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Ursula Schröder

Vielleicht hilft auch
ein Wunder

Roman

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© 2013 Brunnen Verlag Gießen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

1

„Du, Frau Heimann“, sagte Torben mit leicht aufgeregter Kurzatmigkeit, „die Angelina hat sich einen dicken Schiss in die Hose gedrückt.“

Irritiert sah ich hoch – ich hockte gerade vor dem Aktenschrank und suchte den Ordner mit den Kassenbelegen – und entdeckte in Augenhöhe vor mir nicht nur den fünfjährigen Informanten, sondern auch die zweijährige Täterin. Noch bevor mich der unverkennbare Geruch ihres Vergehens erreichte, konnte ich an ihrem verlegenen Herumgeschaukel ablesen, was passiert war.

Seufzend stand ich auf. „Na, dann komm, Angelina“, sagte ich zu dem dunkelhaarigen Mädchen mit den Knopfaugen, „dann wollen wir das mal sauber machen.“

Als ich mit fünfzehn Jahren die Entscheidung traf, Erzieherin zu werden, hatte ich eine Menge Gründe dafür aufzählen können. Die meisten hatten mit der Bedeutung von Vorschulpädagogik zu tun und den unermesslichen Vorteilen individueller Förderung von Kleinkindern in einem dafür angemessenen Umfeld. Ich konnte nicht ahnen, dass ich ein Vierteljahrhundert später froh sein konnte, wenn mir überhaupt genug Zeit am Tag blieb, um mich mit den Kindern zu beschäftigen. Und darunter hatte ich mir wahrlich anderes vorgestellt, als ihnen die Pampers zu wechseln, weil wir inzwischen im Kindergarten schon Zweijährige aufnahmen.

Zum Glück war es die friedliche Angelina und nicht ihr aggressives Gegenstück Marvin, die ich auf die Wickelstelle hieven musste. Marvin wehrte sich nämlich gegen solche Eingriffe in seine Intimsphäre lautstark und mit der Vehemenz eines Königstigers, sodass man sich nicht nur wie ein Kinderquäler vorkam, sondern nicht selten auch blaue Flecken oder sogar Kratzwunden davontrug.

Obwohl mich das heute auch nicht mehr schocken konnte … denn ich hatte bereits meinen Super-GAU hinter mir: Lorenz hatte mich verlassen. Ja, wirklich. Nach all den Jahren.

Nun kann man nicht behaupten, dass das völlig unerwartet gekommen wäre. Schließlich schlief ich schon seit Wochen im Gästezimmer, etwa seit dem Zeitpunkt, als er mir die Sache mit seiner Kollegin gebeichtet hatte. Bis dahin hatte ich es immer etwas überdramatisierend gefunden, wenn so ein Geständnis direkt zum Auszug aus dem ehelichen Schlafzimmer führte. Schließlich wusste ich aus Erfahrung, dass ein gemeinsames Bett nicht notwendigerweise auch regelmäßigen Sex bedeutet. Ich verlagerte deshalb meine Schlafstätte nicht, weil ich befürchtete, Lorenz würde sich mir aufdrängen und ich könnte nicht in der Lage sein, seine Annäherungsversuche abzuwehren. Oder weil ich ihn mit Liebesentzug bestrafen wollte. Es war eher so, dass wir beide auf diese Krise mit Schlafstörungen reagierten, und wenn man eh schon übersensibel und sauer auf den anderen ist, dann ist es nicht gerade zuträglich, wenn man schlaflos neben ihm liegt und zuhören muss, wie er schnarcht. Vor allem wenn man weiß, dass am nächsten Morgen der Wecker für beide unbarmherzig klingeln wird.

Es war also eher eine praktische Lösung gewesen, zumindest am Anfang. Nachdem wir uns nicht mehr jeden Abend in stundenlange Diskussionen verwickelten, sondern eher vorsichtig umeinander herumschlichen und versuchten, jedes konfliktträchtige Thema zu vermeiden, stellte es sich als ganz angenehm heraus, ohne Rücksicht auf den Ehepartner den Zeitpunkt des Ins-Bett-Gehens bestimmen zu können. Lorenz sitzt gern noch auf der Couch und zappt durch die Programme, während ich mit zunehmendem Alter auch mehr Zeit im Bad verbringe. In den meisten Fällen sind wir damit aber nicht gleichzeitig fertig, sodass er entweder schon im Bett liegt und so vorwurfsvoll „na endlich!“ sagt, als hätte ich ein Ganzkörperpeeling gemacht und mir danach noch die Nägel mit drei Schichten lackiert. Oder ich krieche unter die Decke und stelle fest, dass er noch vor der Glotze sitzt, und dann beschleicht mich ein gewisser Ärger darüber, dass er nicht nur seine Zeit verplempert, sondern meine gleich mit.

Insofern fand ich unser neues Arrangement gar nicht schlecht, auch wenn Bibi (wobei ich ihr das zunächst vorenthalten wollte, aber weil sie meine beste Freundin ist, kriegte sie es natürlich mit) meinte, das wäre der Anfang vom Ende. Offensichtlich hatte sie recht.

Während ich Angelinas Popo sauber machte, fragte ich mich, wo Lorenz wohl jetzt war. Beziehungsweise wo er vom Büro aus hingehen würde. Wollte er direkt bei seiner neuen Liebe einziehen? Oder suchte er sich erst mal ein Hotelzimmer? Würde er mich anrufen? Eine E-Mail schreiben? Oder was würde passieren?

Es war ja nicht so, dass er mit mir gesprochen hätte. Im Gegenteil. Vermutlich hatte er gedacht, ich würde es gar nicht mitbekommen, als er sich um kurz nach sechs und mit mindestens zwei Koffern aus dem Staub machte. Eigentlich weiß ich auch nicht genau, wieso ich sofort ahnte, was passiert war. Weibliche Intuition vielleicht? Er, der sonst die Wohnungstür unbekümmert hinter sich zuknallen ließ, hatte sich offensichtlich viel Mühe gegeben, sie vorsichtig ins Schloss zu ziehen. Ein ganz leises Klacken war das gewesen. Aber so wie andere Frauen berichten, dass sie zwar ein Gewitter verschlafen können, aber bei jedem Husten ihres Babys hellwach sind, so hatte mich gerade dieses Klacken beunruhigt. Eine diffuse Sorge trieb mich aus dem Bett – und tatsächlich, er hatte seine Sachen gepackt. Seine Schrankhälfte war fast leer, im Bad fehlten seine Toilettenartikel, der Rasierapparat, das Shampoo gegen Haarausfall. Der Arbeitsplatz im Esszimmer war aufgeräumt, die losen Kabel, an denen er seinen Laptop andocken konnte, hatte er mitgenommen. Immerhin sah es besser aus als sonst, aber das tröstete mich nicht wirklich.

Wenn ich direkt hinter ihm hergespurtet wäre, hätte ich ihn vielleicht noch erwischt, bevor er alles im Kofferraum hatte. Aber erstens war es nicht mein Stil, im Bademantel auf die Straße zu stürzen und mich seinem Auto in den Weg zu werfen. Zweitens war ich viel zu benommen, um so einen Entschluss zu fassen. Ich stand Minuten lang einfach nur da und dachte an gar nichts. (Ja, das geht. Auch wenn man kein Yogi ist.)

