images

Ute Aland

DIE       
GOTTES
VERSPRECHER

Roman frei nach
wahren Begebenheiten

firstcover

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Nachwort der Autorin

Prolog

Der Duft von Lavendel

Unter mir fällt die Küste steil ab. An den Fundamenten der schroffen, wie von einem Gott gefalteten Felsen bricht sich tosend der Atlantik. Der eigensinnige Wind zerzaust mir die Haare, reißt an meiner Leinenhose und zerrt an der seidenen Bluse, die mich vor der bissigen Julisonne schützt.

Neben mir, einen Schritt näher noch am Abgrund als ich, steht der Mann, den ich liebe, und lässt seinen Blick weit über den Horizont schweifen, während ich gierig die unablässig die Küste emporstürmende Salzluft hinunterschlucke, um meine Lungen mit der Kraft dieses Augenblickes zu füllen.

Überglücklich verfolgen meine Augen die übermütigen Möwen, die sich vom Wind emporwerfen lassen, Spielgefährten der warmen, wilden Böen, als wären sie ohne Gewicht.

Nach all dem, was passiert ist, hätte ich nie daran geglaubt, dass ich je wieder glücklich sein, je wieder so viel Leben spüren würde.

Ich kann es noch immer kaum fassen, dass nach so vielen schweren Jahren meine Gedanken so federleicht sind, wie es eigentlich nur Kinder kennen.

Vielleicht haben mich gerade jene Jahre empfänglich dafür gemacht, die Schönheit des Augenblickes zu sehen.

Die schlimmsten Jahre meines Lebens. Die Jahre als junge Frau, in denen andere eine Familie gründen und sich eine Zukunft aufbauen, habe ich als Gefangene gelebt, manchmal bis zum Tode verzweifelt. Dabei hatte ich schon damals fliegen wollen, frei, wild und unbegrenzt. Meine Sehnsucht nach Wahrheit, Schönheit und Lebenssinn waren immer schon stärker als bei den meisten Menschen.

Doch ich klebte wie einst Ikarus Federn mit dem Wachs zu gern geglaubter Lügen zusammen und stürzte – wie jener Sonnenstürmer – in den schier bodenlosen Abgrund.

Aber wie durch ein Wunder bin ich nicht zerschollen, ich habe überlebt. Mehr als das: Ich bin mir selbst begegnet und habe verstanden, was Gnade ist. Ich habe meinen Wahn erkannt und meine Verführbarkeit.

„Lass uns nach Hause gehen“, reißt mich die dunkle Stimme meines Mannes aus der Grübelei. „Ich habe Hunger.“

Mit „Zuhause“ meint er im Moment die kleine Steinhütte seiner Eltern inmitten von eichenbestandenen Weiden und Lavendelfeldern. Im Sommer vermieten sie sie als Ferienhaus.

Die Côte Basque ist ein beliebtes Urlaubsziel. Wir beiden dürfen hier manchmal außerhalb der Saison wohnen, wenn keine Touristen da sind. Wir könnten es uns natürlich niemals erlauben, einfach so Ferien zu machen. Wahrscheinlich auch die nächsten Jahre nicht, bis die Kredite abbezahlt sind, die vielen Schulden aus jener gefräßigen Zeit.

„Lass uns noch ein bisschen bleiben. Nur ein paar Minuten noch“, bettle ich. Mein Liebster hat eigentlich immer Hunger, aber ich möchte noch ein wenig die Wellen da unten angucken.

Diese kleinen, fleißigen, unermüdlichen Wellen, die nicht wahrhaben wollen, dass sie der Realität der Felsen Frankreichs nichts anhaben können. Sie rennen und rennen, als könnten sie nicht akzeptieren, dass es nicht weitergeht. Lächerlich eigensinnig krabbeln sie die Steilküste hinauf, um dann hinabzuklatschen und wieder neu gegen das Gestein anzurennen wie unbelehrbare Kinder des Sisyphus.

Ich lächle den Mann an meiner Seite an, und ich weiß, warum das Lächeln, das er mir erwidert, so unfertig aussieht.

Ich weiß, dass er weiß, woran ich denke. Weil ich immer daran denke, wenn ich hier stehe. Ich weiß auch, dass er wütend ist auf das, was damals passiert ist. Er kann es ihnen nicht vergessen, dass sie mich missbraucht haben. Er hadert immer noch damit.

Wir waren alle Betrogene. Auch ich erinnere mich noch gut an all die perfiden, subtilen Versuche, unser Glück zu verhindern, aber ich weiß, dass ich das Spiel mitgespielt habe. Dass ich ihnen die Macht über mich gegeben habe, dass ich mich wie diese kleinen dummen Wellen da unten immer und immer wieder gegen die Felsen habe schmettern lassen, in dem naiven Glauben, ich könne mein Leben in die Bahnen zwingen, die ich mir erhoffte.

Letzten Endes ist es anders gekommen, und sie haben mein Glück – unser Glück – nicht verhindern können.

Ich für meinen Teil habe Frieden geschlossen. Ich habe lange für diesen Frieden gebraucht. Es hat fast fünf Jahre gedauert und meine Therapeutin gut ernährt.

Aber Gott hat mir die verlorenen Jahre zurückerstattet. In solchen Momenten wie diesen weiß ich das.

„Ja, lass uns gehen“, gebe ich schließlich nach.

Ich kenne den Weg schon fast blind, den Graspfad, der von den Klippen zu der kleinen Hütte führt, denn es ist das dritte Jahr, dass wir hierherkommen. Diesmal dürfen wir sogar eine Sommerwoche hier verbringen, bevor sie wieder an Urlauber vermietet ist.

Eine ganze Woche Paradies.

Am meisten liebe ich die Abende auf der Terrasse. Wir können von dort sogar die Silhouette der Pyrenäen sehen, in die die Abendsonne eintaucht, kurz bevor sie die Gipfel mit ihrem Schleier aus rotgoldenem Licht verhüllt. Wir sitzen oft bis tief in die Nacht in eine Decke gewickelt auf der Bank, neben uns drängt sich Lavendel aus allen Fugen, unsere Weingläser stehen auf dem Tischchen vor uns.

