image

Timothy Keller

mit Katherine Leary Alsdorf

BERUFUNG

Eine neue Sicht
für unsere Arbeit

image

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Friedemann Lux

Bibelzitate folgen, wenn nicht anders angegeben,

Sonst:

© 2014 Brunnen Verlag

FÜR DIE MITARBEITER UND EHRENAMTLICHEN
DES
CENTER FOR FAITH & WORK
DER
REDEEMER PRESBYTERIAN CHURCH,
DIE UNSERER
GEMEINDE GEZEIGT HABEN,
DASS DAS
EVANGELIUM WIRKLICH ALLES NEU MACHT.

INHALT

VORWORT VON KATHERINE LEARY ALSDORF

EINLEITUNG

TEIL I
Gottes Plan für unsere Arbeit

Kapitel 1 Zum Arbeiten geschaffen

Kapitel 2 Die Würde der Arbeit

Kapitel 3 Arbeit und Kultur

Kapitel 4 Arbeit als Dienst

TEIL II
Unsere Probleme mit der Arbeit

Kapitel 5 Wenn die Arbeit fruchtlos wird

Kapitel 6 Wenn die Arbeit sinnlos wird

Kapitel 7 Wenn Arbeit zum Egotrip wird

Kapitel 8 Unsere Arbeit enthüllt unsere Götzen

TEIL III
Das Evangelium und die Arbeit

Kapitel 9 Eine neue „Story“ für unsere Arbeit

Kapitel 10 Ein neues Modell für unsere Arbeit

Kapitel 11 Ein neuer Kompass für unsere Arbeit

Kapitel 12 Eine neue Kraft für die Arbeit

Epilog

Anmerkungen

Danke!

Über die Autoren

Im Jahr 1957 durfte ich durch die Gnade Gottes

ein inneres Erwachen erleben, das mich in ein reicheres,

volleres, produktiveres Leben führte.

Damals bat ich Gott dankbar und demütig,

mir das Vorrecht und das Können zu geben,

andere Menschen durch meine Musik glücklich zu machen,

und ich finde, Er hat es mir in Seiner Gnade geschenkt.

Ihm allein die Ehre!

Dieses Plattenalbum ist eine bescheidene Opfergabe,

ein Versuch, durch unsere Arbeit genauso „Danke, Gott“

zu sagen mit unseren Herzen und unserer Zunge.

Möge Er den Menschen zu jedem guten Werk Seine Hilfe

und Kraft geben.

JOHN COLTRANE (JAZZ-SAXOFONIST),
AUS DEM BEIHEFT ZU „A LOVE SUPREME

VORWORT

Im Jahre 1989 schleppte eine Kollegin mich mit in ihre Kirche – eine neue Gemeinde in Manhattan, die sich Redeemer Presbyterian Church nannte. Ich war seit Langem geimpft gegen alles, was mit Kirche zu tun hatte, nachdem ich zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Kirche, in die meine Eltern gingen, mehr Schein als Sein war und dass etwaige religiöse Neigungen, die ich haben mochte, keine Chance gegen ein aufgeklärtes Denken hatten. Doch die Redeemer-Gemeinde faszinierte mich: Der Pastor war intelligent und redete wie ein normaler Mensch, er schien die Bibel ernst zu nehmen und er versuchte, sie auf Lebensbereiche anzuwenden, die mir wichtig waren – zum Beispiel meine Arbeit.

Einige Jahre später war es so weit: Ich wurde Christin, glaubte an die Verheißungen der Bibel und stellte mein Leben unter ihre Wahrheit. Ich hatte zugegebenermaßen etwas Angst, dass dieser Schritt das Ende meiner beruflichen Ambitionen und meines Lebensstandards bedeuten könnte, hatten doch gerade zwei meiner Brüder, die auch Christen geworden waren, den „Ruf“ in den missionarischen Dienst im fernen Ausland erhalten. Einer wohnte in einem Dorf in Afrika, wo es weder fließendes Wasser noch Strom gab. Aber gut – wenn ich künftig wirklich Gott an die erste Stelle setzen wollte, musste ich wohl bereit sein, ihm überallhin zu folgen. Ein paar Wochen nach meiner Entscheidung wurde plötzlich mein Chef krank und bat mich, die Leitung der Firma zu übernehmen. Ich sah das als Wink von Gott, dass er mich nicht in der Dritten Welt einsetzen wollte, sondern in der Welt der Wirtschaft.