Schließlich ließ ich mich auf die Sofalehne sinken, schloss die Augen und versuchte, ein Gebet zu formulieren. Es gelang mir nicht besonders gut, aber ich denke, Gott hat es trotzdem verstanden, schließlich versteht er auch Suaheli und alle anderen Sprachen der Welt. Ich teilte ihm mit, in was für einen Schlamassel ich da geraten war und dass ich hoffte, er würde mich da wieder rausbringen. Dann ging ich unter die Dusche, machte mir Frühstück und ging zur Arbeit.

Ganz kurz erwog ich die Möglichkeit, mich krankzumelden, aber ich wusste, dass wir schon einen Krankenfall hatten und dass die Praktikantin diese Woche nicht kam. Außerdem: Was sollte ich die ganze Zeit zu Hause tun? Normalerweise hätte ich an meinem nächsten freien Tag die Gardinen abgenommen und die Fenster geputzt, aber danach stand mir der Sinn überhaupt nicht. Man kann sich auch nicht erst krankmelden und dann shoppen gehen, wenn man dauerhaft Wert auf ein gutes Arbeitsklima legt. Nein, da fuhr ich doch lieber zum Kindergarten und machte mich nützlich. Das würde mich wenigstens zeitweise auf andere Gedanken bringen.

Ich zwängte Angelina in eine frische Windel, verklebte die alte zu einem möglichst geruchssicheren Bündel und versenkte sie im Windeleimer, den ich zur Mülltonne bringen wollte, sobald es nicht mehr so heftig regnete. Ich begleitete das nun wieder wohlriechende Kind in seinen Gruppenraum und ging mir die Hände waschen. Dann wandte ich mich erneut der Büroarbeit zu.

Ursprünglich hatten Lorenz und ich nicht damit gerechnet, dass ich mein gesamtes Berufsleben in evangelischen Kindergärten verbringen würde. Natürlich hatten wir uns vorgestellt, dass ich nach der Hochzeit noch ein wenig arbeiten gehen würde, um die Wohnungseinrichtung abzubezahlen und uns trotzdem einen netten Urlaub leisten zu können, bis dann die Kinder kamen. Aber leider kamen die Kinder nicht. Erst gab es eine Menge möglicher Gründe dafür, dann immer weniger. Es lag nicht an Lorenz. Es lag nicht an mir, soweit man das medizinisch beurteilen konnte. Es sollte einfach nicht sein. Vielleicht war Gott schon damals bewusst, dass mich Lorenz eines Tages verlassen würde, und er wollte das unseren potenziellen Kindern ersparen. Wer weiß das schon.

Ich wusste es jedenfalls nicht. Ich saß einfach am Schreibtisch in unserem Dienstzimmer und sortierte Kassenbelege, bis es Zeit für die Turnstunde war. Danach musste ich alles für das Mittagessen vorbereiten, und dann wollten wir mit den Kindern basteln.

So gesehen ist es gut, wenn man Struktur im Leben hat. Denn wenn ich nach Hause kam, würde ich mich mit dem Thema auseinandersetzen und – vielleicht noch schlimmer – Bibi anrufen müssen, um ihr über den neuesten Stand der Dinge zu berichten. Das war ich ihr schuldig. Man muss bestimmte Regeln einhalten, wenn man Anspruch auf eine intakte Freundschaft erhebt. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das hinkriegen sollte.

Renate und ich waren mit dem Austeilen des Mittagessens dran. Ihre Aufgabe war es, eine akzeptable Menge Nudeln auf einen tiefen Teller zu schaufeln, und ich löffelte dann Tomatensoße darüber. Eigentlich nichts, wofür man einen weitergehenden Abschluss braucht, und doch schaffte sie es, mich in kürzester Zeit total aus dem Konzept zubringen. Beim zweiten Teller schon fragte sie mich nämlich: „Sag mal, was wirst du denn jetzt machen, nachdem dieses linke Arschloch ausgerissen ist?“

Ich war total schockiert, was ich durch tapferes Weiterschöpfen zu verbergen versuchte. Nicht nur, dass sie bereits von Lorenz’ Auszug wusste, ich konnte auch nicht fassen, dass sie solche Ausdrücke benutzte, während die Kinder vor uns am Tisch saßen. Bisher hatten sie halbwegs manierlich auf ihr Essen gewartet, aber jetzt fingen sie an zu kichern und sich gegenseitig in die Rippen zu stoßen. Kein Wunder, wenn eine der Mitarbeiterinnen eine solche Sprache verwendete!

Und dann begriff ich zwei Dinge. Zum einen, dass die Kinder über mich lachten, weil ich nämlich aus lauter Verwirrung versuchte, mit dem Teller die Soße auf den Schöpflöffel zu kellen statt umgekehrt. Jetzt schwammen eine ganze Reihe Nudeln im Soßentopf, und unter dem Löffel hatte sich bereits eine rote Lache gebildet.

Zum anderen hatte ich Renate missverstanden. Tatsächlich hatte sie nämlich danach gefragt, was ich mit der Bluse vorhatte, deren Armausschnitt ich in dem von uns gemeinsam besuchten Nähkurs leider beim Auftrennen nicht unerheblich beschädigt hatte. Man hört eben immer auch mit einem sehr persönlichen Ansatz, und bei mir ging es heute nun mal in erster Linie um die Frage, wie ich im Fall Lorenz weiter vorgehen wollte.

Beschämt wischte ich die Bescherung vom Tisch – zum Glück verwenden wir immer eine Wachstuchdecke, obwohl wir eher damit rechnen, dass die Kinder kleckern und nicht die Mitarbeiter.

„Die Bluse hab ich abgeschrieben“, sagte ich. „Ich such mir neuen Stoff und fang noch mal von vorne an.“

„Ist vielleicht das Beste“, meinte sie tröstlich. „Wenn erst mal so was passiert ist, dann kann man machen, was man will, man kriegt es nie wieder richtig hin.“

Natürlich meinte sie meine Bluse. Aber ich fragte mich, ob es nicht auch auf meine Ehe zutraf.

Schon während der Arbeit hatte ich immer mal wieder mein Handy angemacht, aber Lorenz hatte sich nicht gemeldet. Als ich nach Hause kam, fuhr ich gleich meinen Computer hoch und rief die E-Mails ab, aber auch auf diesem Wege hatte er keine Nachricht hinterlassen. Und dass es keinen Abschiedsbrief oder so was gab, wusste ich bereits seit heute Morgen, weil ich noch vor meinem Aufbruch sehr sorgfältig alles abgesucht hatte. Dabei hatte ich zwar einen schon seit Längerem vermissten USB-Stick gefunden, aber keinen Hinweis darauf, was Lorenz weiter vorhatte.

So war natürlich keiner da, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Ich fragte mich, was ich nun tun sollte. Sein Bett abziehen? Das war in zwei Minuten erledigt. Zusammen mit seinem Duschhandtuch steckte ich die Bettwäsche in die Waschmaschine. Ich räumte seinen Zahnputzbecher in die Spülmaschine und warf die Zeitschriften, die er immer neben seiner Sofaecke aufstapelte, in den Papiermüll. Sogar die neuste Ausgabe von „GEO“, obwohl er die noch gar nicht gelesen hatte. Aber ich fand, das geschähe ihm recht. Sollte er es sich wirklich noch mal überlegen und zurückkommen, musste er doch wenigstens an ein paar Details spüren, dass man so was nicht ungestraft machen konnte.

