INHALT

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Timothy Keller

DER ZUGEWANDTE
JESUS

Unerwartete Antworten

auf die großen Fragen des Lebens

first

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Encounters with Jesus. Unexpected Answers to Life’s Biggest Questions
© 2013 by Timothy Keller
Originalausgabe: Dutton
Published by the Penguin Group
Penguin Group (USA) LLC
375 Hudson Street
New York, New York 10014

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Hübsch

Die Bibelstellen sind, wenn nicht anders angegeben, der Übersetzung
Hoffnung für alle®. Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.®.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung von ’fontis – Brunnen Basel.
Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten.

Weitere verwendete Übersetzungen sind wie folgt gekennzeichnet:
EIN: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift
(Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1980).
LUT: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers
in der revidierten Fassung von 1984. Durchgesehene Ausgabe in neuer
Rechtschreibung. © 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
ELB: Revidierte Elberfelder Bibel (Witten: SCM R.Brockhaus im
SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 1985/1991/2008).
NL: Neues Leben. Die Bibel (Witten: SCM R.Brockhaus im
SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 2002 und 2006).

FÜR DIE PASTOREN UND MITARBEITER
DER STUDENTENSEELSORGE, DIE MIR HALFEN,
ZUM GLAUBEN ZU FINDEN, UND DIE AUCH DEN GLAUBEN
MEINER SÖHNE UND IHRER FRAUEN WACHSEN LIESSEN,
BESONDERS DIE MITARBEITER DER REFORMED UNIVERSITY
FELLOWSHIP IN DEN VEREINIGTEN STAATEN UND DER
UNIVERSITIES AND COLLEGES CHRISTIAN FELLOWSHIP,
DER NACHFOLGEORGANISATION VON
INTER-VARSITY FELLOWSHIP, IN GROSSBRITANNIEN.

INHALT

Einführung

Kapitel 1: Ein skeptischer Schüler

Kapitel 2: Der Insider und die Ausgegrenzte

Kapitel 3: Die trauernden Schwestern

Kapitel 4: Die Hochzeitsfeier

Kapitel 5: Die erste Christin

Kapitel 6: Der große Feind

Kapitel 7: Die beiden Anwälte

Kapitel 8: Der gehorsame Herr

Kapitel 9: Zur rechten Hand des Vaters

Kapitel 10: Der Mut der Maria

Danksagung

Über den Autor

Anmerkungen

Einführung

Ich bin in einer der großen protestantischen Kirchen aufgewachsen, aber im College habe ich persönliche und geistliche Krisen durchlebt, die mich dazu brachten, meine grundlegendsten Überzeugungen über Gott, die Welt und mich selbst infrage zu stellen.

In diesen Jahren kam ich in Kontakt mit ein paar Christen, die in Bibelstudienkreise gingen. In diesen Gruppen kam dem Leitenden nicht die Rolle eines Lehrers oder Referenten zu; vielmehr war es seine oder ihre Aufgabe, die ganze Gruppe beim Lesen und der Interpretation des gewählten Bibeltextes zu unterstützen. Es gab einige einfache Grundregeln, die für unser gedeihliches Miteinander entscheidend waren. Man begegnete der Bibel nach dem Grundsatz: „Im Zweifel für den Angeklagten“ – der Text galt grundsätzlich als verlässlich und seine Verfasser als kompetent. Die Interpretation einzelner Teilnehmer durfte dem Text nicht übergestülpt werden; wir mussten als Gruppe gemeinsam zu unseren Schlussfolgerungen kommen. Wir bemühten uns, als Gemeinschaft nach den Schätzen in der Bibel zu graben, weil wir davon ausgingen, dass wir gemeinsam weit mehr entdecken würden, als es jeder Einzelne vermocht hätte.

Noch bevor ich mir selbst darüber im Klaren war, wo ich eigentlich im Blick auf meinen eigenen Glauben stand, bat man mich, eine solche Gruppe zu leiten, und stattete mich dafür mit Bibelstudien von Marilyn Kunz und Catherine Schell aus, die den Titel trugen: Conversations with Jesus Christ from the Gospel of John (Gespräche mit Jesus Christus aus dem Johannesevangelium). Das Buch befasste sich mit 13 Abschnitten aus dem Johannesevangelium, in denen Jesus Gespräche mit einzelnen Menschen führte. Diese Bibelstudien halfen unserer Gruppe, Schichten an Einsichten und Bedeutung freizulegen, die uns alle überraschten. Während ich diese Berichte über das Leben von Jesus durcharbeitete, hatte ich mehr als je zuvor das Empfinden, dass die Bibel in keiner Hinsicht ein gewöhnliches Buch war. Es war diese Beschäftigung mit Begegnungen mit Jesus, die mich zum ersten Mal eine unerklärliche Lebendigkeit und Kraft im Text wahrnehmen ließ. Diese Gespräche, Jahrhunderte zuvor geführt, waren frappierend relevant und aufrüttelnd für michheute. Ich fing an, die Bibel nicht nur zu lesen, weil es mich intellektuell reizte, sondern um Gott zu finden.