Die nächsten zehn Jahre hatte ich leitende Positionen in mehreren Technologie-Unternehmen in New York City, Europa und Silicon Valley inne, und täglich kämpfte ich damit, was das bedeutete – in der Geschäftswelt „zum Dienst für Gott berufen“ zu sein. Die Redeemer Church und ihr leitender Pastor, Tim Keller, hatten mir ein solides Fundament gegeben. Das Evangelium von Jesus Christus sollte mich so verändern, dass ich gegenüber meinen Mitmenschen „Gottes Werkzeug“ wurde, ja vielleicht sogar ein unverwechselbares Profil als christliche Chefin bekam. Das klang alles ganz gut, aber was hieß das bloß in der Praxis?

Die Vorbilder waren dünn gesät und schienen oft Relikte aus der Zeit zu sein, wo die meisten Amerikaner noch zur Kirche gingen. Ein Generaldirektor sagte mir, dass er auf seinem Schreibtisch immer eine Bibel liegen hatte und dass manchmal jemand in der Firma ihn darauf ansprach. Ein anderer betete für die Firma, und es ging ihr entsprechend gut. Viele sahen ihren Beruf vor allem als Gelegenheit, möglichst viel Geld zu verdienen, das sie dann wohltätigen Organisationen spendeten. Wenn ich Pastoren oder Geschäftsleute fragte, was ihr Glaube mit ihrer Arbeit zu tun hatte, antworteten sie oft, dass die Haupt-, wenn nicht einzige Aufgabe eines Christen am Arbeitsplatz darin bestand, seine Kollegen zu missionieren – worauf die meisten Geschäftsleute rasch hinzufügten, dass sie nicht die Gabe der Mission hatten. Und keine dieser Antworten berührte die Frage, was der christliche Glaube für die Art, wie jemand seine Arbeit machte, bedeutete.

Die neue Hightech-Szene der 1990er-Jahre war ziemlich von sich eingenommen. Unternehmer und Techniker waren Halbgötter, und die Antwort auf alle Probleme der Welt hieß Technologie. Meine Angestellten hatten mehr Sendungsbewusstsein, als ich das in irgendeiner Kirchengemeinde erlebt hatte, und die Hoffnung auf den baldigen Börsengang war greifbarer und motivierender als der Himmel, wie ihn so viele Christen sich vorstellten. Ich arbeitete mit vielen richtig guten Leuten, die reif und charakterstark waren – Menschen, die sich ins Zeug legten, um die Welt voranzubringen, und die dazu weder die Kirche noch den Jesus der Bibel zu brauchen schienen. Ich lernte viel über Freude am Arbeitsplatz, Geduld und Hoffnung, Teamwork und Ehrlichkeit von Menschen, die nicht meinen Glauben teilten. Die Kollegen, die am Wochenende ein Meditationsseminar gemacht hatten, schienen frischer zurückzukommen als die, die in ihren evangelikalen Gottesdienst gegangen waren. Ich fing an, meine Arbeit nicht so sehr als Ort zu sehen, wo ich Gott erfolgreich diente, sondern vielmehr als Schmiede Gottes, in der er mich zurechtklopfte und schliff und läuterte.

Doch, ich glaubte an die Wahrheit des Evangeliums – dass Gott der Schöpfer aller Dinge war, dass er den Menschen nach seinem Bild erschaffen und seinen Sohn in die Welt gesandt hatte, um ihren Zerbruch zu heilen. Und dass er für mich als Berufstätige in Führungspositionen und für so viele andere Menschen, die die Welt positiv verändern konnten, einen Plan hatte. Aber wie, um alles in der Welt, sollte ich diesem Plan folgen an meinem turbulenten Arbeitsplatz, wo es ständig darum ging, um jeden Preis Erfolg zu haben?