Einfach nur herumsitzen und fernsehen ging gar nicht. Ich bin nicht immer so eifrig, ich kann auch ganz gut faulenzen, aber nicht heute. Ich hatte auch keine Lust, an die Nähmaschine zu gehen und etwas Kreatives zu tun – dafür muss man sowohl konzentriert wie motiviert sein, und das war ich einfach nicht. Stattdessen entschied ich mich, das Bücherregal aufzuräumen. Oder genauer gesagt: alle Bücher zu entfernen, die Lorenz gehörten oder irgendwas mit ihm zu tun hatten. Natürlich hatte ich keine Kisten dafür. Ich hatte nicht mal eine genaue Vorstellung, was ich damit tun sollte. Sie der Bücherei stiften? Sie in die Wohnung seiner neuen Freundin schicken? Im Innenhof verbrennen? Zunächst begnügte ich mich mal damit, sie auf dem Wohnzimmerteppich aufzustapeln. Nach einer Weile war der Stapel ganz schön hoch. Und mit jedem Buch fühlte ich mich ein kleines bisschen erleichtert.

Gegen halb sieben klingelte es, und mein Herz begann heftiger zu klopfen. Kam Lorenz zurück? Was würde nun geschehen? Eine tränenreiche Diskussion, eine sachliche Aussprache, eine Versöhnung? Vorsichtig öffnete ich die Tür, aber es war nicht Lorenz, der schließlich auch einen Schlüssel hatte, sondern mein Nachbar Mirko.

„Hallo Anna“, sagte er. „Ich komme, um Schulden zu begleichen.“

„Schulden?“, fragte ich etwas ratlos. Und etwas muffelig. Jemanden wie Mirko konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen.

„Ich habe gehört, ihr habt meinen Anteil für die Geburtstagskasse vorgestreckt.“ Mirko wedelte mit seinem Portemonnaie, was ich erst nicht erkennen konnte. Wenn man Mirko kennenlernt, weiß man, was der Ausdruck „jemand verdunkelt den Türeingang“ bedeutet. Er ist mindestens eins fünfundneunzig groß, ziemlich breitschultrig und trägt meistens schwarze Anzüge mit einem T-Shirt darunter. Lorenz und ich hatten deswegen (und aufgrund seiner unregelmäßigen Arbeitszeiten) gemutmaßt, er wäre eine Art Bodyguard, aber bei der letzten Nachbarschaftsfeier hatten wir erfahren, dass er bei einer Eventagentur arbeitet. Das erklärt außerdem den Pferdeschwanz, zu dem er seine Haare bindet. Lange, glatte, beneidenswert glänzende dunkle Haare, die es sehr schwer machen, sein Alter zu schätzen. Wenn er färbt, könnte er Ende vierzig sein, wenn nicht, zehn bis fünfzehn Jahre jünger.

Sonst wissen wir nicht viel über ihn, außer, dass er in der untersten Wohnung auf der linken Seite wohnt (wir selbst wohnen im zweiten Stock rechts), einen griechisch anmutenden Namen auf der Klingel stehen hat und ab und zu Besuch von Mädchen bekommt, die viel zu jung für ihn sind, gepierct, mit schrill gefärbten Haaren, zerrissenen Strumpfhosen und extrem kurzen Röckchen. Er hatte deshalb von Lorenz den Spitznamen „der Kinderschänder“ bekommen. Wenn man mal drei Bier mit ihm getrunken hatte, konnte man sich das schlecht vorstellen, aber in meinen Fortbildungen hörte ich genug erschreckende Dinge über angeblich so nette Leute, die sich als echte Monster herausstellten. Insofern kann man sich ja auf nichts mehr verlassen.

Ich wusste nichts von vorgestrecktem Geld für die Geburtstagskasse, aber vielleicht hatte Margret, die das normalerweise einsammelt, neulich Lorenz die Beiträge abgenommen. Dann wäre es praktisch, wenn die Rückzahlung jetzt bei mir ankäme, oder?

Mirko zog einen Fünfziger hervor. „Kannst du wechseln?“

„Komm doch eben rein“, sagte ich. „Da muss ich erst mal nachsehen. Wie viel ist es denn?“

„Zwölf Euro fünfzig. Für den Geburtstag von Helga und den vierzigsten Hochzeitstag von Walthers.“

In unserer Eigentümergemeinschaft sind solche Sachen genau geregelt. Bei Geburtstagen zahlt jeder Teilnehmer „Sieben fuffzich“, wie Margret sagt, und für sonstige Anlässe fünf Euro.

Mirko folgte mir ins Wohnzimmer und begutachtete schweigend die Bücherstapel, während ich meine Barschaft überprüfte. Natürlich konnte ich nicht passend herausgeben, mir fehlten zehn Euro.

„Macht nichts“, sagte Mirko. „Die kannst du mir ja morgen geben. Oder wenn Lorenz kommt.“

„Der kommt nicht mehr“, rutschte es mir heraus.

Mirko nickte gleichmütig. „Geschäftsreise?“

Ich schüttelte den Kopf. „Büroaffäre.“ Die ganze Zeit hatte ich überlegt, wie ich das Bibi in wenigen Worten erklären sollte, und jetzt reichte eine einzelne Vokabel.

Er runzelte die Stirn. „Das heißt, er ist ausgezogen?“

„Heute früh.“

Seinem ratlosen Gesicht sah man an, dass ihn das überforderte. Er war sich nicht im Klaren darüber, ob ich jetzt von ihm Trost erwartete oder vielleicht das Angebot, Lorenz zu verprügeln – ich war mir ja selbst nicht sicher, was in so einer Situation angebracht war. Er wies mit einer knappen Geste auf die Bücher. „Ziehst du denn jetzt auch aus?“

„O nein. Ich räume nur seine Sachen weg.“

Mirko nickte. „Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.“ Und dann versuchte er, einen Kompromiss zu finden zwischen Höflichkeit und dem verständlichen Impuls, so schnell wie möglich vor einer potenziellen emotionalen Katastrophe die Flucht zu ergreifen. Der elegante Abschied gelang ihm ganz gut, fand ich, wenn man bedachte, dass er so ungefähr jedes Klischee eines harten Mannes bediente, von der Körpergröße bis zu den Bartstoppeln. Manchmal trug er sogar eine dieser verspiegelten Sonnenbrillen, aber dafür war es inzwischen zu dunkel.

An der Tür drehte er sich noch mal um. „Nur eine Frage, Anna … Wenn Lorenz nicht mehr hier wohnt, dann braucht er doch auch seinen Parkplatz nicht?“

Alle Bewohner des Hauses hatten reservierte Parkplätze. Auch Mirko. „Wozu brauchst du denn einen zusätzlichen Parkplatz?“

„Ein Kumpel von mir hat einen alten VW-Bus gekauft, den wollen wir ausbauen. Ich dachte, den könnte ich auf meinen Platz stellen und mit meinem Auto auf eurem parken. Nur übergangsweise. Fiel mir gerade so ein. Wär doch praktisch.“

Mir fiel kein Grund ein, das abzulehnen. „Von mir aus.“

Mirko nickte wie ein Türsteher, der einen gnädigerweise durchlässt, und zog seiner Wege.