Ich hatte gelernt, dass Geduld und Bedachtsamkeit Schlüssel zur Erkenntnis sind. Einmal besuchte ich einen Kongress für Leiter von Bibelstudiengruppen. Eine der Übungen dort werde ich nie vergessen. Die Gruppenleiterin gab uns einen einzigen Bibelvers, Markus 1,17: „Da forderte Jesus sie auf: Kommt mit mir. Ich will euch zeigen, wie ihr Menschen für Gott gewinnen könnt.“ Sie bat uns, uns eine halbe Stunde lang mit diesem Vers (der natürlich aus einer Begegnung mit Jesus ausgewählt war) zu beschäftigen. Sie warnte uns, dass wir nach fünf oder zehn Minuten vermutlich glauben würden, wir hätten nun alles entdeckt, was es zu entdecken gab, forderte uns aber auf, dann dranzubleiben. „Schreibt mindestens dreißig Punkte auf, die ihr an diesem Vers seht oder lernt.“ Nach zehn Minuten war ich fertig (dachte ich zumindest) und gelangweilt. Aber pflichtgemäß blieb ich dran und hielt Ausschau nach mehr. Und zu meiner Überraschung gab es mehr. Als wir alle wieder zusammenkamen, bat die Leiterin uns, die eindrücklichste, bewegendste und persönlich hilfreichste Erkenntnis von unserer Liste weiterzugeben. Dann stellte sie eine Frage: „Wer von euch hat seine beste Erkenntnis in den ersten fünf Minuten gefunden? Hebt die Hand.“ Keine Hand ging hoch. „Nach zehn Minuten?“ Ein, zwei Hände. „Fünfzehn?“ Mehr Hände. „Zwanzig?“ Jetzt gingen viele Hände hoch. „Fünfundzwanzig?“ Jetzt hoben die meisten – lachend und kopfschüttelnd – die Hand.

Diese anfänglichen Erfahrungen mit geduldigem, induktivem Studium des biblischen Textes haben mein geistliches Leben verändert. Ich entdeckte, dass Gott durch sein Wort zu mir sprach, wenn ich Zeit investierte und die angemessene Haltung von Offenheit und Vertrauen aufbrachte. Und diese Erfahrungen haben mich auch auf meinen Berufsweg gebracht, indem sie mir Werkzeuge an die Hand gaben, auch anderen zu helfen, Gott durch die Bibel reden zu hören. Seit fast vierzig Jahren predige ich nun oder unterrichte Menschen im Bibellesen, aber die Basis für jede Ansprache, jeden Vortrag, jede Predigt ist und bleibt das, was ich im College gelernt habe: wie man über einem Text sitzt und sorgfältig seine ganze Tiefe auslotet.

Noch immer akzeptiere ich die Autorität der gesamten Bibel; noch immer lerne und lehre ich gern aus allen ihren Büchern. Aber die persönliche Wucht der geistlichen Autorität der Bibel habe ich zuerst in den Evangelien verspürt, und da vor allem in jenen Gesprächen, die Jesus mit Einzelnen geführt hat – mit dem skeptischen Schüler Nathanael, mit seiner irritierten Mutter bei einer Hochzeit, mit dem Theologieprofessor, der mitten in der Nacht zu ihm kam, mit der Frau am Brunnen, mit Maria und Marta in ihrer Trauer und mit anderen.

Vermutlich könnte man sagen, dass viele meiner eigenen prägenden Begegnungen mit Jesus aus der Beschäftigung mit diesen Texten in den Evangelien, in denen Jesus Einzelnen begegnet, erwachsen sind.

Vor einigen Jahren schrieb ich mein Buch Warum Gott? Vernünftiger Glaube oder Irrlicht der Menschheit? Ich bin seit vielen Jahren Pastor in New York City und habe die Argumente von Skeptikern immer zu schätzen gewusst und anerkannt, dass sie eine außerordentlich wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, zu definieren oder zu klären, was eigentlich am Christentum einzigartig ist. Es ärgert mich, wenn Christen solche Fragen herablassend oder leichtfertig vom Tisch wischen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Zweifel und Fragen, die ich selbst damals im College mitbrachte in meine Bibelstudiengruppe, und daran, wie dankbar ich war, dass man sie dort ernst nahm. Ich habe erfahren: Zeit und Mühe zu investieren, um schwierige Fragen zu beantworten, gibt glaubenden Menschen die Gelegenheit , den eigenen Glauben zu vertiefen, und schafft zugleich eine Möglichkeit, dass zweifelnde Menschen sich für die Freude des christlichen Glaubens öffnen können.

Daher war ich begeistert, als ich 2012 von einer Studentengruppe gebeten wurde, an fünf Abenden Vorträge für Studenten – die meisten davon dem Glauben gegenüber kritisch – in der Stadthalle von Oxford, England, zu halten. Wir vereinbarten, dass ich über Begegnungen einzelner Menschen mit Jesus im Johannesevangelium sprechen würde. Dies schien mir eine gute Wahl für diesen Anlass, denn die Berichte über diese Begegnungen lassen die wesentlichen Lehren und die Persönlichkeit von Jesus besonders deutlich werden. Das hatte ich persönlich ja vor so vielen Jahren auch erlebt. Während ich mich auf die Vorträge vorbereitete, kam mir der Gedanke, dass diese Begegnungen noch aus einem anderen Grund genau das Richtige waren. Viele davon zeigen uns Jesus, wie er die großen, universellen „Sinn-des-Lebens“-Fragen anspricht: Wozu ist diese Welt da? Was läuft in ihr falsch? Was (wenn überhaupt etwas) kann sie wieder ins Lot bringen, und wie? Wie können wir selbst dazu beitragen, sie wieder ins Lot zu bringen? Und wo vor allem sollten wir nach Antworten auf diese Fragen suchen? Dies sind die großen Fragen, die sich jeder irgendwann stellen muss – und die Menschen, die aufrichtig zweifeln, besonders dringlich erkunden möchten.