Die Gemeinden, in die ich ging, boten mir hier keine große Hilfe. Den meisten Pastoren schien es wichtiger zu sein, uns bei unserem Dienst in der Gemeinde zu helfen als beim Dienst draußen in der Welt. Ende der 1990er-Jahre, als das Silicon Valley boomte, schienen viele Gemeinden kein Auge zu haben für die Wunden der Welt (oder bei ihnen selber). Viele, die eigentlich ein weites Herz für die Armen hatten, machten sich keine Gedanken darüber, wie die Systeme, Strukturen und Kulturen unserer Branche womöglich zu den Rissen und Gräben in unserem Land beitrugen. Christ sein am Arbeitsplatz – das schien sich in kleinen symbolischen Gesten zu erschöpfen, im frommen Verzicht auf gewisse Verhaltensweisen und in der „richtigen“ politischen Position bei den großen kulturellen und politischen Themen des Tages.

In der letzten Firma, die ich leitete, erlebte ich Erstaunliches. Ich hatte die Firma von ihrem Gründer übernommen, der den meisten Mitarbeitern und frühen Kunden blühende Landschaften der Innovationen und Börsenkurse vor die Augen gemalt hatte. Anfang 2000 rissen sich mehrere Investmentbanken um uns, mit Börsengangprognosen von 200 bis 350 Millionen Dollar. Wir hatten noch keine Produkte, aber mehrere befanden sich in der Betaphase der Erprobung. Meine Aufgabe war es, das Vertrauen der Mitarbeiter, Investoren und Kunden zu gewinnen und Produkte zu verkaufen, die unsere Versprechen wahr machten und das nötige Geld einbrachten, damit wir schwarze Zahlen schrieben. Jeden Tag standen wir unter Hochdruck. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wo hier der Platz des Evangeliums war. Hier einige der Beobachtungen, die ich damals machte:

Das Evangelium sagt mir, dass Gott alles, was ich tue, wichtig ist und dass er meine Gebete hört. Er erhört sie vielleicht nicht so, wie ich will, aber das liegt dann daran, dass er Dinge weiß, die ich nicht weiß. Zu seinem guten Plan für mich gehört auch, wie erfolgreich oder erfolglos ich bin. Gott ist die Quelle meiner Kraft und Ausdauer.

Das Evangelium sagt uns weiter, dass Gott die Produkte, die wir herstellen, und die Firmen und Kunden, für die wir arbeiten, wichtig sind. Er liebt nicht nur uns, sondern auch die Welt und möchte, dass wir ihr gut dienen. Nicht zuletzt durch meine Arbeit sorgt Gott für die Menschen und macht seine Welt neu. Gott gibt uns unsere Vision und unsere Hoffnung.

Das Evangelium ist die gute Nachricht. Mit den Worten des Pastors und Seelsorgers Jack Miller: „Kopf hoch! Du bist ein schlimmerer Sünder, als du dir je vorgestellt hast, und du bist mehr geliebt, als du je gehofft hast.“1 Mit anderen Worten: Ich werde immer wieder falschliegen und sündigen, und doch wird Gott sich durch seine Güte und Gnade in meinem Leben durchsetzen.

Das Evangelium gibt unserer Arbeit als Führungskräften einen Sinn. Wir sollen alle Menschen und ihre Arbeit würdig behandeln und eine Umgebung schaffen, in der sie sich entfalten und ihre von Gott gegebenen Gaben zum Wohl der Gesellschaft einsetzen können. Wir sollen in den Organisationen, die wir schaffen, lebendige Verkörperungen von Gnade, Wahrheit, Hoffnung und Liebe sein.

Unsere Beziehung zu Gott und seiner Gnade hat in der Art, wie wir reden, arbeiten und führen zum Ausdruck zu kommen – nicht als die, die alles richtig machen, sondern als Wegweiser zu Christus.