Erst als ich ins Wohnzimmer zurückkam und meine Bücherstapel betrachtete, fiel mir auf, dass sowohl Mirko als auch ich nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hatten, dass Lorenz zurückkommen könnte. Das machte mich ein bisschen nervös. Eigentlich durfte man doch nicht so schnell aufgeben, oder? Schließlich hatten wir uns in einer feierlichen Zeremonie versprochen zusammenzubleiben, bis der Tod uns scheidet. Pfarrer Seifert und der größte Teil unserer Familie und Freunde waren Zeugen gewesen. Aber ich beschloss, diese Frage bis zu dem Zeitpunkt zu vertagen, wenn Lorenz sich tatsächlich gemeldet hätte. Zum Zusammenbleiben gehörten schließlich zwei.

Ungefähr eine halbe Stunde später wurde ich erneut durch die Klingel unterbrochen. Ich fragte mich, ob es schon wieder Mirko war, der sich inzwischen überlegt hatte, was sich durch Lorenz’ Auszug noch alles geändert hätte. Wollte er seine Zeitschriften-Abos übernehmen? Hatte er gesehen, dass wir noch einen angefangenen Kasten Krombacher im Keller stehen hatten? Hatte er Interesse an der Sammelbox mit allen Elvis-Songs, die wir mal in einem Anfall geistiger Umnachtung bei einem Homeshopping-Kanal bestellt hatten?

Weit gefehlt. Vor der Tür stand Bibi, die ich natürlich noch nicht angerufen hatte. Ob aus Feigheit oder aus anderen Gründen, sei dahingestellt. Jetzt war sie mir zuvorgekommen.

„Ich komme gerade von einer Besprechung für den Kindergottesdienst“, erklärte sie, „und da dachte ich, vielleicht könnte ich hier jemanden zu einer Pizza überreden? Vielleicht gibt es ja auch was zu feiern?“

Eher nicht. Wie kam sie darauf? „Tjaaa …“, machte ich, noch etwas unsicher, wie ich das Thema anschneiden sollte. So kurz und schmerzlos wie bei Mirko würde es mit Bibi nicht gehen. „Komm erst mal rein.“

Aber sie schien es bereits zu wissen, denn schon während sie mit ihren hohen Stiefelchen in Richtung Wohnzimmer stöckelte, sagte sie: „Ist Lorenz nun endgültig in seiner Midlife-Crisis angekommen?“

Bibi mag es, menschliches Verhalten psychologisch zu deuten. Sie bombardiert einen gern mit gut gemeinten Ratschlägen, deshalb muss man immer ein bisschen vorsichtig sein. „Sieht so aus, was?“, sagte ich.

„Wusstest du davon?“

„Ich hatte keine Ahnung bis heute Morgen.“

„Na ja, es könnte schlimmer sein“, sagte Bibi und warf ihre Handtasche über eine Stuhllehne. „Irgendwie hab ich sogar ein bisschen Verständnis dafür, weißt du.“

Ich fühlte mich wie im falschen Film. „Es könnte schlimmer sein, findest du?“

„Sieh es mal realistisch, Anna“, sagte sie und sah sich interessiert das oberste Buch auf einem der Stapel an: ein Ratgeber für unerfüllten Kinderwunsch. (Den brauchte ich jetzt nicht mehr, denn ohne Vater wollte ich auch kein Kind. Und nächstes Jahr wurde ich vierzig, damit wäre ich sowieso an meine persönliche Altersgrenze gestoßen.) „Andere Männer machen noch ganz andere Sachen. Zum Beispiel Drachenfliegen oder so was. Da müsstest du dir bestimmt viel mehr Sorgen machen.“

„Du findest, ich müsste mir keine Sorgen machen?“, folgerte ich ein wenig schwerfällig. Es schien, als hätte Bibi eine Kehrtwendung um 180 Grad gemacht, wenn ich bedachte, wie sie mich noch vor ein paar Wochen beraten hatte.

„Ich denke nicht“, meinte sie und wanderte weiter durch den Bücherdschungel zum Fenster. „Ich muss zugeben, da könnte ich ja selber beinahe schwach werden. Ich find den rattenscharf.“

Jetzt war ich endgültig abgehängt. Wollte sie damit sagen, dass sie hinter Lorenz her war? Was wusste sie über seine Eskapaden? Musste ich jetzt wütend werden? Ich war ja schon den restlichen Tag nicht besonders gut drauf gewesen, aber das hier toppte alles.

„Ja, da ist er!“, jubelte Bibi jetzt. Sie warf mir einen aufmunternden Blick zu. „Nun komm schon, Anna, guck nicht so verkehrt. Sieh ihn dir an.“

Stand Lorenz da draußen und ließ sich bewundern oder was wollte sie mir damit sagen? Ich ging zum Fenster und stellte mich neben sie. Man hatte einen guten Blick auf den Parkplatz. Dort war kein Mensch zu sehen. Aber auf Lorenz’ Parkplatz stand ein fremdes Auto: eine schwarze Flunder mit Doppelauspuff und getönten Scheiben. Mirko hatte keine Zeit verloren und seine amerikanische Angeberkarre direkt umgeparkt.

„Der sieht ziemlich geil aus, findest du nicht?“, stellte Bibi fest.

Mir dämmerte langsam, dass Bibi und ich die ganze Zeit aneinander vorbeigeredet hatten. „Hör mal, das ist nicht Lorenz’ Auto. Das gehört unserem Nachbarn Mirko.“

Die Begeisterung glitt aus ihrem Gesicht. „Och! Und ich hatte mich schon auf eine Probefahrt gefreut!“

„Vielleicht kann ich Mirko mal fragen …“

„Nee, lass mal“, sagte sie hastig. „Ich kenne den ja gar nicht.“ Ich konnte mir auch schlecht vorstellen, wie Bibi und der schwarze Mann zusammen eine Spritztour machten. Mirko war einfach nicht der Mensch, der mit charmantem Autoverkäufer-Lächeln Spazierfahrten anbot. Das passte zu ihm ungefähr so wenig wie eine Sammlung von Aufklebern internationaler Freizeitparks auf dem Kofferraum-Deckel.

„Was sagt denn Lorenz dazu, dass euer Nachbar seinen Schlitten auf seinen Parkplatz stellt?“, fuhr Bibi fort, und damit waren wir sozusagen mitten im Thema. Ich seufzte. Sie hatte es doch nicht gewusst.