Wohl jeder hat seine eigene Arbeitshypothese im Blick auf Antworten auf diese Fragen. Wer ohne eine solche auszukommen versucht, wird bald überwältigt werden davon, wie sinnlos das Leben erscheint. Wir leben in einer Zeit, in der manche beharrlich behaupten, wir bräuchten derartige Antworten nicht und sollten besser zugeben, dass das Leben nichts anderes ist als ein kleines, sinnloses Beschäftigungsprogramm im großen Ganzen des Universums und es dabei belassen. Amüsier dich, so gut du kannst, solange du lebst, sagen sie, und wenn du tot bist, kannst du dir keine Sorgen mehr darüber machen. Warum also sich bemühen, den Sinn des Lebens zu finden?

Der französische Philosoph Luc Ferry allerdings (der, nebenbei bemerkt, selbst durchaus kein Christ ist) nennt solche Äußerungen in seinem Buch A Brief History of Thought „zu brutal um ehrlich zu sein“. Er meint, die Leute, die sie von sich geben, könnten sie nicht wirklich von ganzem Herzen glauben. Menschen können nicht leben ohne Hoffnung oder Sinn oder die Überzeugung, dass es Dinge gibt, für die es sich mehr lohnt, sein Leben hineinzuinvestieren, als für andere. Wir wissen also, dass wir Antworten auf die großen Fragen haben müssen, damit wir, wie Ferry es ausdrückt, „gut und daher frei leben, fähig zu Freude, Großzügigkeit und Liebe.“

Ferry vertritt die These, dass fast alle unsere denkbaren Antworten auf diese großen philosophischen Themen aus fünf oder sechs bedeutenden Denksystemen stammen. Und dass heute so viele der verbreitetsten Antworten vor allem aus einem System stammen. Ein Beispiel: Halten Sie es ganz allgemein für eine gute Idee, zu Ihren Feinden freundlich zu sein und ihnen die Hand zu reichen, statt sie umzubringen? Ferry sagt, diese Idee – man solle seine Feinde lieben – stamme aus dem Christentum und nirgendwoandersher. Und wie wir sehen werden, gibt es noch eine Fülle von anderen Ideen, die wir für gültig oder edel oder schlicht für schön halten, die allein dem Christentum entstammen.

Wenn Sie also sichergehen wollen, dass sie zu begründeten, bedachten Antworten auf diese fundamentalen Fragen kommen, müssen Sie sich zumindest mit den Inhalten des Christentums vertraut machen. Die beste Weise, das zu tun, ist es, sich anzusehen, wie Jesus selbst sich und seine Absichten den Menschen erklärte, die ihm begegneten – und wie seine Antworten auf ihre Fragen ihr Leben veränderten. Das war die Vorgabe für jene Vorträge in Oxford, die Grundlage für die ersten fünf Kapitel dieses Buches.

Aber ich musste noch weiter gehen. Denn wenn man erst einmal diese Berichte von lebensverändernden Begegnungen mit dem leibhaftigen Jesus studiert hat, wenn man den Glanz seines Charakters und seiner Bestimmung gesehen und seine Antworten auf die großen Fragen gehört hat, dann stellt sich noch immer eine andere Frage: Wie kann ich so viele Jahrhunderte später diesem Jesus begegnen? Kann ich ebenfalls, wie diese Augenzeugen, verändert werden?

Das christliche Evangelium sagt, dass wir gerettet – für immer verwandelt – werden nicht durch das, was wir tun, nicht einmal durch das, was Jesus den Menschen, die er trifft, sagt, sondern durch das, was er für uns tut. Daher können wir die lebensverändernde Gnade und Macht dieses Jesus am besten erkennen, wenn wir uns die wichtigsten Begebenheiten seines Lebens ansehen: seine Geburt, seine Versuchung in der Wüste und im Garten Gethsemane, seine letzten Stunden mit seinen Jüngern, seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung und Himmelfahrt. Eben durch sein Handeln in diesen Momenten schafft Jesus an unserer Stelle ein Heil, das wir selbst niemals hätten erreichen können. Das zu sehen kann schon verändern: Aus einer flüchtigen Bekanntschaft mit Jesus als großem Lehrer und historischer Figur kann eine lebensverändernde Begegnung mit ihm als Erlöser und Retter werden.