Nach 18 Monaten pausenloser Arbeit ging die Firma pleite. Wir waren Teil der Internetblase des Neuen Marktes, und als die platzte, platzten auch wir. Es gelang uns zwar, unser Produkt pünktlich auf den Markt zu bringen, nicht aber, die nötigen neuen Mittel aufzutreiben, nachdem der Risikokapitalhahn plötzlich zu war. Wir baten unsere Banker, einen Käufer zu suchen, der uns wenigstens ermöglichen würde, das Produkt weiter zu vermarkten, einen Teil unseres Personals zu behalten und einen Teil des Kapitals unserer Investoren zu retten. Doch die Ängste auf dem Markt ließen den Käufer, um den wir uns so bemüht hatten, nur einige Tage vor der Unterzeichnung des Vertrags abspringen. Am Tag nach dem geplatzten Termin musste ich hundert Angestellte entlassen und danach unser geistiges Eigentum verkaufen.

Wie hatte so viel harte, gute Arbeit so schiefgehen können? Ich haderte mit Gott. Warum hatte er uns in die Insolvenz rauschen lassen, wo er mich doch so eindeutig in diesen Job „berufen“ hatte? Ich hatte unseren Mitarbeitern eine gute Chefin sein wollen, und jetzt standen sie ohne Anstellung auf einem leer gefegten Arbeitsmarkt da. Oder hatte ich mit den überzogenen Gewinnerwartungen unserer Firma nicht am Ende selber zu dieser Internetblase beigetragen? Was für eine Verantwortung hatte ich gegenüber unseren Aktionären, ja der Gesellschaft allgemein? Die einzigen christlichen Geschäftsleute, die ich je als Redner gehört hatte, waren die, die ihre großen Erfolge Gott zuschrieben, aber was sollte ich mit diesem Misserfolg machen? Ich brauchte ein Evangelium, das selbst hier eine gute Nachricht war!

Als ich der Belegschaft sagte, dass der nächste Tag unser letzter wäre, passierte etwas Wunderbares, dessen ganze Tragweite und Schönheit mir erst nach und nach aufging. Die Mitarbeiter beschlossen spontan, am nächsten Tag noch einmal in die Firma zu kommen – ohne Bezahlung –, um sich voneinander und von ihrer Arbeit zu verabschieden. Es war ein bittersüßes Zusammensein, aber die einen brachten Musikinstrumente mit, andere zeigten Übungen aus ihren abendlichen Tai-Chi-Kursen, und man lachte über gemeinsame Erinnerungen. Ich war platt. Diese Menschen feierten eine Firmenkultur, die ihnen in ihrer Arbeit und ihrem Zusammensein ein Stück Freude gebracht hatte – obwohl die Firma am Ende war. Irgendwann ging mir auf, dass ich an diesem Tag sozusagen Gott bei der Arbeit erlebt hatte, bei dem, was seine Spezialität ist: Heilen, Erneuern, Erlösen.

Vielleicht war es ein Fall von ausgleichender Gerechtigkeit für all meinen Frust über die mangelnde Unterstützung durch die Kirchen, dass sechs Monate später die Redeemer Presbyterian Church mich einlud, zurück nach New York zu kommen, um eine Arbeit für Menschen im Berufsleben aufzubauen. Nachdem ich ein Jahrzehnt lang mit Gott gerungen, über die verwandelnde Kraft des Evangeliums gegrübelt und darüber geklagt hatte, wie die Kirchen einen bei dem Thema „Arbeit und Beruf“ im Regen stehen ließen, bekam ich jetzt eine Chance, anderen zu helfen, die Hoffnung und Wahrheit des Evangeliums besser an ihrem Arbeitsplatz auszuleben.