„Gar nichts“, sagte ich. „Er ist heute ausgezogen.“

„Ausgezogen?!?“ Bibis Stimme wurde eine Oktave höher und schriller. „Was heißt das: ausgezogen?“

Eigentlich wusste ich das auch nicht so genau. Hieß das Scheidung? Ein Leben im sozialen Abseits, wenn man von meinem unerfreulich niedrigen Gehalt ausging? Oder hieß es, dass er in ein paar Wochen reumütig zurückkehren würde und wir uns wieder vertrugen? Ich versorgte Bibi mit den wenigen dürren Fakten, und sie ließ sich erschüttert auf dem Sofa nieder. „Nein, das hätte ich nie gedacht.“

„Ich auch nicht“, sagte ich. „Aber so ist es wohl.“

„Und jetzt? Wirst du um ihn kämpfen?“

„Wie denn?“, fragte ich zurück. „Ich weiß noch nicht mal, wo er ist. Oder was er vorhat.“

„Du hast ihn nicht angerufen?“

„Ich dachte, das wäre seine Sache.“

„Na hör mal“, begann sie, erklärte aber nicht weiter, was sie damit meinte.

„Möchtest du was trinken?“, fragte ich sie. Das hatte mir meine Mutter beigebracht: Wenn sonst nichts geht, erst mal was anbieten. Oje! Meine Eltern! Die wussten ja auch noch nichts. Aber da sie hundertachtzig Kilometer weit weg wohnten, hatte das noch etwas Zeit. Vielleicht sollte ich am Wochenende zu ihnen fahren und mich trösten lassen.

„Hast du einen Schnaps da?“, wollte Bibi wissen. Die Neuigkeit hatte ihr offensichtlich schwer zugesetzt.

Unsere Bar war relativ übersichtlich. Das meiste davon waren Überreste von Lorenz’ Geburtstagsfeier, wie passend. „Du hast die Wahl zwischen billigem Wodka, nicht ganz so billigem Wodka, Pfirsichlikör vom Discounter und einer Flasche Sekt. Nichts davon ist wirklich kalt.“

„Oje!“, sagte sie. „Dann lass uns wenigstens ein bisschen Stil bewahren und den Pfirsichlikör mit dem Sekt mischen. Wenn du dafür noch einen Eiswürfel hast, könnten wir es Bellini nennen.“

Eiswürfel hatte ich. Sogar Trinkhalme, wenn auch keine Cocktailschirmchen. Und während Bibi die Drinks mixte, durchsuchte ich auf ihren Befehl das Garderobenschränkchen, bis ich die Preisliste vom Pizzaservice fand. Weil Lorenz keine Pizza mochte, musste ich mich ziemlich in die Tiefe wühlen, aber vierzig Minuten später saßen wir beide, durch die ersten beiden Cocktails angenehm vorgeglüht, auf dem Sofa und aßen Quattro Stagioni mit den Fingern.

Vielleicht klingt es pervers, aber ich fühlte mich in diesem Moment verhältnismäßig wohl. Natürlich nur, bis Bibi satt war und das Thema „Wie man damit umgeht, wenn man von seinem Ehemann verlassen wurde“ wieder aufgriff. Persönliche Erfahrung hatte sie damit nur begrenzt, denn sie war nie verheiratet gewesen. Allerdings hatte sie bis vor drei Jahren eine ziemlich komplizierte Beziehung zu einem ziemlich bindungsscheuen Realschullehrer namens Oliver gehabt. Die beiden hatten sich schließlich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie ihm nach wie vor zum Geburtstag eine Karte schickte.

„Ich kann das immer noch nicht glauben, dass du keine Ahnung hattest“, sagte Bibi. „Schon allein das Kofferpacken. Das macht man doch nicht in fünf Minuten.“

„Wir hatten gestern Elternabend“, erklärte ich. „Vielleicht hat er auf diese Gelegenheit gewartet. Ich gehe nicht jeden Abend herum und kontrolliere die Schränke.“

„Nein, aber dass er nichts gesagt hat …“, beharrte Bibi. „Normalerweise gibt es doch schon eher Zeichen. Man muss sie nur richtig interpretieren. War denn nichts anders in letzter Zeit?“

„Doch, klar“, sagte ich. „Er hat während der Messe mit dieser Tussi aus dem Vertrieb geschlafen. Wie würdest du das interpretieren? Ich finde, das ist ein ziemlich deutliches Zeichen.“

„Ich dachte, das hättet ihr geklärt.“

„Offensichtlich nicht. Er hat mir nie versprochen, dass mit ihr nichts mehr läuft.“ Aber ich hatte es angenommen. Ehrlich gesagt war ich sicher davon ausgegangen, weil er so geknickt war. Weil er geheult und mir versichert hatte, dass er mich immer noch liebte. An jenem Samstagabend hatten wir uns mit allem Drum und Dran versöhnt und am nächsten Morgen den Gottesdienst geschwänzt, um uns nach dem Frühstück erneut, hm, zu versöhnen. Aber schon am Montag hatten wir uns wieder gestritten, und seitdem schlief ich, wie gesagt, im Gästezimmer. Bis heute, denn ab sofort würde ich wieder auf meine teure Kaltschaummatratze ziehen, die meinem Rücken so guttat.

„Aber was steckt dahinter?“, wollte Bibi wissen. „Fühlt er sich von dir nicht ernst genommen? Braucht er mehr Bestätigung?“

Ich wusste nicht, wer von uns den anderen ernster genommen hatte. Vielleicht war Lorenz tatsächlich in die Midlife-Crisis geraten, wie sie anfangs vermutet hatte. Schließlich war er zwei Jahre älter als ich, und die Phase, in der wir sehr intensiv versucht hatten, Eltern zu werden, hatte uns schon mental ziemlich beansprucht. Aber das war eigentlich seit einiger Zeit abgehakt. Dachte ich zumindest. Hatten wir vielleicht ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Leben entwickelt und nie wirklich darüber geredet?

Ich mixte mir noch einen Cocktail. Bibi beschloss, ihr Auto stehen zu lassen und es mir gleichzutun. „Gar nicht so übel, diese Kombination“, befand sie, und ich musste ihr zustimmen. Dann fragte sie mich, was ich denn jetzt machen wollte.

„Was meinst du damit?“, fragte ich zurück.

„Na, du musst doch einen Plan haben, was du jetzt tun willst! Entweder versuchst du, dass Lorenz zu dir zurückkommt, oder du organisierst dein Leben anders.“

„Ich weiß nicht, was ich will“, stellte ich trübsinnig fest. „Wie kann ich das denn herausfinden?“ Ich hatte den Verdacht, dass ich nie so wirklich gewusst hatte, was ich wollte, von meiner Berufsausbildung mal abgesehen, und selbst da war ich mir inzwischen nicht mehr sicher, ob die Arbeit noch zu mir passte. Aber in den meisten Fällen hatte ich eher das getan, was an mich herangetragen wurde: mit Lorenz ausgehen, mich mit ihm verloben, heiraten, in Grönefeld eine Eigentumswohnung kaufen. In die evangelische Kirche gehen, im evangelischen Kindergarten arbeiten, ein paar Jahre im Kindergottesdienst mitmachen, Pfarrfeste organisieren, einmal im Quartal bei alten Leuten das Kirchenblättchen verteilen. Ich hatte reagiert statt agiert. Und so war es auch jetzt. Lorenz hatte eine Entscheidung getroffen, und meine Aufgabe war es, damit umzugehen.

„Ich muss herausfinden, was ich will“, konstatierte ich, nicht besonders originell, und nahm zur Sicherheit noch einen großen Schluck. Der Pfirsichlikör war angenehm süß, der Sekt munterte mich auf, und der kombinierte Alkoholgehalt wirkte als eine Art Weichzeichner, sodass ich meine Situation nicht mehr als so traurig empfinden musste.