Aber dieses Jahr werde ich den Bordeaux nicht mittrinken. Ich darf nicht, denn ich bin schwanger – auch so ein Wunder. Denn eigentlich bin ich unfruchtbar. Auch das hat mit der Zeit damals zu tun, wie eigentlich fast alles in meinem Leben mit der Zeit damals zu tun hat. Ich wäre fast krepiert, denn „man geht nicht zum Arzt, weil Gott ja unser Arzt ist“.

Im Grunde ist eine Gebärmutterentzündung nichts Schlimmes – wenn man sie behandelt. Ich habe sie nicht behandelt. Ich habe stur auf übernatürliche Heilung gewartet. Die kam aber nicht. Sondern Fieber, Schüttelfrost, schreckliche Schmerzen und dann der Notarzt.

Alles voller Eiter, haben die Ärzte diagnostiziert und konnten nicht begreifen, warum ich nicht früher gekommen war – bei solchen Schmerzen! Sicher hätten sie auch nicht begriffen, warum ich nach drei Wochen Krankenhaus freiwillig direkt zu den Menschen zurückgegangen bin, die mitverantwortlich gewesen waren für meine Lage. Ich kann es heute selber kaum begreifen.

„Sie werden keine Kinder bekommen können, Frau Feininger“, hatte die Ärztin mir mitgeteilt. Dabei wollte ich mindestens vier. Na ja, so viele werden es wohl jetzt nicht mehr werden, die biologische Uhr …

Dass ich dann doch schwanger wurde, hat meinen Liebsten versöhnt mit den Ereignissen damals. Das Schlimmste für mich war, mich zwischen ihm und der Gruppe entscheiden zu müssen. Ich habe gebetet wie eine Verrückte, dass er auch einer von uns wird, einer von den „Auserwählten“.

Aber er ist zu schlau – oder zu schlicht. Er ist Surfer! Er kennt die Wellen. Und die Felsen. Er ist am Meer groß geworden.

Ich öffne das Törchen in der halb zerfallenen Mauer, wir steuern auf das Steinhäuschen zu, um auf der Bank im Lavendel Platz zu nehmen.

Lavendel – auch so eine Erinnerung, denn der würzige Duft lässt mich daran denken, wie alles anfing – damals, vor ungefähr neun Jahren.

Ich sitze in einem hohen, lichtdurchfluteten Saal, eigentlich kein typischer Gottesdienstraum. Auch von außen hätte ich den hohen Klinkerbau – eine ehemalige Weberei, wie das Messingschild verriet – niemals für eine Kirche gehalten, eher für ein Kulturzentrum. Im Moment sitzen hier um die sechzig, siebzig Leute. Die junge, hübsche Frau neben mir duftet ganz leicht nach Lavendel. Vielleicht ihr Shampoo. Der Duft passt zu ihr, finde ich. Sie hat so etwas Natürliches, Sonniges, Frisches.

Als ich mich vorhin neben sie setzte, begrüßte sie mich herzlich, so als würden wir uns ewig kennen. Dabei kenne ich hier niemanden – abgesehen von Udo natürlich.

Normalerweise ist diese Umarmerei nicht mein Ding, bei ihr war das aber okay. Ich mag Lavendel, und sie scheint nett zu sein. Ihr Name sei Natascha, stellte sie sich vor. Ich schätze, sie hat in etwa mein Alter, Mitte, Ende zwanzig.

Und der Typ neben ihr ist vielleicht ihr Freund. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise darf man hier nicht befreundet sein, und alle sind schon miteinander verheiratet. Keine Ahnung, was die hier für Regeln haben. Ich hätte Udo mal lieber eingehender ausfragen sollen. Wo treibt der Typ sich eigentlich rum?

Kein Udo weit und breit, dabei kann man ihn im Grunde gar nicht übersehen. Mit seinen Zweimeterfünf müsste ich seine Geheimratsecken eigentlich schon von Weitem erblicken. Aber das sieht Udo ähnlich. Mich hier anzuschleppen und dann sitzen zu lassen.

Langsam werde ich nervös. Ich ärgere mich, dass ich Idiot mich habe bequatschen lassen herzukommen. Jetzt eine Zigarette! Ob ich kurz mal vor die Tür gehe, eine rauchen? Oder gleich ganz abhauen. Noch kann ich.

Als die Band anfängt zu spielen, ist es zu spät zu verschwinden. Scheiße, warum kommt Udo nicht?

Cool bleiben, Sara, versuche ich mich zu beruhigen, die werden dir hier schon nichts tun.

„Das ist ganz anders, als du es kennst“, hat Udo mir versichert. „Du wirst überrascht sein, wie locker alles bei uns läuft. Keine Religiosität, sondern echtes Leben.“

Zugegeben, die Band ist ziemlich gut, richtig professionell sogar und die Sängerin ein Augen- und Ohrenschmaus. Eine tolle Stimme – gänsehautverdächtig. Und dann noch Saxofon – voll mein Stil.

Trotzdem denke ich an Zigarette.

Die Location ist auch cool, wie ich widerwillig eingestehen muss. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, Kirche ätzend zu finden und alles, was mit Kirche zu tun hat. Ich habe wirklich genug Gründe dafür, glaubt mir. Das hier sieht jedenfalls wirklich nicht wie eine typische Gemeinde aus, wie ich sie kenne, mit pietistischem Staub, Jahreslosungsposter im Wechselrahmen oder Sonnenuntergangsschmu mit Bibelspruch, dieser „röhrende Hirsch“ der Frommen.

Die hohen Wände sind grob weiß verputzt, oben schmale Oberlichter, Industrielook. Die alten Stahlträger hängen voller Lichttechnik. Sogar die Stühle sind nicht nur stylisch, sondern sogar bequem.

