrecht? Nein.«

»Gibt es Ärztinnen? Nein.« Tante Julias Stimme klingt immer energischer.

»Und die Königin?«, fragt Flo zurück.

»Seit über hundert Jahren hat es keine Königin mehr gegeben«, gibt Tante Julia zu bedenken.

Flo bewundert die freiheitsliebende Tante Julia und sie liebt Tante Mai – beide helfen ihr, die Welt, in der sie lebt, besser zu verstehen, und bei beiden darf Flo sie selbst sein – ein kluges und unangepasstes Kind mit ungewöhnlichen Ideen und unbequemen Fragen.

Parte ist ganz anders. Sie entspricht voll und ganz den Vorstellungen ihrer Mutter, tut alles, was sich für eine Tochter der höheren Gesellschaft geziemt. Sie knickst brav, wenn Besucher kommen. Sie gibt artig Antwort, wenn sie gefragt wird, und sobald sich die Gespräche der Erwachsenen ihrem Verständnis entziehen, nimmt sie ihre Malerei und setzt sich damit in eine Ecke. Oder sie holt sich Mamas Erlaubnis, draußen mit der Dogge Teazer zu spielen. »Ja, mein Kind, aber denke an dein Kleid!«, mahnt Fanny, und sie kann sich darauf verlassen – Parte wird es nicht beschmutzen.

Die große Schwester klagt der treuen Hündin ihr Leid: »Flo ist so komisch. Sie will nie mit uns spielen. Immer sitzt sie am Fenster und träumt vor sich hin.« Ja, Flo hat sich sogar geweigert, im Salon zu erscheinen. Sie hasst diese artigen Auftritte in Samt und Seide, und am liebsten bleibt sie mit sich selbst allein.

Bald kommen die Kinder ins Schulalter. Mama engagiert zusätzlich zur Gouvernante eine Hauslehrerin. Höhere Töchter gehören nicht in eine Schule, wo sie mit fremden Elementen in Berührung kommen. Parte und Flo sollen zu Hause eine gründliche und umfangreiche Bildung genießen. Die Lehrerin Fräulein Christie versteht es, die Kinder zu gewinnen und zu fördern. Flo blüht auf und vergisst ihre Einsamkeit. Bald lernen die beiden Schwestern Lesen und Schreiben, wobei Flo ihrer großen Schwester immer ein wenig voraus ist. Ganze Bücher will sie lesen – sie sollen ihr die Welt erschließen. Dann kann sie stundenlang am Fenster neben ihrem Schulpult sitzen. Manchmal entgleitet ihr das Buch aufs Fensterbrett, während sie verträumt in den Garten schaut.

Einmal ist die strenge Gouvernante gerade ins Zimmer getreten, während Florence an ihrem Lieblingsplatz sitzt und gedankenverloren ins Weite blickt. Sie rügt Flo, weil sie untätig ist, und will sie zu Parte in den Garten schicken, aber das Kind hat dazu keine Lust.

»Dann tun Sie doch wenigstens etwas Nützliches«, sagt die Gouvernante. »Wo haben Sie denn Ihre Stickerei?«

Da stampft Flo mit dem Fuß auf und ruft: »Ich will aber nicht sticken!«

Jetzt wird die Gouvernante ungehalten. »Müßiggang ist aller Laster Anfang! Was würde Ihre Frau Mutter sagen, wenn ich ihr erzählte, Sie säßen hier träumend herum?«

Da geht Flo ohne Antwort einfach weg. Trotzig setzt sie sich draußen in ihre Schmollecke unter dem Ginsterstrauch und streichelt den Kater Jimmy. Jimmy und Flo haben eine Gemeinsamkeit – beiden fehlt etwas. Jimmy hat seinen Schwanz bei einem nächtlichen Abenteuer eingebüßt. Flo spürt, dass sie anders ist als die Gleichaltrigen. Warum kann sie es der Erzieherin und der Mutter nie recht machen? Sie denkt: Nie bin ich richtig in ihren Augen! Ständig ärgern sie sich über mich. Wenn ich meine Erlebnisse aufschreibe, dann sagt Mama, das ewige Gekritzel mache sie noch wahnsinnig. Nur Fräulein Christie hat mich gern.

Die junge Hauslehrerin hat neulich mit den Nightingale-Töchtern ein Fest für arme Kinder aus dem Dorf gegeben. Es gab viel Gutes zu essen und schöne Geschenke – Flo war begeistert. Aber Parte saß stocksteif auf der Stuhlkante, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt. Sie mag die armen Kinder nicht. Ständig hat sie Angst, dass ihr Kleid schmutzig wird. Und Flo ist darüber sehr ärgerlich.