Bibi war begeistert. „Genau! Du musst diese Sache als Herausforderung sehen, an der du reifen kannst. Krisen sind auch Chancen, hat Pfarrer Seifert neulich noch gesagt. Das ist jetzt deine Chance.“

Chance wozu? Ich war mir nicht so ganz sicher. „Und was soll ich tun, deiner Meinung nach?“

„Erst mal musst du natürlich mit Lorenz sprechen“, sagte sie. „Ohne Klärung kannst du nichts Neues anfangen. Und ich finde es ganz wichtig, auch zu fragen, was Gott mit dir vorhat.“ (Sogar in betrunkenem Zustand vergessen wir unsere christliche Erziehung nicht …)

„So einfach ist das nicht“, wandte ich ein.

„Ich weiß“, sagte Bibi. „Aber ich denke, man muss gerade in solchen Situationen sehr genau hinschauen. Dann erkennt man auch die Zeichen, die Gott uns gibt.“

„Zeichen? Was meinst du mit Zeichen?“

„Nun stell dich nicht dümmer, als du bist“, mahnte sie. „Du weißt ganz genau, dass es immer wieder kleine Fingerzeige gibt. Unsere Aufgabe ist es, sie zu erkennen. Hätte ich zum Beispiel damals mehr darauf geachtet, was für Kataloge Oliver sich kommen ließ, dann wäre mir viel früher klar gewesen, dass er nie vorhatte, mich zu heiraten.“

„Das konntest du an den Katalogen ablesen?“, fragte ich verständnislos. Okay, wenn das Gegenteil der Fall gewesen wäre und er sich ständig Brautmode-Hefte angeschaut hätte, das würde mir einleuchten. Aber das wäre ja auch ungewöhnlich … Ich hatte jedenfalls noch nie von einem Mann gehört, der das freiwillig tat.

„Na klar! Erinnerst du dich nicht? Der hatte ständig diese Dinger mit Trekking-Bedarf und Outdoor-Klamotten vor der Nase.“

„Ich dachte, das wäre für Lehrer normal“, sagte ich. Natürlich wusste ich, dass Oliver einen Hang zu Fleecejacken, Wanderschuhen und Anoraks mit Pfotenlogo hatte, aber ich hätte das nie als etwas Bemerkenswertes gedeutet.

„In gewissem Maße vielleicht“, sagte Bibi. „Aber bei ihm war das extrem. Inzwischen weiß ich, was es zu sagen hat: Er wollte seine Freiheit nicht aufgeben. Er wollte raus aus dieser Beziehung. Wenn er sich zum Beispiel Bücher gekauft hat, dann solche Sachen über Himalaja-Besteigungen oder Leute, die quer durch die Anden wandern.“

Das war ja interessant. Vielleicht war mein Problem, dass ich bisher einfach vor mich hingelebt und überhaupt nicht auf solche Signale geachtet hatte? „Lorenz hat auch seit Jahren GEO abonniert“, fiel mir ein.

Bibis Augen leuchteten triumphierend. „Siehst du?“

Ich runzelte die Stirn und griff nach meinem Glas, aber es war schon wieder leer. Genau wie der Pfirsichlikör und die Flasche Sekt. „Bibi, das machen eine Menge Leute, und trotzdem verlassen die nicht alle ihre Ehepartner.“

„Weißt du das genau?“, widersprach sie. „Aber ist auch egal, natürlich kommen da mehrere Faktoren zusammen. Deshalb ist es ja so wichtig, die Zeichen zu erkennen.“ Jetzt hatte sie auch erkannt, dass unsere Getränke zur Neige gegangen waren. Das sah sie aber keineswegs als Zeichen, den Abend zu beschließen. „Was trinken wir denn jetzt?“, fragte sie. „Du hast noch Wodka, sagtest du? Gibt es denn etwas zu mixen dazu?“

Ich ging in die Küche, um nachzusehen. Orangensaft wäre gut, aber den hatten wir nicht. Ob Apfelsaft auch ging? Als ich mit der Tüte ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Bibi einige Bücher aus meinen Stapeln gezogen, die offensichtlich ihre Theorie stützten.

„Eindeutig!“, sagte sie und hielt mir die Titel unter die Nase. „Sieh mal, ganz typisch. ‚Über den Fluss und in die Wälder‘, ‚Wem die Stunde schlägt‘ und ‚In einem anderen Land‘ – er identifiziert sich wohl mit Machos wie Hemingway?“

„Die hat ihm sein Opa vererbt“, erklärte ich. Mir war die Symbolik der Titel nie aufgefallen, ich war einfach froh, dass wir solche Bücher im Regal stehen hatten statt zwei Meter Konsalik oder Schlimmeres. Aber der Gedanke an Lorenz’ Familie war nicht besonders angenehm. Seine Eltern wohnten nämlich in der Nähe und würden mich nun immer vorwurfsvoll angucken, wenn sie mich trafen.

„Umso bedeutsamer“, fand Bibi, „dass er sie behalten hat. Verstehst du nicht, was das für eine tiefere Aussage hat, Anna?“ Sie fischte im unteren Teil von einem der Stapel, und ich erkannte, was sie dort entdeckt hatte: ‚Witwe für ein Jahr‘ von John Irving. Aber sie hätte nicht versuchen sollen, es herauszuziehen, denn nun kippte der Stapel um und warf in einer Art Dominoeffekt auch den nächsten noch über den Haufen. Und so kam es, dass ein Buch ganz oben lag, das sie ansonsten überhaupt nicht bemerkt hätte, weil es keinen Rückentitel hatte. „Ui, das Kamasutra“, rief sie überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass du das hast.“ Ich hatte es auch nicht mehr gewusst, aber jetzt thronte es über einem Durcheinander, das mich ziemlich nervte, obwohl ich ja selbst schuld daran war.

„Das haben wir zur Hochzeit geschenkt bekommen“, murmelte ich. Von Lorenz’ Kollegen, die sich köstlich darüber amüsieren konnten.

„Und jetzt willst du es wegwerfen“, stellte Bibi fest. „Willst du damit sagen, dass das Thema Körperlichkeit in seiner Vielfalt für dich abgeschlossen ist?“

Ich hatte das Buch eigentlich nur deshalb aussortiert, weil es zur Hälfte Lorenz gehörte. Beim Reinschauen hatte ich jedes Mal das Gefühl gehabt, es hätte mehr mit Artistik zu tun als mit Sex. Bibi brauchte sich an dieser Stelle gar nicht als Hobbypsychologin zu betätigen und mir Sachen unterstellen, die jeder Grundlage entbehrten. „Bibi, das Kamasutra ist ungefähr so alltagstauglich wie … wie … Kaviar. Jeder tut so, als wäre es das Nonplusultra, aber im wirklichen Leben ist es nicht brauchbar.“

„Ach ja?“, fragte sie und hatte wieder diesen Psychoblick drauf. „Vielleicht hast du damit Lorenz aus dem Haus gegrault. Vielleicht ist es ihm zu langweilig geworden in eurer Ehe.“

Das empfand ich als empörende Unterstellung, aber immerhin war ich noch nicht betrunken genug, um ihr eine detaillierte Gegendarstellung zu präsentieren, auf die sie es vielleicht angelegt hatte. Stattdessen griff ich das Buch und schlug es an einer beliebigen Stelle auf. Eine orientalisch-farbenfrohe, aber anatomisch etwas verzerrte Zeichnung zeigte ein Paar in einer Stellung, in der die Frau recht biegsam und der Mann nicht nur kräftig, sondern auch absolut vertrauenswürdig sein musste, damit nicht einer von ihnen kurze Zeit später in der Notaufnahme landen würde. „Sieh dir das doch mal an!“, forderte ich Bibi auf. „Hältst du das für praktikabel?“

Sie riss das Buch mit großem Interesse an sich und studierte das Beispiel ausführlich. „Ach, die Antilope? Was soll ich dazu sagen? Wer wie ich seit drei Jahren enthaltsam lebt, dem fehlt vielleicht die Vorstellungskraft.“ Sie klappte den Band zu und griff stattdessen zu ihrem Glas.