Das vorliegende Buch bietet einige grundsätzliche Gedanken über Gott, Jesus und den Heiligen Geist, über unser Verhältnis zu diesem dreieinigen Gott und darüber, was all dies für die Arbeit bedeutet, zu der Gott uns erschaffen hat. Wie wir arbeiten – im Kontext unserer Kultur, unserer Zeit, unseres Berufes und unserer Firma – ist etwas, worüber wir alle, jeder an dem Platz, wo er steht, nachdenken müssen. Aber die Antworten werden alle darum kreisen müssen, wer Gott ist, was seine Beziehung zu uns und sein Plan für die Welt ist und wie das Evangelium unser Leben und die Art, wie wir arbeiten, auf den Kopf stellt.

Ich bin dankbar dafür, wie Tim Keller in den letzten 25 Jahren in seinen Predigten und seiner Art, die Gemeinde zu leiten, das Evangelium auf unser Berufsleben angewendet hat. Und dass er sich die Zeit genommen hat, diese Grundlagenarbeit in diesem Buch zu Papier zu bringen, damit wir alle tiefer schürfen und mehr darüber lernen können, wie Gott uns in unserer Arbeit beruft zum treuen Dienst für ihn.

Katherine Leary Alsdorf

Leiterin des Center for Faith & Work der Redeemer Presbyterian Church

EINLEITUNG

Warum wir die Berufung
wiederentdecken müssen

Robert N. Bellahs epochemachendes Buch Gewohnheiten des Herzens hat vielen Amerikanern geholfen, das Phänomen zu benennen, das damals wie heute den Zusammenhalt unserer Kultur untergräbt: den „expressiven Individualismus“. An anderer Stelle argumentiert Bellah, dass die Amerikaner eine Kultur geschaffen haben, die die Wahlfreiheit und das Eigenleben des Einzelnen so betont, dass es kein gemeinsames Leben mehr gibt, keine großen Wahrheiten und Leitwerte, die die Gesellschaft zusammenbinden. Bellah wörtlich: „Wir bewegen uns auf eine immer größere Bejahung der Heiligkeit des Einzelnen zu, [aber gleichzeitig] verschwindet unsere Fähigkeit, uns eine Gesellschaftsstruktur vorzustellen, die die Individuen zusammenbindet … Der Heiligkeit des Individuums fehlt das Gegengewicht des Gespürs für das Ganze oder der Sorge um das Gemeinwohl.“2 Doch am Ende von Gewohnheiten des Herzens schlägt er einen Schritt vor, der uns auf dem Weg der Restabilisierung unserer sich auflösenden Kultur ein gutes Stück weiterbringen würde:

Um zu einer wirklichen Veränderung zu führen, … [müssten wir] uns die Idee des Berufs oder der Berufung wieder aneignen … müssten wir zu der Idee zurückfinden, dass Arbeit ein Beitrag zum Wohl aller und nicht bloß ein Mittel zum eigenen Fortkommen ist.3

Dies ist ein bemerkenswerter Satz. Wenn Bellah recht hat, besteht eine der Hoffnungen für unsere zerfallende Gesellschaft in der Wiederentdeckung der Idee, dass alle menschliche Arbeit nicht bloß ein „Job“, sondern eine Berufung ist. Das Wort „Beruf“ kommt von „berufen“. Heute bedeutet es oft einfach „Arbeitsplatz“ oder „Job“, aber das war nicht die ursprüngliche Bedeutung. Ein Job ist nur dann ein „Beruf“, wenn jemand anderes mich damit beauftragt hat und ich die Arbeit für ihn und nicht für mich selber mache. Unsere Arbeit kann nur dann eine Berufung sein, wenn wir sie als Dienst und Auftrag sehen, der über unseren Eigennutz hinausgeht. Wir werden noch sehen, dass ein Denken, das Arbeit in erster Linie als Mittel zur Selbstverwirklichung sieht, den Einzelnen langsam kaputt macht und (wie Bellah und viele andere aufgezeigt haben) damit auch die ganze Gesellschaft untergräbt.

Doch wenn wir ein altes Denken „wiederentdecken“ wollen, müssen wir uns zuerst anschauen, woher es stammt. Die Definition von Arbeit als Berufung gründet in der Bibel, und im Folgenden wollen wir, Bellahs Ruf folgend, unser Möglichstes tun, um die revolutionäre, neu machende Beziehung zu beleuchten, die zwischen dem christlichen Glauben und dem Arbeitsplatz besteht. Wir werden diese Beziehung und alle Gedanken und Praktiken, die damit zu tun haben, unter die Überschrift „Integration von Glaube und Arbeit“ stellen.