Die zweite Hälfte des Buches wird also einige dieser Kernbegebenheiten im Leben von Jesus in den Blick nehmen. Grundlage für diese Kapitel war eine Vortragsreihe im Harvard Club, New York City, wo ich ein paar Jahre lang regelmäßig bei Frühstückstreffen zu Führungspersonen aus Kultur, Wirtschaft und Politik sprach. Wie in Oxford waren auch hier viele der Anwesenden hochgebildet und sie teilten mir ihre eigenen Zweifel und Fragen mit, was sehr hilfreich war. Und in beiden Vortragsreihen griff ich zurück – wie ich es in Jahrzehnten immer wieder getan habe – auf jene Evangelientexte, in denen ich selbst zuerst gespürt habe, dass die Schrift „voller Leben und Kraft“ ist (Hebräer 4,12). So wie es mich damals jene Bibelgruppenleiterin gelehrt hatte, entdeckte ich jedes Mal mehr und Neues darin, und war jedes Mal mehr begeistert, weiterzugeben, was ich entdeckt hatte.

Und es gab noch einen weiteren Grund für mich, warum ich dieses Buch schreiben wollte. Als meine Enkeltochter Lucy achtzehn Monate alt war, war es deutlich, dass sie weitaus mehr wahrnehmen als zum Ausdruck bringen konnte. Sie zeigte dann auf etwas oder hob etwas auf und starrte dann mich an – hochfrustriert. Sie wollte mir etwas mitteilen, aber sie war zu klein, um es zu können. Diese Art von Frustration kennt wohl jeder in unterschiedlichen Lebenssituationen. Da haben Sie etwas Überwältigendes erlebt, und dann kommen Sie vom Berggipfel wieder herunter oder verlassen den Konzertsaal und versuchen, dieses Erlebnis jemand anderem zu vermitteln. Aber Ihre Worte können dem nicht im Mindesten gerecht werden.

Christen werden sicher etwas Ähnliches empfinden, wenn sie versuchen, ihre Erfahrungen mit Gott zu beschreiben. Als Prediger und Bibellehrer ist es meine Aufgabe und mein größter Wunsch, anderen zu helfen, selbst zu sehen, welche Schönheit in Christus und in dem, was er getan hat, liegt. Aber die Unzulänglichkeit meiner Worte (vielleicht auch von Worten überhaupt), diese Schönheit zu vermitteln, ist für mich eine Quelle ständiger Frustration und des Bedauerns. Dennoch gibt es nichts in der Welt, das uns in diesem schwierigen Unterfangen besser hilft als diese Berichte in den Evangelien von Begegnungen, die Jesus mit Menschen hatte.

Ob Sie diese Texte nun zum ersten Mal lesen oder zum hundertsten Mal, ich hoffe, dass Sie (wieder) überwältigt werden von Jesus – von seiner Person und davon, was er für uns getan hat.

Kapitel 1
Ein skeptischer Schüler

Die erste Begegnung, die ich betrachten möchte, ist tiefgründig und eindrucksvoll zugleich. Es ist die Begegnung mit einem kritischen Schüler. Es geht darin um die vielleicht grundlegendste aller großen Lebensfragen: Wo sollen wir eigentlich nach Antworten auf unsere großen Fragen suchen und wo besser nicht? So hat diese Begegnung all denen etwas zu sagen, die dem Christentum kritisch gegenüberstehen. Und auch Christen, die sich der Skepsis von Menschen gegenübersehen, die nicht glauben.

Diese Begegnung findet sich gleich nach dem Absatz am Beginn des Johannesevangeliums, den man den „Prolog“ genannt hat. Der französische Philosoph Luc Ferry stellt heraus, dass dieser Prolog ein Wendepunkt in der Geistesgeschichte ist. Die Griechen glaubten, dass das Universum eine rationale und moralische Ordnung habe; sie nannten diese natürliche Ordnung Logos. Für die Griechen lag der Sinn des Lebens darin, diese Ordnung in der Welt zu meditieren und zu erfassen. Ein gut geführtes Leben war für sie ein Leben, das dieser Ordnung entsprach. Der Verfasser des Johannesevangeliums greift nun bewusst auf diesen Begriff Logos zurück und sagt über Jesus:

Am Anfang war das Wort (Logos). Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott selbst. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen, und nichts ist ohne das Wort geworden … Das Wort wurde Mensch und lebte unter uns. Wir selbst haben seine göttliche Herrlichkeit gesehen … (Johannes 1,1-3.14)

Diese Aussage schlug wie ein Blitz in die Welt der antiken Philosophen ein. Wie die griechischen Philosophen – und anders als viele zeitgenössische – bekräftigt Johannes, dass es für unser Leben ein telos gibt, eine Bestimmung – etwas, wofür wir geschaffen wurden, das wir erkennen und achten müssen, wenn wir gut und frei leben wollen. Er verkündet, dass die Welt nicht das Produkt blinder, zufälliger Kräfte ist; ihre Geschichte ist eben nicht, wie William Shakespeare es ausdrückte, „ein Märchen, erzählt von einem Blödling, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“1.

Aber dann behauptet die Bibel, dass der Sinn des Lebens nicht in einem Prinzip oder einer abstrakten rationalen Struktur liegt, sondern in einer Person, einem konkreten Menschen, der über diese Erde gegangen ist. Ferry bemerkt, dieser Anspruch sei den Philosophen als Verrücktheit erschienen. Aber er führte zu einer Revolution. Wenn das Christentum wahr ist, dann ist das gute Leben nicht zuerst in philosophischem Nachsinnen und intellektuellem Streben zu finden, was an den meisten Menschen dieser Welt vorbeigeht. Vielmehr ist es in der Begegnung mit einer Person zu finden, in einer Beziehung, die für jedermann an jedem Ort und von jedem erdenklichen Hintergrund aus zugänglich ist.