Immerhin hatte ich sie so vom Thema abgebracht. Und auch wenn ich noch einen Moment lang fürchtete, sie würde sich dem Symbolgehalt des nächsten Buchs auf dem Stapel widmen (zufällig war es ‚Ich bin dann mal weg‘), wollte sie lieber noch rasch ihr Glas leer trinken und dann nach Hause gehen. Sie zog ihr Handy heraus und rief ein Taxi.

Bevor sie sich verabschiedete, redete sie mir noch mal ins Gewissen. „Zuerst rufst du Lorenz an, ja? Und dann setzt du dich hin und denkst über das nach, was du willst. Wir sehen uns morgen im Bibelgesprächskreis.“

Ach je, den hätte ich fast vergessen. Ich machte hinter ihr die Tür zu und wanderte zurück ins Wohnzimmer. Dass die Bücher so unordentlich herumlagen, störte mich inzwischen nicht mehr. Ich mixte mir noch eine kleine Portion Apfelsaft mit Wodka und versuchte nachzudenken. Aber zuerst, hatte mir Bibi eingeschärft, sollte ich ja Lorenz anrufen. Ich griff nach dem Telefon und wählte seine Handynummer.

Er meldete sich nach dem fünften Klingeln und klang etwas verschlafen. Warum bloß? Ein Blick zur Uhr klärte das auf: Es war schon halb eins. „Anna, was ist?“

„Du hast mich verlassen“, sagte ich. „Darüber müssen wir reden.“

„Und deshalb rufst du mich jetzt an?“, fragte er empört. „Du meldest dich den ganzen Tag nicht, und jetzt fällt dir ein, dass wir reden müssen?“ Ich war ziemlich sicher, dass im Hintergrund eine Stimme wisperte: „Deine Frau?“ Aber es war ganz leise, und ich meinte wahrzunehmen, dass er daraufhin „Schsch!“ machte.

„Du hättest dich ja auch melden können“, gab ich gelassen zurück. „Schließlich bist du doch gegangen. Und jetzt will ich wissen, wo ich dir das Kamasutra hinschicken soll.“ Ich suchte nach dem Buch zwischen den Sofakissen, aber dort war es nicht. Auf dem Fußboden lag es auch nicht, dort grinste mich nur Hape Kerkeling mit seinem Pilgerstab an.

„Anna, ich bin zu einem geschäftlichen Termin in Ravensburg und muss morgen früh raus“, sagte Lorenz. „Ich schlage vor, wir treffen uns am Wochenende und unterhalten uns in Ruhe.“ Hape hatte ein Hütchen auf, wie ich es noch nicht mal im Garten tragen würde, und einen Trekkingrucksack auf dem Rücken. Da fiel mir wieder Oliver ein und dass Bibi die Zeichen nicht rechtzeitig erkannt hatte.

„Beantworte mir nur eine Frage“, bat ich ihn. „Als du dich entschieden hast, GEO zu abonnieren, wusstest du da schon, dass du mich verlassen würdest?“

„Sag mal, bist du jetzt total durchgedreht?“, rief Lorenz aufgebracht. Er klang absolut nicht mehr schläfrig, und im Hintergrund zischelte eine Stimme: „Was ist denn?“

„Ich versuche die Zeichen zu verstehen“, erklärte ich ihm. „Weil du dir nie Wanderschuhe kaufen wolltest. Deshalb kam das so überraschend für mich.“

„Ich muss sagen, du überraschst mich auch ein wenig“, knurrte er. „Du klingst so komisch. Hast du was getrunken?“

„Pizza mit Apfelsaft“, sagte ich und musste lachen, weil das zwar falsch war, sich aber lustig anhörte. „Nein, es war Pfirsichlikör. Und Wodka. Und den Sekt vom Geburtstag.“

„Das erklärt vieles“, meinte er. „Hör zu, Anna. Ich lege jetzt auf und rufe dich zu einer angemessenen Tageszeit wieder an.“

„Und sag mir Bescheid wegen des Kamasutra“, rief ich ihm zu, aber das hörte er schon nicht mehr. Und als ich ihn kurze Zeit später deswegen noch mal anrufen wollte, hatte er sein Handy ausgeschaltet. Hape grinste mich immer noch an. „Das ist das Blöde an euch Männern“, sagte ich zu ihm. „Im Zweifelsfall seid ihr dann mal weg.“

2

Am nächsten Morgen wurde ich gegen halb fünf wach, weil mir kalt war, und das lag wiederum daran, dass ich angezogen, aber nicht zugedeckt, auf dem Sofa lag. Die Leuchte in der Küche war an und warf ein unerfreuliches Licht auf einen großen Haufen von Büchern, der auf dem Teppich lag. Noch unerfreulicher war der Anblick auf dem Couchtisch, wo sich mehrere Flaschen und Gläser um einen leeren Pizzakarton gruppierten und bestimmt schon hässliche Ränder hinterlassen hatten. Aber am schlimmsten war das Pochen in meinem Kopf, kombiniert mit der Übelkeit in meinem Magen.

Mühsam richtete ich mich auf und wusste mit einem Schlag Bescheid: Lorenz hatte mich verlassen, und deshalb hatte ich mir gestern die Kante gegeben, eher aus Versehen zwar, aber trotzdem.

Ich beschloss, ins Bett zu gehen, dort war es wenigstens warm. Auf dem Weg dorthin musste ich aber erst mal einen Abstecher ins Bad machen und mich übergeben. Ich war das nicht gewohnt, dachte ich. Sich vorzustellen, dass Schwangere das ständig erlebten – da war mir wohl einiges erspart geblieben. Immerhin ging es mir danach geringfügig besser, und ich legte mich mit letzter Kraft ins Bett.

Natürlich dachte ich zu diesem Zeitpunkt nur noch daran, wann es mir wohl jemals so schlecht gegangen war, und nicht daran, den Wecker zu stellen. Deshalb wurde ich auch nicht – wie eigentlich notwendig – um halb sieben wach, sondern erst um zehn nach acht. Das Hammerwerk in meinem Kopf war immer noch in vollem Betrieb, aber mein Magen hatte sich erholt. Mit schlechtem Gewissen rief ich im Kindergarten an.