Ich bin wahrlich kein Kirchenneuling. Im Gegenteil. In Anbetracht all der Erlebnisse, die ich schon im Schoß der Gläubigen erlitten habe, wundere ich mich, wie es Udo gelingen konnte, mich in die „Everlasting Church of God’s Power“ zu schleppen. Allein dieser bekloppte Name.

Hatte ich mir nicht geschworen, mich von Kirche fernzuhalten? Immerhin war ich in den Jahren als baptistisches Gemeindekind zu dem Schluss gekommen, dass Gemeinde der geschlossenen Abteilung einer Irrenanstalt manchmal gefährlich ähnlich ist. Ich habe mich deswegen auch nicht gewundert, als mir jemand sagte, dass religiöser Wahn in psychiatrischen Einrichtungen ziemlich stark vertreten sei.

Ich bin nur hier, weil Udo keine Ruhe gegeben hat.

In den Mittagspausen hat er sich in der Kantine immer zu mir gesetzt, um mich vollzuquatschen. Offensichtlich sehe ich wie ein typisches Missionsopfer aus, irgendwie „verloren“.

War mir immer ein bisschen unangenehm, denn die Kollegen haben schon komisch geguckt, dass sich jemand aus der Chefetage zu mir setzt.

„Entspann dich“, hat Melanie zu mir gesagt. Melanie und ich bilden eine Projektgruppe bei „Jagner International Communication Design“. „Der sucht sich immer die Neuen, um sie zu bekehren. Bei mir hat er es auch schon probiert, mich von seinem Jesus-Quatsch zu überzeugen. Fast drei Wochen hat es gedauert, bis er endlich kapiert hat, dass ich kein Interesse habe.“

Tja, Melanie ist wohl tougher als ich. Ich habe mich schlicht und einfach breitschlagen lassen zu kommen – Udo kann entsetzlich penetrant sein.

Ich mag ihn nicht sonderlich und bin ziemlich sauer, dass er nicht akzeptieren will, dass ich von Gemeinde die Schnauze voll habe. Was soll das hier? Als „Gemeindekind“ bin ich eh immun. Ich habe meine christliche Gehirnwäsche nämlich hinter mir. Ich war Jugendleiterin. Sogar mit Schein! Nur den Taufschein, den habe ich nicht. Bin gerade noch rechtzeitig abgesprungen vom „Schiff, das sich Gemeinde nennt“. Den Stress, den meine Eltern mit der Gemeinde haben, brauchte ich echt nicht, und im Grunde war ich nur wegen Papa und Mutti in der Gemeinde, habe ihnen zuliebe das brave Mädchen gemacht.

Ich erinnere mich mit Schrecken an die vier Jahre, die Papa Ältester war.

Es kann sich keiner vorstellen, über was für Lächerlichkeiten sich Menschen streiten. Und mit welch kriecherischer „Demut“ sie ihre Böswilligkeiten verbreiten.

Ohne mich!

Ich werde mein Leben mit Sicherheit nicht mit den Befindlichkeiten von irgendwelchen Gemeindemitgliedern verderben. Echt, Leute, ich glaube ja, dass es Gott irgendwie gibt, zumindest ein höheres Wesen. Aber dieser Zirkus? Nein, danke!

Ich kann mir kaum vorstellen, dass Jesus da Bock drauf hätte: „Bruder Soundso will die Musik lauter, die Schwester Soundso will lieber die alten Lieder singen, die hatten noch Tiefe.“ Und so’n Quark. Ich kriege Pickel beim Gedanken an die miesepetrigen Gesichter mit dem geheuchelten Kirchenlächeln – zweite Reihe links reserviert für die „Garde der Rechtgläubigen per Geburt“. Und ich konnte die alte Leier nicht mehr hören: „Dein Großvater Friedrich hat unsere Gemeinde gegründet und hätte niemals kurze Röcke in diesen Räumen geduldet!“ Großvater Friedrich hier, die gute alte Zeit da. Eigentlich hätten sie Großvater Friedrichs Konterfei hinter die Kanzel hängen sollen statt des Kreuzes.

Hätte ich zum Abschied eigentlich mal machen sollen. Jesus war ja immerhin auch ein Rebell. Vielleicht hätte es ihm sogar gefallen.

Nun ja, jetzt ist es zu spät. Kann ja schlecht nach dreieinhalb Jahren wieder im Gottesdienst auftauchen: „Hallo, hier bin ich, die verlorene Tochter, ich wollte nur mal kurz umdekorieren.“

Nein, danke, ich bin damit durch. Ich habe zu viel erlebt. Ich habe zu viel hinter die Fassaden geschaut, ich nehme den Leuten ihr Erlöstsein nicht ab. Hier wird das auch nicht anders sein, auch wenn die hier deutlich jünger sind als bei uns.

Hilfe! Sage ich noch immer „bei uns“? Ich fasse es nicht.

Natascha weht immer mehr Lavendel zu mir herüber. Sie hat nämlich angefangen, zu der Musik zu tanzen. Ich weiß nicht, ob ich das peinlich finden soll – sieht nämlich eigentlich beneidenswert gut aus, was sie da macht. Die Figur dazu hat sie ja. Bei uns war Tanzen verpönt. Weltlich, Sünde, Fleischeslust!

Das scheinen die hier ganz anders zu sehen.

Lavendel-Natascha berührt mit ihrer Hand ganz leicht meine Schulter: „Du fühlst dich sicher komisch, oder? War bei mir am Anfang auch so.“

Ich lächle sie an, aber so schön wie ihres ist mein Lächeln bestimmt nicht. Sie sieht irgendwie glücklich aus. Vielleicht ist sie ja frisch verliebt in den Typen neben ihr. Kein Wunder. Der würde mir auch gefallen.

Überhaupt sehen die hier alle verdammt gut aus, und die Outfits sind auch vom Feinsten. Ganz schön kurze Röcke – ich stelle mir Opa Friedrichs Entsetzen vor: „Die Endzeit! Sodom und Gomorra!“ Hätte ich mein hautenges Top also doch anziehen können, ärgere ich mich über meine Entscheidung heute Morgen, die rosafarben-keusche, hochgeknöpfte Bluse zum Gottesdienst zu tragen.