Um uns nun gleich zu zeigen, wie das im wirklichen Leben aussieht, wird Johannes konkret und präsentiert uns Jesus im Gespräch mit einer Gruppe von Schülern. In der Zeit Jesu gab es keine Universitäten; wer etwas lernen wollte, schloss sich einem Lehrer an. Es gab viele spirituelle Lehrer, und es gab viele, die ihnen folgten und ihre Schüler oder Jünger wurden. Der kantigste und vielleicht kämpferischste Lehrer seiner Zeit war wohl Johannes der Täufer. Er war sehr bekannt, hatte viele Jünger und etliche besonders eifrige Schüler. Die Geschichte kennt einige davon: Andreas mit seinem Bruder Petrus und Philippus, der seinen Freund Nathanael mitbrachte. Einige unter den Schülern glaubten bereits, was ihr Lehrer über den kommenden Messias sagte, den er „das Lamm Gottes“ nannte (Johannes 1,29). Aber manche zweifelten auch. Nathanael gehörte zu diesen kritischen Schülern, bis er selbst eine Begegnung mit Jesus Christus hatte.

Als Jesus am nächsten Tag nach Galiläa gehen wollte, traf er unterwegs Philippus. Auch ihn forderte er auf: „Folge mir!“ Philippus stammte wie Andreas und Petrus aus Betsaida. Kurze Zeit später begegnete Philippus Nathanael und erzählte ihm: „Endlich haben wir den gefunden, von dem Mose und die Propheten sprechen. Er heißt Jesus und ist der Sohn von Josef aus Nazareth.“ „Nazareth?“, entgegnete Nathanael. „Was kann von da schon Gutes kommen!“ Doch Philippus antwortete ihm: „Du musst ihn selbst kennenlernen. Komm mit!“

Als Jesus Nathanael erblickte, sagte er: „Hier kommt ein aufrichtiger Mensch, ein wahrer Israelit!“ Nathanael staunte: „Woher kennst du mich?“ Jesus erwiderte: „Noch bevor Philippus dich rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen.“

„Meister, du bist wirklich Gottes Sohn!“, rief Nathanael. „Du bist der König Israels!“ Jesus sagte: „Das glaubst du, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah. Aber du wirst größere Dinge zu sehen bekommen.“ Und er fuhr fort: „Ich sage euch die Wahrheit: Ihr werdet den Himmel offen und die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen sehen zwischen Gott und dem Menschensohn!“ (Johannes 1,43-51)

Mir liegt daran, dass Sie zuerst verstehen, was Nathanaels Problem war. Nathanael ist mindestens ein intellektueller Snob, wenn nicht gar ein scheinheiliger Frömmler. Philippus kommt und sagt zu ihm: „Ich möchte dich mit dem neuen Rabbi bekannt machen; er hat Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit, und er stammt aus Nazareth.“ Nathanael spottet: „Nazareth!?“ Jeder in Jerusalem sah auf die Leute aus Galiläa herab. Diese Haltung ist typisch menschlich. In manchen Wohnvierteln sieht man auf andere Wohnviertel herab: „Da wohnt man doch nicht.“ Und was machen die Leute, die so herablassend behandelt werden? Sie suchen sich andere, auf die sie nun herabschauen können. Und so geht es endlos weiter.

Nathanael war zwar nicht aus Jerusalem, sondern aus einer Ecke Galiläas, aber er fand, er habe das Recht, auf einen Ort wie Nazareth herabzusehen. Nazareth galt als besonders rückständiger und primitiver Flecken in Galiläa. Es gibt sie immer: die richtigen Leute, die smarten Leute, die passenden Leute; und dann gibt es da noch (senken Sie die Stimme) die anderen da. Und die richtige Methode, um den richtigen, smarten, passenden Leuten zu zeigen, dass man einer von ihnen ist, ist es, die Augen zu verdrehen, wenn die falschen Menschen oder die falschen Orte erwähnt werden.

Wir wollen, dass andere uns für fähig und intelligent halten; aber oft versuchen wir diesen Eindruck nicht durch eigene respektvolle und sorgsame Argumentation zu erwerben, sondern durch Gespött und Geringschätzung für andere. Andere sind dann nicht einfach im Irrtum, sondern sie sind rückständig, out, intellektuelle Zwerge. Nathanael konnte nicht glauben, dass jemand aus Nazareth Antworten auf die großen Fragen seiner Zeit haben könnte.