„Tut mir leid, ich hab verschlafen!“

„Wir haben uns schon gewundert“, sagte Renate, „das kennen wir ja sonst gar nicht von dir. Hat dich denn Lorenz nicht geweckt?“

„Der ist geschäftlich in Ravensburg“, sagte ich. Wenigstens musste ich da nicht lügen. Wann und wie sollte ich bloß meine Kolleginnen von meinem neuen Familienstand unterrichten? Ich konnte mich an keinen Fall erinnern, bei dem ich eine solche Information nicht durch Tratsch aus dritter Hand erhalten hatte. „Hör mal, ich beeile mich und bin in einer Dreiviertelstunde da.“

„Ach, komm in einer Stunde und bring dafür direkt die Brötchen für das Schulanfänger-Frühstück mit. Heute ist so schlechtes Wetter, da hat keiner Lust, mit den Kindern zum Bäcker zu gehen.“ Vor allem Renate nicht. Für Aktivitäten im Freien war sie nicht so begeisterungsfähig.

„Geht in Ordnung“, sagte ich. „Bis gleich.“ Ich warf einen Blick aus dem Fenster, um das Wetter selbst zu taxieren, und bemerkte auf dem Parkplatz Bruno Walther, der gerade in sein Auto einsteigen wollte. Er wiederum hatte zu mir hochgeschaut. Jetzt schaute er noch intensiver und winkte grinsend.

Ich vermutete, dass er das tat, weil ich nur einen BH anhatte. Beim Umzug von der Couch ins Bett hatte ich es nicht mehr für nötig befunden, mein Nachthemd anzuziehen, aber offensichtlich hatte ich mich meiner Bluse und meiner Jeans entledigt.

Nicht, dass Bruno da etwas Weltbewegendes zu sehen bekommen hätte. Ich bin groß, dünn und eckig. Weibliche Formen wie bei Bibi findet man an mir nicht. Deshalb waren meine BHs auch eher ausgepolsterte Mogelpackungen, aber das war für Bruno vielleicht ein willkommenes Kontrastprogramm im Vergleich zu den Doppel-D-Körbchen seiner recht stattlichen Gattin.

Rasch machte ich einen Schritt zurück und wollte gerade ins Bad gehen, als das Telefon klingelte. Hatte Renate noch einen Auftrag für mich? Ich meldete mich etwas unprofessionell: „Hallo?“

„Spreche ich mit Frau Heimann?“, fragte eine unbekannte männliche Stimme mit typisch eintrainierter Höflichkeit, sodass ich schon davon ausging, es handle sich um einen Callcenteranruf, um mir etwas zu verkaufen, das ich nicht brauchte. Als ich das mit wenig Begeisterung bejahte, stellte er sich als Versicherungsagent der SüdWest-Versicherungen vor und verlangte meinen Mann zu sprechen.

„Oh, das tut mir leid, der ist nicht da.“

„Wann kommt er denn zurück?“

„Das weiß ich nicht genau“, erwiderte ich. „Er ist geschäftlich unterwegs. Worum geht es denn? Kann ich ihm etwas ausrichten?“

„Es geht um den Kfz-Haftpflichtschaden, den er uns gemeldet hat. Wir brauchen dazu einen Kostenvoranschlag der Werkstatt, sonst kommen wir da nicht weiter. Wissen Sie zufällig, ob er das schon veranlasst hat?“

„Keine Ahnung“, sagte ich. Mir war nicht mal bekannt, dass er einen Unfall gehabt hatte. Aber offenbar wusste ich vieles aus Lorenz’ Leben nicht. „Soll ich Ihnen mal seine Handynummer geben? Darüber müssten Sie ihn eigentlich erreichen können.“

„Ach, das wäre sehr hilfreich“, sagte der Mann. Ich diktierte ihm Lorenz’ Mobilnummer und ging unter die Dusche. Auch wenn ich nicht sehr lange darüber nachdachte, war ich doch davon ausgegangen, dass ich sinnvoll gehandelt hatte und die Sache damit für mich erledigt wäre.

Aber weit gefehlt. Damit begann erst eine Reihe von Anrufen, als wäre ich Lorenz’ Sekretärin. Das war schon seltsam, denn normalerweise ließ er so was wirklich durch seine Sekretärin erledigen. (Okay, er hatte keine eigene Sekretärin, aber er war innerhalb der Firmenhackordnung immerhin so weit aufgestiegen, dass die Assistentin des Geschäftsführers auch für ihn solche Dinge erledigte, damit er seine kostbare Zeit nicht mit zweitrangigen Kinkerlitzchen verplempern musste.)

Als ich am Nachmittag nach Hause kam, hatte ich gleich den nächsten Anruf auf dem Band. Eine Frau namens Gerstberg, die sich so aggressiv anhörte, dass ich lieber keinen Streit mit ihr haben wollte, hatte ihre Nummer hinterlassen und um Rückruf gebeten … „wegen dem Unfall“. Tapfer wählte ich die Nummer.

„Na, das wird aber auch langsam Zeit, dass sich da einer meldet“, begann sie das Gespräch.

„Tut mir leid, mein Mann ist unterwegs“, erklärte ich.

„Ich muss aber mit ihm sprechen!“, konterte sie mit Nachdruck.

„Ich kann ihn leider nicht erreichen“, sagte ich. „Ich könnte Ihnen aber …“

Weiter kam ich nicht, denn sie fiel mir ins Wort: „Ach nee? Der hat wohl nie Zeit, oder was? Das haben wir gerne, mir erst ins Auto fahren und sich dann vom Acker machen! Der Wagen ist fast neu, den will ich gemacht haben!“

„Natürlich wird das gemacht“, versuchte ich sie zu beruhigen. Wofür zahlten wir denn die teuren Prämien? Obwohl ich mich wunderte, dass Lorenz zur SüdWest gewechselt war. Das konnte noch nicht lange her sein, denn vor Kurzem meinte ich einige Rechnungen der bisherigen Versicherung gesehen zu haben. Hoffentlich gab es da keine Übergangsklausel, in der nicht der gesamte Versicherungsschutz galt? Rasch schob ich eine Einschränkung hinterher: „Wenn er denn Schuld hatte.“

Das brachte Frau Gerstberg vollends in Rage. „Was soll das heißen, wenn er Schuld hatte? Natürlich hatte er Schuld! Wenn er wie ein Geisteskranker aus der Kantstraße gebrettert kommt und mir die Vorfahrt nimmt! Das ist ja wohl unstrittig! Die Leute fahren da alle viel zu schnell, da sollten sie mal eine Radarfalle aufstellen, damit solche Leute wie Ihr Mann, die rücksichtslos das Leben anderer Menschen in Gefahr bringen, richtig zur Kasse gebeten werden!“

„Sind Sie denn verletzt?“, fragte ich neugierig. Wenn man das hörte, konnte man glauben, Lorenz hätte eine Amokfahrt begangen, und das konnte ich mir bei meinem Mann nun gar nicht vorstellen.

„Nein, ich war ja angeschnallt“, sagte sie. „Aber die Beifahrertür ist total verbeult, und der Seitenspiegel ist ab, und an der hinteren Tür sind auch Kratzer.“