Wie auch immer; ich werde mir die Vorstellung zu Ende ansehen und verschwinde dann unauffällig.

Hoffentlich verwickelt mich am Ende niemand in peinliche Gespräche wie: „Na? Weißt du, wie sehr Gott dich liebt und dass er für dich gestorben ist?“ oder so etwas.

Gut, dass ich Udos Angebot, mich die fünfunddreißig Kilometer in seinem Wagen mitzunehmen, abgelehnt habe. Dann kann ich mich unauffällig verdünnisieren.

Verstehe das sowieso nicht, dass jemand eine gute halbe Stunde fährt, um hier in Osnabrück in die Kirche zu gehen.

„Wie lange geht das hier?“, frage ich Natascha unsicher. Ihr Lächeln ist echt hinreißend mit ihren strahlenden grünlichen Augen und den rötlich-blonden Locken. Ich kann verstehen, dass der Typ sie dauernd so verzückt anguckt.

„Die Leiter beten noch“, erklärt sie. „Manchmal dauert das etwas länger, wenn die Gegenwart des Herrn besonders stark ist. Aber das Warten lohnt sich.“

Was soll das heißen, „wenn die Gegenwart des Herrn besonders stark ist“? Frommes Gelaber?

„Du hast ziemliche Vorurteile, oder?“, fragt sie mich.

Volltreffer, denke ich. Sie sieht mir freundlich direkt in die Augen. Ich zucke mit den Schultern.

„Schlechte Erfahrungen mit Kirche?“, fragt sie.

Ich nicke. Kann sie etwa Gedanken lesen?

„Gemeindekind?“

Ich nicke wieder. Hat Udo etwa was von mir erzählt? Wenn ja, kriegt er was zu hören.

„Ich spüre dein Misstrauen“, verrät sie mir. „Weißt du, ich kann das so gut nachvollziehen. Es wird nämlich sehr viel Schindluder getrieben mit dem Glauben. Ich bin auch in der Gemeinde groß geworden, ein typisches Gemeindekind, und hatte die Nase so was von voll! Aber hier bin ich dem lebendigen Gott begegnet.“ Sie sieht mir direkt in die Augen und bettelt förmlich: „Gib Gott eine Chance!“

Ich bin ziemlich froh, dass ich ihr nicht antworten muss, denn in diesem Augenblick verklingt die Musik, und einige junge Männer betreten den Raum durch eine verdeckte Tür neben der Bühne. Udo ist auch dabei.

„Das ist unsere Leitung“, flüstert Natascha mir zu. „Der ganz rechts ist Arthur, der Pastor. Daneben steht Daniel, wir nennen ihn Dan. Ein ganz toller Gottesmann. Er hat eine starke apostolische Berufung.“

Apostolische Berufung? Und was soll das bitte sein? Sieht jedenfalls super aus, der Apostel. Wie Leonardo di Caprio in Rotblond. Seine fuchsbraunen Augen leuchten bis in meine Reihe – und ich sitze ziemlich weit hinten. Kaum zu fassen, welche Präsenz dieser Mann hat.

Er tänzelt ein wenig, als er dem durchtrainierten jungen Mann zu seiner Rechten etwas ins Ohr flüstert. Auf dessen Jungengesicht strahlt ein kurzes Lächeln auf.

„Das ist Jörg“, unterrichtet mich Natascha, die – ich weiß nicht, wie sie das macht – wohl mitgekriegt hat, dass mir der Typ auf Anhieb gefällt.

Jörg kämmt sich mit der Hand die leicht gelockten, braunen Haare aus der Stirn. Der freche Ausdruck auf seinem Gesicht – der ist bestimmt total gut drauf. Ich kenne solche Jungs, wo die sind, geht meist die Post ab. Aber bei dem hier ist noch etwas anderes: Er hat auch einen ernsten Zug um die fast schwarzen Augen, etwas, das Seriosität ausstrahlt. Er ist mir sofort sympathisch! Seine ganz besondere Ausstrahlung verdoppelt meine Gänsehaut, aber ich habe meine Tage, da reagiere ich eh auf alles etwas überempfindlich.

Bleib mal ganz locker, Sara, versuche ich mich zur Besinnung zu bringen, aber mein Herz klopft total.

Die Band spielt jetzt so ’ne Art psychedelische Musik, um mich herum singen alle in einer komischen Sprache. – Ob das der gefürchtete Sprachengesang ist? Hätte mir eigentlich denken können, dass ich bei Charismatikern gelandet bin. In meiner Gemeinde hat man mich so viel vor ihnen gewarnt, dass ich jetzt richtig neugierig bin.

Der Gesang, oder was immer das ist, wird ruhiger, dann herrscht plötzlich wieder Stille. Der Apostel geht ans Pult. Er wird wohl die Predigt halten, aber eines kann der sich abschminken: Auf keinen Fall werde ich mich von irgendwem um den Finger wickeln lassen.

„Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Geschwister!“, freut sich Dan, uns zu sehen. „Ich bin so froh, dass der Herr euch heute hierhergebracht hat.“

Na ja, ob das der Herr war?, denke ich, innerlich auf Krawall gebürstet. Mich hat jedenfalls nicht der „Herr“ hierhergeführt, sondern euer Udo.

„Niemand ist hier, den der Herr nicht kennt und liebt“, fährt der Apostel fort.

Noch habe ich nichts Überwältigendes von ihm gehört, denke ich, aber nach zwei Sätzen, das wäre auch zu viel verlangt.

„Es ist kein Zufall, dass gerade du hier bist“, behauptet Dan.

Ja, ja, äfft es in mir, alles Masche.