Glaube und Arbeit – ein Fluss
mit vielen Strömungen

Wir sind nicht allein bei diesem Versuch. Der Beziehung des christlichen Glaubens zur Arbeit wird heute so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie vielleicht seit der Reformation nicht mehr. Die Zahl der Bücher, Forschungsprojekte, akademischen Veranstaltungen und Internetdiskussionen zu diesem Thema ist in den letzten beiden Jahrzehnten lawinenartig gewachsen. Doch Christen, die konkrete Wegweisung für ihren Berufsalltag suchen, finden oft wenig Hilfen in dieser wachsenden Bewegung. Einige, wie Katherine Alsdorf (vgl. das Vorwort), stellen enttäuscht fest, wie oberflächlich die Ratschläge und Beispiele sind. Andere sind verwirrt von der Vielfalt (manche würden sagen: dem Wirrwarr) der Stimmen, die da ihre Ratschläge für den arbeitenden Christen geben.

Man kann sich diese aktuelle „Faith-at-Work-Bewegung“ als Fluss vorstellen, der aus ganz unterschiedlichen Nebenflüssen und Quellen gespeist wird. Am aktivsten und zahlenmäßig stärksten sind hier vielleicht die Gruppierungen mit einem evangelikalen Verständnis der Bibel und des christlichen Glaubens, aber es gibt auch sehr bedeutende Beiträge von anderen Traditionen und Richtungen. Von der ökumenischen Bewegung stammt die Idee, dass Christen ihre Arbeit zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit in der Welt einsetzen sollten. Der berufstätige Christ – so konnten wir hier lernen –, der seine Arbeit gut tun will, braucht eine spezifisch christliche Ethik.4 Die Gruppenbewegung des 20. Jahrhunderts betonte, dass die Christen einander als Lehrer und Helfer brauchen, um in den Mühen des Arbeitsalltags zu bestehen.5 Hier lernten wir, dass gute Arbeit innere Erneuerung und ein verwandeltes Herz benötigt. Die Erweckungstradition im Evangelikalismus sieht den Arbeitsplatz im Wesentlichen als Ort, wo ich Jesus Christus bezeuge,6 und als Christ berufstätig zu sein bedeutet ja in der Tat eine gewisse „öffentliche“ Identifizierung mit Jesus, die geeignet ist, Kollegen neugierig auf ihn zu machen.

Viele haben sich auch nach älteren Quellen für die Integration von Glaube und Arbeit umgesehen. Für die großen Reformatoren, allen voran Martin Luther und Johannes Calvin, war alle Arbeit (auch sogenannte „weltliche“) genauso eine Berufung Gottes wie der Dienst des Mönchs oder Priesters.7 Zu den Grundüberzeugungen der lutherischen Theologie gehört die Betonung der Würde aller Arbeit und die Einsicht, dass Gott die Menschheit durch unsere menschliche Arbeit versorgt, speist, kleidet, behütet und trägt. Wenn wir arbeiten, sind wir, wie die Lutheraner dies gerne ausdrücken, die „Finger Gottes“, die Werkzeuge seiner Fürsorge und Liebe zu den Menschen. Dieses Verständnis der Arbeit erhebt ihren Sinn vom bloßen Lebensunterhalt zur Nächstenliebe und macht uns gleichzeitig frei von der drückenden Last, durch Arbeit unseren Selbstwert beweisen zu müssen. Die Vertreter der calvinistischen oder reformierten Tradition, wie z. B. Abraham Kuyper, legten Wert auf noch einen weiteren Aspekt der Arbeit als Berufung Gottes: Arbeiten heißt nicht nur, die Schöpfung pflegen, sondern auch, sie lenken und strukturieren. In dieser reformierten Sicht besteht der Sinn der Arbeit im Schaffen einer Kultur, die Gott ehrt und in der die Menschen gedeihen können. Jawohl, wir sollen unseren Nächsten lieben, aber der christliche Glaube macht sehr spezifische Aussagen über das Wesen des Menschen und was seinem Wohl dient, und wir müssen dafür sorgen, dass unsere Arbeit in Übereinstimmung damit geschieht. Der treue christliche Arbeiter steht auf dem Boden einer christlichen „Weltsicht“.8