„Du willst mir weismachen, er hat die Antworten – und er kommt aus Nazareth? Ähem … ich bin nicht überzeugt.“ Er verdreht die Augen. „Er kommt wirklich daher? Also ehrlich …“

Wenn Sie eine ähnliche Sicht auf das Christentum haben oder jemanden kennen, der diese Perspektive hat, wäre das keine Überraschung. Heute haben viele Menschen eine ähnliche Meinung über den christlichen Glauben, wie Nathanael sie zu Nazareth hatte. Das Christentum kam damals aus Nazareth, und es kommt immer noch aus Nazareth. Die Leute verdrehen die Augen angesichts ihrer Vorstellung davon, was das Christentum sei und welche Aussagen es darüber macht, wer Christus ist und was er für sie getan hat und tun kann. Die angesagten Leute, die, die es wissen müssen, sagen alle: „Christentum – erzähl mir nichts. Ich bin damit groß geworden. Aber ich hab schon früh gemerkt, das ist nichts für mich. Ich hab mich entschieden.“ Und so kommt Jesus immer noch aus Nazareth.

Wenn das auch Ihre Haltung zum christlichen Glauben ist, habe ich zwei Hinweise für Sie, weil es sein könnte, dass Sie zwei Probleme haben, denen Sie sich stellen sollten. Der erste ist: Diese Art von Geringschätzung ist immer tödlich. Sie tötet absolut jede Kreativität und jede Möglichkeit, ein Problem zu lösen, ganz zu schweigen von jeder Hoffnung auf eine Beziehung. Tara Parker-Pop zählt in ihrem Ehebuch For Better das Augenverdrehen zu den eindeutigsten Anzeichen dafür, dass eine Beziehung ernsthaft gefährdet ist. Eheberater achten darauf, denn es signalisiert Verachtung für den anderen. Eine gelingende Ehe kann viel verkraften: Enttäuschung, Meinungsverschiedenheiten, Schmerz, Frustration. Was sie nicht verkraften kann, ist Geringschätzung. Verachtung tötet buchstäblich die Beziehung.

Ein konkreteres Beispiel: Sie haben Ihren Schlüssel verlegt. Wenn Sie überall dort nachgesehen haben, wo er sein „kann“, und ihn doch nicht gefunden haben, werden Sie anfangen müssen, an Orten zu suchen, wo er „eigentlich nicht sein kann“. Und natürlich werden Sie ihn dort finden. Also: Nichts ist verhängnisvoller für Lebensweisheit und gute Beziehungen, als wenn man bestimmte Ideen – oder bestimmte Menschen – von vornherein ablehnt.

Das zweite Problem, das Sie haben, wenn Sie das Christentum gering schätzen, ist gravierender. Sie schneiden sich dann selbst von der Lebensader ab, die Sie mit vielen Ihrer vermutlich zentralen Werte verbindet. Wie schon bemerkt hat das Christentum eine der grundlegenden Ideen einer friedlichen Zivilisation hervorgebracht – dass man seine Feinde lieben und nicht töten soll. Eine weitere Idee, die für unser heutiges Bewusstsein zentral ist, so stellt Luc Ferry heraus, ist die Vorstellung, dass jeder einzelne Mensch, unabhängig von Begabung oder Vermögen oder Rasse oder Geschlecht, im Ebenbild Gottes geschaffen ist und daher Würde und Rechte besitzt. Ferry sagt, ohne bestimmte Lehren des Christentums und ohne die Lehre, dass der Logos eine Person ist, „hätte sich die Philosophie der Menschenrechte, die wir heute alle bejahen, niemals durchgesetzt.“

Noch eine weitere Idee, die heute als selbstverständlich gilt, kommt aus der Bibel – nämlich die Vorstellung, man solle für die Armen sorgen. Als die Mönche im vorchristlichen Europa das Christentum verbreiteten, hielten alle gesellschaftlichen Eliten die Idee, man solle seine Feinde lieben und sich um die Armen kümmern, für verrückt. Eine Gesellschaft, in der das galt, würde zerbrechen, denn die Welt würde einfach nicht funktionieren. Die Begabten und Starken herrschen. Der Sieger kriegt alles. Die Starken fressen die Schwachen. Die Armen sind für das Leid geboren. War es nicht schon immer so? Aber die Gedanken des Christentums revolutionierten das heidnische Europa, indem sie die Würde der Person, die Bedeutung der Feindesliebe und die Sorge für die Armen und Waisen betonten.

Sie mögen nun sagen: „Das ist ja ein ganz interessantes historisches Argument, dass diese Ideen aus der Bibel stammen und durch die Kirche verbreitet wurden. Aber ich kann auch daran glauben, ohne an das Christentum zu glauben.“ Auf einer Ebene mag das so sein; aber ich würde Ihnen gern aufzeigen, dass eine solche Reaktion kurzsichtig wäre.

Das Buch Genesis gibt uns einen Einblick, wie es vor der Offenbarung der Bibel in den Kulturen der Menschheit aussah. Etwas, was wir schon in frühester Zeit beobachten, ist die Praxis des Erstgeburtsrechts – der älteste Sohn erbte das gesamte Vermögen, und auf diese Weise sicherte eine Familie ihren Status und Platz in der Gesellschaft. Also bekamen der zweite oder dritte Sohn nichts oder fast nichts. Aber in der Bibel ist es durchgängig anders: Wenn Gott jemanden erwählt, um durch ihn zu wirken, dann ist es immer ein jüngerer Sohn. Er wählt Abel, nicht Kain; er wählt Isaak, nicht Ismael. Er wählt Jakob, nicht Esau. Er wählt David, nicht seine elf älteren Brüder. Immer und immer wieder wählt er nicht den Ältesten, nicht den, den die Welt erwartet und belohnt. Niemals den aus Jerusalem, immer den aus Nazareth.