„Der Herr wollte, dass genau du heute Morgen hierherkommst. Er kennt jeden deiner Schritte. Du denkst: Bei mir war’s sicher nicht der Herr, jemand hat mich hierhergeschleppt.“

Scheiße, schießt es mir durch den Kopf. Kann der etwa auch Gedanken lesen? Quatsch, ermahne ich mich und rutsche auf meinem Stuhl hin und her.

„Der Herr meint dich ganz persönlich“, fährt der Apostel fort, und ich sage mir: Bleib nüchtern, Sara, das ist alles Vertretergelaber, wundere mich aber gleichzeitig, wieso ich nicht einfach mal kommentarlos zuhören kann.

Hast du etwa etwas zu verbergen?, frage ich mich. Wieso bin ich so wenig souverän, sondern nörgle in einer Tour? Ich nehme mir vor, mich wie eine Erwachsene zu verhalten.

Bleib fair!, rüge ich mich.

„Vielleicht glaubst du, Gott zu kennen. Vielleicht bist du der Religion schon lange überdrüssig. Vielleicht bist du auf der Suche nach einem erfüllten, glücklichen Leben …“, höre ich Dan sagen.

Bingo!, denke ich, über mich selbst überrascht. Habe ich ihm etwa zugestimmt? – Warum auch nicht? Wo er recht hat, hat er recht.

„Mag sein, in dir tobt ein Kampf“, fährt er fort. „Ein Teil von dir will weg, ein anderer weiß: Hier ist etwas, das dein Leben verändern könnte. Du willst in Ruhe gelassen werden, andererseits ödet dein Leben dich manchmal an, und du fragst dich: Ist das etwa alles, was ich zu erwarten habe?“

Ich erinnere mich an diese Cartoons, wo Engelchen und Teufelchen sich streiten, und lache bei der Vorstellung auf, in den Reihen hinter mir könnten alle die beiden auf meiner Schulter miteinander streiten sehen. Ich jedenfalls höre die beiden diskutieren.

„Wenn du die Nase gestrichen voll hast von Heuchelei, von dem ewigen Gejammer über deine Sünde, wenn du dich nach echtem Leben und nach der spürbaren Kraft Gottes sehnst, dann bist du ganz auf Gottes Linie. Der Schöpfer des Universums hat nämlich kein Interesse an den jämmerlichen Aktivitäten, mit denen Menschen glauben, ihm zu gefallen. Erinnern wir uns an Jesus: Mit wem hat er ständig Zoff gehabt, als er Mensch war? Klar – mit den Religiösen. Da ging der Herr richtig ab. Was Gott will, ist unbändiges, schöpferisches Leben, ist echte Beziehung zu seinen grandiosen Geschöpfen.“

Mir fällt auf, dass ich gebannt auf Dan starre. Habe mit einem Mal alles um mich herum vergessen. Der Typ ist echt gut! Seine Mimik, seine klaren, knappen Gesten, der Klang seiner Stimme, alles strahlt Souveränität aus. Der Mann weiß, wovon er spricht.

„Auch Gott hasst Religion!“, ruft Dan ins Plenum. „Lass dir von niemandem einreden, dass du nichts als ein kraftloser, armer Sünder bist! In Christus sind wir eine neue Kreatur, berufen, die Werke zu tun, die er getan hat.“

Dan schlägt die Bibel auf.

„Im Johannesevangelium Kapitel 10, Vers 10 heißt es, dass Jesus kam, damit wir das Leben in Fülle haben. Er kam in diese Welt, uns Menschen zurück zum Vater zu führen, die Werke des Teufels zu zerstören, die Macht der Sünde und des Todes zu zerbrechen und den Menschen die Liebe Gottes zu offenbaren. Jesus Christus kam, damit wir die Fülle Gottes erfahren, das heißt, er kam, um uns in eine völlig neue Dimension unseres Menschseins zu führen und eine neue Lebensqualität zu geben, uns vollkommen zu machen. Durch ihn erhalten wir den Frieden, die Liebe, die Freude und die Kraft, die nur Gott geben kann. Jesus erfüllt uns durch den Heiligen Geist mit der ganzen Fülle Gottes. Was bedeutet das konkret? Durch Christus sind uns alle Reichtümer der geistlichen Welt zugänglich, und wir dürfen aus diesen schöpfen!“

Immer herausfordernder dringen die Worte auf mich ein, den ganzen Saal hat er in seinen Bann gezogen, und erst jetzt merke ich, dass ich genauso aufmerksam auf meiner Stuhlkante sitze wie die anderen. Noch nie habe ich jemanden so predigen hören! Ich lechze danach, dass er weiterredet. Eine lange unterdrückte Sehnsucht nach etwas, das meinem Leben Bedeutung und Sinn gibt, ist aus den abgesperrten Ecken meines Bewusstseins nach vorne geschnellt und hungert nach diesen Worten.

„Als einzelne Christen und als Gemeinschaft der Christen sind wir Teilhaber der Herrlichkeit Gottes, und Gott vermag bei Weitem mehr zu tun, als wir jemals erdenken oder erbitten könnten. Wie sieht es in unserem Leben aus?“, fragt Dan in die Runde, sein offener Blick streift die Reihen.

„Spiegelt unser Leben diese Tatsache wider? Leben wir in dem Bewusstsein, dass Gott mit all seiner Schöpferkraft an und durch uns wirkt und es nichts gibt, was er nicht an und durch uns tun könnte?“

Dan hat aufgehört, auf der Bühne hin und her zu laufen, er rückt den kleinen Mikrofonknopf an seiner Wange zurecht, greift sich an den Gürtel, wo die Übertragungseinheit steckt. Man hört seinen Atem, so ruhig ist es im Saal. Er geht auf das Pult zu, legt beide Hände flach auf die Bibel. Dann beugt er sich langsam nach vorne, und seine Stimme ist ganz leise, so eindringlich, als meinte er jeden Einzelnen von uns.