Zum Glück darf Flo ohne ihre Schwester reisen, wenn Tante Mai sie nach »Combe Hurst« in Surrey einlädt. Dort wird bald ein kleines Mädchen namens Blanche geboren. Später kommt ein Stammhalter zur Welt. Er heißt William Smith, aber er wird in der Familie einfach »der kleine Shore« genannt, weil er WEN beerben wird, falls dieser keinen Sohn bekommt. Flo darf die kleinen Kinder hüten und sie liebt besonders den kleinen Shore. Wenn solche Ferien zu Ende gehen, ist sie traurig. Denn in Embley Park ist es langweilig, und da heißt es ständig: »Das tut man nicht«, oder: »Das ist unter unserer Würde«, oder: »Vergiss nicht, dass du eine Nightingale bist!«

Wilder Schwan im Ententeich

BEI DEN ELTERN und ihrer Dienerschaft sind die Tage geregelt bis ins kleinste Detail – und die Abende verlaufen entweder als Gesellschaft – das gefällt Parte besser – oder als gemütliches Zusammensein der Familie in der Bibliothek – das ist ein Lichtblick für Flo, weil sie da ihren Papa ausfragen kann.

Auch William freut sich auf eine Lesestunde mit seinen Lieben. Parte hat ihre Malerei dabei, Mama ihre Stickerei – und Flo? Sie hängt an Papas Lippen, um ihn schon bald zu unterbrechen: »Papa, Tante Julia hat gesagt, dass unser König schon alt ist. Er hat keinen Sohn. Hätte denn seine Nichte Victoria Chancen, Königin zu werden?«

WEN wiegt den Kopf. »Das ist eher unwahrscheinlich, Flo, sie ist ja noch sehr jung. Für eine Krönung muss sie mindestens achtzehn Jahre alt sein.«

»Dann wollen wir hoffen, dass er noch ein bisschen weiterlebt«, meint Flo. »Tante Julia hat nämlich gesagt, dass unsere Könige nichts Gescheites auf die Beine stellen. Eine Frau würde vielleicht mehr für die Armen tun.«

»Seine Majestät ist aber der Politik der Liberalen zugeneigt, Flo, er würde sicherlich Reformen zugunsten der Armen durchsetzen, wenn er könnte.«

»Und warum kann er nicht?«

»Er hat nicht die nötigen Stimmen im Parlament.«

»Dann sollte er mehr Liberale in den Adelsstand erheben, damit sie für seine Gesetze stimmen.«

»Ganz recht, mein Kind.«

»Und vielleicht erreicht das Parlament es dann auch, die Sklaverei in unseren Kolonien abzuschaffen …«

Parte hält es nicht lange aus, und sie zieht sich mit Mama zurück. William und seine kleine Tochter bleiben oft lange im Gespräch zu zweit. Flo mag nicht aufhören zu fragen.

Eines Tages – die Kinder sind zu Bett gegangen – bemerkt Fanny: »Ich begreife Flo nicht. Warum ist sie nicht wie Parte und die anderen Mädchen ihres Alters?«

William entgegnet: »Vielleicht, weil sie intelligenter ist als die andern!«

»Ich gebe ja zu, dass sie sich seit einiger Zeit nett aufführt, wenn wir eine Gesellschaft haben, aber wehe, wenn sie ihre trotzigen Anfälle hat! Wir sind wohl wie Enten, die einen wilden Schwan ausgebrütet haben!«

»Vielleicht ist dieser Schwan ein Adler, wer weiß?«, erwidert William.

»Was hilft mir ihr Verstand, wenn sie so unbeherrscht ist? Gewiss, sie ist klug, aber wer fragt bei einem Mädchen schon nach Klugheit? Mädchen gehören ins Haus und sollen einmal gute Ehefrauen und Mütter sein. Dazu aber brauchen sie keinen Verstand!«

WEN lacht. »Ich wette, Flo wird früher heiraten als Parte. Schau dir doch die jungen Männer an, wenn die beiden auf einer Gesellschaft erscheinen!«

In der Tat: Florence verspricht schon als Zehnjährige, eine Schönheit zu werden. Ihr schlanker Wuchs, das braune, lockige Haar, die ausdrucksvollen dunklen Augen in einem feinen und ernsten Gesicht faszinieren jeden. Sie ist ein stilles Mädchen, aber manchmal zeigt sie ihre Lebendigkeit und sprüht vor Temperament – dann verzaubert sie ihre Umgebung.