Ein weiterer Zug der alten Kulturen, der im Buch Genesis deutlich wird, ist es, dass in diesen Gesellschaften Frauen, die viele Kinder geboren hatten, eine besondere Ehrenstellung genossen. Viele Kinder bedeuteten wirtschaftlichen Erfolg, militärischen Erfolg und natürlich, dass das Fortbestehen des Familiennamens gesichert war. Und daher wurden Frauen, die keine Kinder bekommen konnten, stigmatisiert; es galt als Schande. Aber in der Bibel ist es durchgängig anders: Wenn Gott uns zeigt, wie er durch eine Frau wirkt, dann wählt er die, die keine Kinder haben können, und öffnet ihren Schoß. Es sind verachtete Frauen, aber Gott zieht sie denen vor, die in den Augen der Welt geliebt und gesegnet sind. Er erwählt Abrahams Frau Sara; Isaaks Frau Rebekka, Samuels Mutter Hanna und Elisabeth, die Mutter Johannes des Täufers. Gott wirkt immer durch die Männer oder Jungen, die niemand wollte, durch die Frauen oder Mädchen, die niemand wollte.

Vielleicht denken Sie jetzt, dieser Aspekt des Christentums sei ja sehr nett und erhebend – Gott liebt eben Verlierer. Vielleicht sagen Sie: „Diesen Aussagen der Bibel kann ich zustimmen. Aber all das andere – diese Sache mit dem Zorn Gottes und dass Christus sein Blut vergoss und eine leibhaftige Auferstehung –, das kann ich nicht annehmen.“ Aber gerade diese Aussagen der Bibel – die herausfordernden, übernatürlichen – sind zentral, nicht unerheblich. Im Kern der einzigartigen Botschaft der Bibel steht die Überzeugung, dass der transzendente, unsterbliche Gott selbst in die Welt kam und schwach und verwundbar wurde, anfällig für Leiden und Tod. Er tat das alles für uns – um für unsere Sünde zu sühnen, die Strafe zu tragen, die wir verdient hatten. Wenn das wahr ist, ist es der erstaunlichste und radikalste Akt der Selbsthingabe und Opferbereitschaft aus Liebe, den man sich vorstellen kann. Ein sichereres Fundament und eine kraftvollere Motivation für die revolutionären ethischen Konzepte des Christentums, die uns ansprechen, könnte es nicht geben. Was die christliche Ethik einzigartig machte, war nicht, dass Jesus und die frühen Christen so nette Leute waren, die lauter nette Sachen taten, um die Welt zu einem netteren Ort zu machen. Diese Ideen mussten so lange sinnlos erscheinen, bis man verstand, was die christliche Botschaft über das Wesen der letzten Wirklichkeit sagte – und diese Botschaft ist zusammengefasst in dem, was die Bibel „das Evangelium“ nennt.

Der Kern, der das Christentum von jeder anderen Religion und jedem Denksystem unterscheidet, ist dies: Jede andere Religion sagt, wenn man Gott finden will, muss man an sich selbst arbeiten. Wenn man ein höheres Bewusstsein erreichen, eine Verbindung zum Göttlichen haben möchte – dann muss man dieses oder jenes tun. Man muss alle Kräfte einsetzen, sich an die Regeln halten, man muss den Geist frei machen und ihn dann neu füllen, man muss besser sein als der Durchschnitt. Jede andere Religion oder philosophische Richtung sagt: Wenn du die Welt in Ordnung bringen willst oder dich selbst in Ordnung bringen willst, dann nimm all deinen Verstand und deine Kräfte zusammen und lebe auf eine bestimmte Weise.

Das Christentum sagt genau das Gegenteil. Jede andere Religion oder Philosophie sagt, wenn du mit Gott in Kontakt kommen willst, musst du etwas tun; aber das Christentum sagt Nein. Jesus Christus kam, um für dich zu tun, was du nicht für dich selbst tun kannst. Jede andere Religion sagt, hier sind die Antworten auf die großen Fragen. Aber das Christentum sagt, Jesus ist die Antwort auf sie alle. So viele Glaubenssysteme sind attraktiv für starke, erfolgreiche Leute, weil sie ihre Überzeugung bekräftigen, dass man Erfolg hat, wenn man nur stark genug ist und sich genügend anstrengt. Aber das Christentum ist nicht nur etwas für die Starken; es ist für alle, für jeden, aber besonders für Leute, die zugeben, dass sie da, wo es wirklich darauf ankommt, schwach sind. Es ist etwas für Leute, die über die besondere Stärke verfügen einzugestehen, dass ihre Fehler nicht belanglos sind, dass ihr Herz zutiefst in Unordnung ist und dass sie nicht in der Lage sind, sich selbst in Ordnung zu bringen. Es ist etwas für alle, die sehen können, dass sie einen Retter brauchen, dass sie es nötig haben, dass Jesus Christus für sie am Kreuz stirbt und sie mit Gott versöhnt.