„Das, was die Bibel ‚Fleisch‘ nennt – die größte Bastion der Sünde in unserem Leben –, ist der Stolz und die Rebellion, mit der der Mensch seinen eigenen Fähigkeiten mehr vertraut als Gottes Möglichkeiten.“

Dan macht eine kurze Pause, in der er tief einatmet. Das Mikro überträgt den leisen Luftzug in den Saal. Er steigt die drei langen Stufen hinunter und steht jetzt direkt vor der ersten Reihe. „Die perfideste Form der Rebellion des Menschen gegen Gottes Gnade ist die Religiosität. Religion ist der Versuch des Menschen, Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit durch eigene Kraft, religiöse Werke oder Zeremonien zu erkaufen.“

Mir wird heiß und kalt. Ich weiß genau, was Dan meint. Meine ganze Kindheit und Jugend habe ich im mulmigen Schlamm frommer Verhaltensweisen überlebt, mich abgemüht, fromme Ansprüche zu erfüllen, und gegen den Gedanken angekämpft, dass wir uns was vormachten. Ich habe immer vergeblicher den Versuch unternommen, das Gefühl niederzuringen, dass wir als Gläubige gar kein Ass gezogen hatten, wie man uns predigte, sondern die Arschkarte. Hier bestätigt endlich mal jemand, wie recht ich hatte! Und das in einer Kirche.

Meine Weltsicht steht Kopf.

„Im Grunde nährt Religiosität den menschlichen Stolz, sie ist der Versuch, sich von der Gnade unabhängig zu machen. Was bleibt, ist ein Glauben an sich selbst, seine eigene Leistung und Streben, überzogen mit frommer Tünche. Die Kirche hat über lange Zeit vergessen, dass sie eine gute Nachricht für die Welt hat. Sie hat den Menschen Regeln auferlegt, indem sie ihre Angst vor Gott ausnutzt, um Menschen zu manipulieren und zu beherrschen. Dabei lautet die Nachricht, die die Kirche verbreiten sollte: Der Weg zum Frieden mit Gott geht nicht über unser Bemühen. Christus hat alles aus dem Weg geräumt, was zwischen uns und Gott stand! Deshalb ist Jesus so hart gegen die Hüter der Religion vorgegangen – und tut es noch: Sie versperren Menschen den freien Zugang, den Gott geschaffen hat, und lästern somit das Kreuz.“

Ich nicke die ganze Zeit. Genau das habe ich erlebt! Ist das krass!

„Wie konnte es geschehen, dass das Evangelium von Gottes Gnade so pervertiert wurde?“, fragt Dan in den Saal. „Das Evangelium ist die gute Botschaft, dass allein der Glaube, also die vertrauensvolle Annahme des Heils, uns vor Gott untadelig macht. Wie konnte daraus der billige Versuch werden, Menschen zu unfreien, freudlosen, verklemmten frommen Korinthenkackern zu dressieren?“

Mittlerweile hat Dans Gesicht einen beinahe schmerzhaften Ausdruck angenommen, als litte er körperlich. Ich glaube in seinen Augen eine Tiefe der Empfindung wahrzunehmen, die mich bei einem Prediger überrascht. Ich habe von Predigern viel Lehrreiches, Spitzfindiges und Ermahnendes vorgetragen bekommen, aber bei Dan spüre ich ein Feuer. Sicher, er ist klug, sehr eloquent, irgendwie beeindruckend, aber das alles macht nicht die Faszination aus. Das, was er sagt, scheint direkt aus ihm herauszusteigen, er will uns nicht einfach anpredigen – der Mann hat eine Berufung!

Aus diesem Holz müssen die Männer sein, die die Welt verändern.

Dans Stimme wird noch eindringlicher, und als wolle er uns vor schlimmen Fehlern bewahren, fleht er beinahe: „Achtet genau darauf, dass ihr euch niemals etwas auf eine bestimmte Form der Frömmigkeit einbildet und glaubt, dafür besondere Segnungen zu erhalten. Wenn wir diese Einstellung bei uns feststellen, müssen unsere Alarmglocken läuten! Wir sind dann nämlich weiter von Gott entfernt, als wir meinen.“

Er steigt die drei Stufen wieder hoch, geht zum Pult und fährt mit ruhiger Stimme fort: „Wie oft begegnet man Christen, die zwar wissen, dass sie aus Gnade gerettet sind, dann aber glauben, sich alle weiteren Segnungen verdienen zu müssen. Die selig machende Erkenntnis ist doch, dass uns alles –“, Dan breitet seine Arme weit aus, „der ganze überragende Reichtum des Reiches Gottes allein aus Gnade durch den Glauben geschenkt wird.“

Dan wirft dem Bandleader einen kurzen Blick zu, der mit einem leichten Nicken antwortet.

„Der Herr ist gut! Halleluja“, ruft Dan und erklärt: „Der Herr hat uns im Leitungsteam während der Gebetszeit gezeigt, dass er heute zu ganz bestimmten Menschen direkt sprechen will. Und deshalb bitte ich alle aufzustehen, die sich und anderen nicht länger verlogene Religiosität vorspielen wollen. Ich rufe auch die auf, die nicht länger mit dem nutzlosen Versuch Zeit verplempern wollen, Gottes Nähe durch fromme Leistungen zu erwerben, und diejenigen, die die unbeschreibliche Gnade, die bedingungslose Einladung Gottes an uns, heute annehmen wollen.“

Die Band beginnt leise zu spielen, der zarte Klang einer Geige mischt sich mit Rascheln, dem Scharren von Stühlen und vielfachem Murmeln.

Innerhalb weniger Sekunden stehen fast alle um mich herum. Nur der unauffällige Mann neben mir und ein Pärchen in der Reihe sind sitzen geblieben – und ich natürlich, aber ich bin wie elektrisiert.

Ich bin sicher: Gerade habe ich das Evangelium gehört, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich weiß, dass ich in meinem bisherigen Leben einer Täuschung erlegen bin, denn man hat mir die ganze Zeit die Wahrheit vorenthalten und mich mit einem Lügenevangelium abgespeist. Sicher, sie wussten es selbst nicht besser. Jetzt, jetzt weiß ich, warum ich die Gemeinde verlassen habe. Ich habe es immer gespürt, dass das nicht die Wahrheit war. Ich weiß, dass Dan recht hat, dass ich gerade die Wahrheit gehört habe. Alles in mir weiß das. Trotzdem stehe ich nicht auf. „Handle nicht auf einen Impuls hin“, ermahne ich mich. „Lass dir Zeit, alles zu überdenken.“ Wieder die beiden Stimmen in meinem Kopf.

Natascha steht mit erhobenen Händen, wiegt sich ganz leicht im Takt der Musik hin und her.

Murmeln.

Mir wird unerträglich heiß. Raus hier!, dröhnt das eingesperrte Tier in mir. Hau ab! Wenn es nicht so eng wäre, wäre ich schon auf der Straße, denke ich.

Aber da ist noch eine andere, leisere, sanftere, geduldige Stimme, die fragt: „Ist das nicht genau das, was du willst: Leben, Frieden, Freude? Spürst du nicht die Sehnsucht nach Gott? Nimm sie ernst. Das ist deine Chance. Nimm dich ernst. Vergiss deinen Stolz. Vergiss, dass du nie wieder was mit Kirche zu tun haben wolltest. Lerne unterscheiden. Dies hier ist die Wahrheit.“ Ich höre der leisen Stimme zu, deren Wahrheit das Grollen übertönt. Umständlich stehe ich auf. Und obwohl Dan mich definitiv nicht sehen kann, sagt er just in diesem Moment: „Jetzt sind wir vollständig“ – dabei sitzen der Mann und das Pärchen noch immer. Heiße Wellen durchlaufen mich. Ich kann nicht mehr denken. Ich zittere ein wenig. Ein Schwall überwältigender Freude raubt mir beinahe das Bewusstsein. Ich spüre Gottes unendliche Liebe. Ich schluchze.

Jetzt ist mir alles egal.

Ich fühle mich mit einem Mal ganz weich, als wäre eine Schutzschicht von mir abgefallen. Ich werde endlich ein glückliches Leben führen! Endlich niemandem mehr irgendwas beweisen müssen. Ohne Maske, ohne Einsamkeit, mich fallen lassen, mich lieben lassen – von Gott, mein Leben in seine Hände geben, endlich den Kampf gegen das Offensichtliche aufgeben: dass Gottes Liebe wirklich existiert.

Den Rest des Gottesdienstes habe ich wie in Trance verbracht, total verzückt, glücklich. Natascha hat mich hinterher herzlich umarmt. Ich war froh, dass sie nichts gesagt hat, nur ganz feste gedrückt, als würde sie alles verstehen.

Ehrlich gesagt, habe ich damit gerechnet, dass die Sache sich ziemlich schnell wieder in Luft auflösen würde. Ich war davon ausgegangen, dass sich meine „spirituelle Erfahrung“ einfach als Folge eines hormonellen Ausnahmezustandes entpuppen würde.

Aber es ist anders. Heute Abend liege ich noch wach in meinem Bett, höre auf die Geräusche in meiner Wohnung. Ich habe es mir mit einem Glas Martini und einer Zigarette gemütlich gemacht. Gegen halb elf kommen meine Eltern von der Bibelstunde wieder und diskutierten im Hausflur wie gewohnt lauthals.

Die Tür zu ihrer Wohnung fällt ins Schloss, dann bleibt nur noch das Ticken meiner Küchenuhr. Eine Autotür knallt irgendwo, das quietschende Tor einer der aufgeräumten Garagen in unserer aufgeräumten Siedlung kracht laut in seine Riegel, und ich lausche in die Stille danach, blase sanft den blauen Rauch in den milden Lichtkegel meiner Nachttischlampe. Mein Körper liegt entspannt in den Kissen. Ich habe etwas Großes erlebt und spüre noch immer, dass Gott mir nahe ist. „Herr, ich möchte immer in deiner Nähe leben, deine Liebe immer spüren, dir folgen“, bete ich, und wieder durchflutet mich dieser Strom. Genauso müssen sich Säuglinge an der Mutterbrust fühlen, wenn sie gesättigt einschlummern. Und tatsächlich schlafe ich bald danach ein und erwache morgens wieder in der Gewissheit, dass ich ein neues Leben begonnen habe.

Ich weiß, es ist nicht nett von mir, aber ich bin froh, dass Udo die ganze Woche über nicht in der Firma war. Er ist krankgemeldet. Ich bin halt noch nicht so weit, ihm in sein wissend grinsendes Gesicht zu sehen.

Und wen habe ich am Sonntag beim Gottesdienst als Erstes gesehen? Natascha! Sie ist freudestrahlend auf mich zugelaufen, und diesmal habe ich sie aus vollem Herzen umarmt.

„Das ist übrigens Joachim, mein Mann“, stellt sie mir ihren Sitznachbarn von letztem Sonntag vor. Lächelnd umarmt er sie und küsst sie leicht auf die Wange. „Ich bin kurz bei Jörg, entschuldige mich“, sagt er und geht.

Natascha nimmt mich freundschaftlich bei der Hand, zieht mich zu sich heran und flüstert: „Ich freue mich so, dich zu sehen. Gott hat mir gezeigt, dass er Großes mit dir vorhat.“

Ich ahnte nicht, was ihre Worte noch für mich bedeuten würden.

1

Mindestens einmal täglich gehe ich auf Dans Blog, um seine Predigten zu lesen. In meinem Eifer habe ich sogar Annika den Link geschickt.