Denken Sie einmal über das nach, was ich jetzt gerade geschrieben habe. Im besten Fall klingt es unzumutbar für den gesunden Menschenverstand, im schlimmsten Fall abstoßend. Das Geniale am Christentum ist, dass es nicht sagt: Wenn du Gott finden willst, tu dies oder jenes. Im Christentum geht es darum, dass Gott in Gestalt von Jesus Christus in diese Welt kommt und am Kreuz stirbt, um Sie zu finden. Das ist die wirklich radikale und einzigartige Wahrheit, die das Christentum der Welt geschenkt hat. All die anderen revolutionären Ideen von Fürsorge für die Armen und Bedürftigen, von Liebe und Dienst als Lebensinhalt anstelle von Macht und Erfolg, von hingebungsvoller Liebe sogar für die Feinde – sie alle entspringen dem Kern des Evangeliums: der Botschaft nämlich, dass, weil unsere Sünde so schwer ist, Gott selbst in der Person von Jesus Christus kam, um zu tun, was wir nicht für uns selbst tun konnten – uns zu retten.

Und nun frage ich Sie – wenn Sie mir zustimmen, dass das Evangelium die Quelle für viele Ihrer Überzeugungen ist: Warum sollte man einen Teil der christlichen Lehre annehmen, aber den anderen Teil, der diese Lehre erklärt und erst verständlich macht, nicht? Folgen Sie nicht dem Beispiel Nathanaels. Lassen Sie nicht zu, dass Ihre Überzeugung, das Christentum sei schlicht überholt oder intellektuell unbefriedigend, Sie blind macht für das, was es zu bieten hat. Hüten Sie sich vor Stolz und Vorurteil, vor Verächtlichkeit und Geringschätzung. Die sind immer giftig, in jedem Lebensbereich, aber ganz besonders dort, wo es darum geht, die grundlegenden Fragen zu stellen.

Der erste wichtige Aspekt an der Geschichte des Nathanael ist also das Problem von Stolz und Verachtung. Aber dahinter liegt, seiner spöttischen Äußerung zum Trotz, ein tiefes geistliches Bedürfnis. Er sagt: „Nazareth! Was kann von da schon Gutes kommen?“ Und nur wenige Augenblicke später sagt er: „Meister, du bist wirklich Gottes Sohn. Du bist der König Israels.“ Kaum dass Jesus beginnt, ihm ein paar glaubwürdige Beweise dafür zu liefern, wer er ist, wechselt Nathanael sehr schnell die Seiten – zu schnell, vielleicht. (Wir werden später noch sehen, dass Jesus Nathanael mild tadelt, weil er sich nicht die Zeit genommen hat, die Dinge zu durchdenken.) Überrascht Sie das? Mich überrascht es nicht.

Als meine Frau Kathy und ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Manhattan zogen, wollten wir eine neue Gemeinde gründen. Man sagte uns, New York City sei ein Sammelbecken der Jungen, Ehrgeizigen und Brillanten, und in eine neue Gemeinde würde überhaupt niemand kommen, weil all diese Leute glaubten, sie hätten Besseres zu tun. Man sagte uns, sie würden die organisierte Religion von oben herab betrachten und das Christentum ganz besonders. Das Christentum ist eben aus Nazareth. Sie würden nur die Augen verdrehen. Es würde also niemand kommen. Aber seltsamerweise passierte genau das nicht – heute kommen mehr als fünftausend Menschen regelmäßig zum Gottesdienst in die Redeemer Church. Die Gemeinde blüht und wächst.

Der Grund dafür ist derselbe, der auch in Nathanael eine Veränderung bewirkte. Hinter der laut und öffentlich geäußerten Skepsis und Kritik am Christentum verbarg sich eine Menge versteckter spiritueller Sehnsucht. All diese jungen, ehrgeizigen und brillanten Leute waren eifrig bemüht, sich den Anschein zu geben, als kümmerten sie sich nicht um die grundsätzlichen Fragen des Lebens oder hätten ihre Antwort darauf bereits in den Dingen gefunden, denen sie sich gerade so eifrig widmeten, aber darunter hatten sie alle dasselbe Bedürfnis, das wir alle haben und dem niemand von uns entkommt. Sie mussten nach Antworten suchen. Und viele haben sie im Christentum gefunden.

Trotz seines blasierten Gehabes geht es Nathanael ganz ähnlich: Schließlich begleitet er Philippus zu Jesus. Warum hat er das getan? Wie viele andere junge Juden seiner Generation kämpfte Nathanael mit der Tatsache, dass die Juden unter der Knute der Römer standen und dass sie keine Ahnung hatten, wie Gott gerade am Werk war. Sie steckten als Nation in einer kollektiven Identitätskrise. Sollten sie auf einen Messias warten? Wie sah ihre Zukunft aus? Waren sie noch Gottes Volk oder nicht? Hatte Gott sie verstoßen? Es hat den Anschein, als sei Nathanael mit den Antworten, die andere gaben, nicht zufrieden gewesen. Sein eigenes Verständnis der Dinge scheint ihn nicht zufriedengestellt zu haben, und vielleicht war er mit seiner eigenen spirituellen Situation unglücklich. Und so dachte er: „Vielleicht – so unglaublich es auch klingt – sollte ich doch mal nach Nazareth blicken.“