Annika ist meine beste Freundin. Wir kennen uns schon seit über zehn Jahren und haben viel miteinander erlebt. Wir reden eigentlich über alles – über Liebeskummer, Speckröllchen, Orangenhaut genauso wie über unsere Pläne, Erfolge und Traumprinzen. Ich kann nicht mehr zählen, auf wie vielen Feten wir schon zusammen versackt sind (sie hatte mir immer voraus, dass sie hinterher kein schlechtes Gewissen hatte) und wie viele „Martiniabende“ wir beiden gemeinsam verbracht haben. So ein Martiniabend mit Annika ist ein unumstößliches Ritual und hat ein paar ziemlich unumstößliche Regeln:

Annika und ich wechseln uns mit „Einladen“ ab. Die „Gastgeberin“ besorgt dann eine oder zwei Flaschen Martini, eine Plastiktüte Eiswürfel und schwarze Oliven von der Tanke im Gewerbegebiet und darf bestimmen, wo wir hingehen. Das will die Tradition so.

Oft treffen wir uns einfach nur in meiner Wohnung und kuscheln uns in mein Sofa. Bei Annika waren wir in den letzten Jahren nur ein einziges Mal, denn sie lebt in einer ziemlich stressigen WG, da kommt auch mal irgendein Idiot rein, der Heftklammern braucht oder den Dosenöffner nicht findet oder wissen will, ob Annika die Woche mit dem Treppenhaus dran ist.

Aber richtig gut wird’s, wenn wir unsere „Specials“ haben. Das Heißeste war mal ein Boot von der Hafenpolizei, als wir zusammen in Hamburg waren. Haben uns nachts da draufgeschlichen und uns im Rettungsboot unseren Drink genehmigt. Hatten die Hosen so voll aus Angst, dass jemand kommt und uns festnimmt. Wir haben uns so zugeknallt, dass ich keine Ahnung habe, wie wir da wieder runter sind. Dass die uns nicht erwischt haben, wundert mich noch heute.

Zu diesen Specials mit „Thrill“ gehört auch das Führerhäuschen vom Ladekran am Schrottplatz – man denkt immer, diese Kabinen wären abgeschlossen, sind sie aber oft gar nicht. Oder das Dach von so einem Neubau, wo noch keine Fenster drin waren. Siebte Etage oder so.

Dann gibt’s natürlich auch die eher romantischen Specials wie Waldlichtung, Pavillon im Schlosspark oder im Herbst eine Strohburg auf einem abgemähten Feld.

Heute haben Annika und ich jedenfalls mal wieder ein „Special“ einberufen und frieren uns die Hintern auf einem Hochsitz ab. (Das gibt’s natürlich auch: die Flops, diese Ideen, die sich als total hirnrissig rausstellen wie nachts Hochsitz im September.)

„Also diese Leute“, lallt Annika, obwohl sie höchstens ein Glas getrunken hat, „diese Leute mit diesem total bescheuerten Namen … Church-Dingsbums, wo du mir den Link geschickt hast – finde die beiden Apostel oder was ja auch süß, aber mal ehrlich, was ist das für’n Verein? Für mich sehen die eins a aus wie Sektenführer oder so.“

Ich wünschte, wir wären jetzt auf meinem Sofa und nicht auf diesem scheißkalten Hochsitz, und ziehe mir die Wolldecke fester um die Schultern. Wir haben noch nie ein „Special“ abgebrochen – eine weitere Grundregel: Beende niemals ein Special vorzeitig!

„‚Everlasting Church of God’s Power‘“, sage ich und versuche Annika nicht merken zu lassen, dass mich ihre vorschnelle Art mit allem, was über Martinitrinken, Diäten und Männer hinausgeht, umzugehen, ziemlich nervt.

„Du mit deinen ‚tiefgründigen Gesprächen‘ – entspann dich doch mal!“

Mit Annika kann man echt Spaß haben, und sie verträgt einiges an Alk, aber wenn man mal über was reden will, das etwas anspruchsvoller ist, sucht man sich besser jemand anderen.

Dabei ist Anni echt toll. Sie ist direkt, ehrlich, auf sie kann man sich verlassen. Aber für irgendwelche Fragen nach dem Sinn des Lebens oder so hat sie kein Verständnis. Eigentlich wundert es mich nicht, dass sie so reagiert. Hätte ich mir denken können.

Sie hält ja sogar die Baptisten für eine Sekte. Aber ich kann super umschalten. Das ist ja das Tolle an unseren Martiniabenden, dass man nichts denken muss, nur trinken, rauchen, kichern.

„Schon gut!“, sage ich, fische heimlich die Eiswürfel aus dem Glas und lasse sie zwischen die Ritzen der Bretter unter den Hochsitz fallen – scheiß auf die Tradition.

Hätte mir natürlich schon gewünscht, dass sie mal mitkommt in einen der Gottesdienste, sich das wenigstens mal anschauen. Aber Anni zieht es vor, sich mit den Dingen, zu denen sie sich eine Meinung bildet, nicht zu sehr auseinanderzusetzen. Ist einfacher für sie. Differenzieren ist nicht so ihr Ding.

Also bleiben unsere Martiniabende, was sie immer waren, und wenn ich reden will über Dinge, die mich noch so beschäftigen, dann muss ich mir jemand anderen suchen.

Meiner Clique brauche ich mit Gott eh nicht zu kommen, das gilt bei denen als Liebestöter. Jedenfalls waren sie extrem erleichtert, als ich nicht mehr zu den Baptisten gegangen bin. Im Grunde habe ich ziemlich lange ein Doppelleben geführt.

Wenn ich denen sagen würde, dass ich mein Leben ernsthaft in Gottes Hand gelegt habe, dass ich ihm folgen und vertrauen will – die würden mich doch für krank halten, für eine Spaßbremse allemal. Aber die sollen sich wundern, wenn die glauben, ich entwickle mich jetzt zu einer angepassten Kirchenmaus. Für die passt das wohl nicht zusammen: Markusevangelium und Martini.

Mein Bedarf an Input und Austausch ist neuerdings jedenfalls ziemlich hoch, und ich sauge alles an Predigten und Lehre auf, was ich kriegen kann, als hätte ich Jahre aufzuholen, die ich besser hätte verbringen können, als mich mit selbstverliebten Leuten herumzutreiben, die an allem und jedem etwas auszusetzen hatten.

Ich will Gott gefallen!