All diese unterschiedlichen Traditionen geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie wir es anstellen können, unsere „Berufung“ wiederzuentdecken. Diese verschiedenen Strömungen können einen Christen leicht verwirren, denn nicht immer harmonieren sie miteinander. Die lutherische Theologie neigt zur Ablehnung der reformierten Idee der „Weltsicht“ und argumentiert, dass Christen ihre Arbeit nicht viel anders tun sollten als Nichtchristen. Ein Großteil des kirchlichen Mainstreams, der meist das klassische Christentum nicht als einzigen Erlösungsweg betrachtet, empfindet daher Evangelisation als nicht so bedeutsam, wie Evangelikale das tun. Viele finden die Autoren und Organisationen, die die Idee der „Weltsicht“ betonen, zu „theoretisch“, die innere Herzensänderung scheint ihnen hier zu kurz zu kommen. Doch sie selber können sich nicht einigen, was Herzenswandel und geistliches Wachsen konkret sein sollen. Kurz: Wenn Sie ein Christ sind, der seinen Glauben im Beruf leben möchte, fragen Sie sich womöglich, wie Sie die folgenden Gedanken unter einen Hut bringen können:

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, etwas für die soziale Gerechtigkeit in der Welt zu tun.

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, stets ehrlich zu sein und meine Kollegen zu missionieren.

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, meine Arbeit gut, ja exzellent zu machen.

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, etwas Schönes zu schaffen.

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, mir die Verherrlichung Gottes zum Ziel zu setzen und die Kultur in diesem Sinne zu beeinflussen.

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, sie durch alle Höhen und Tiefen mit einem dankbaren, freudigen, vom Evangelium verwandelten Herzen zu tun.

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, das zu tun, was mir die größte Freude und Leidenschaft gibt.

Gott durch meine Arbeit dienen heißt, so viel Geld zu verdienen, wie ich kann, damit ich damit entsprechend freigebig sein kann.

Ergänzen sich diese Gedanken oder widersprechen sie sich, und in welchem Maße tun sie das? Eine schwierige Frage, denn jede dieser Sichtweisen hat von der Bibel her wenigstens etwas für sich. Und die Schwierigkeit liegt nicht nur in der Fülle der theologischen Betonungen und kulturellen Faktoren, um die es hier geht, sondern auch darin, dass sie sich unterschiedlich auswirken können, je nach der Art der Arbeit. Christliche Ethik, Motive, Zeugnis und Weltsicht prägen unser Arbeiten auf sehr verschiedene Weise, je nachdem, um was für eine Arbeit es sich handelt.

Stellen wir uns vor, eine Christin ist bildende Künstlerin. Sie setzt sich konsequent für Gerechtigkeit ein, ist ehrlich und gewissenhaft, hat Freunde, die ihr in den Höhen und Tiefen des Lebens beistehen, macht aus ihrem Glauben keinen Hehl und versteht ihre Kunst als Dienst an Gott und ihren Mitmenschen und nicht als Mittel, berühmt zu werden. Ist damit die Integration von Arbeit und Glaube schon komplett? Oder muss das, was sie in ihren Werken an Realität abbildet und die Art, wie sie es abbildet, nicht von der christlichen Lehre über das Wesen der Realität geprägt sein? Werden die Geschichten, die sie mit ihrer Kunst erzählt, nicht davon geprägt sein, was sie über die Sünde und die Erlösung und die Zukunftshoffnung glaubt? Die Antwort ist offensichtlich „Ja“, und wir entdecken: Unser Wille, unsere Gefühle, unsere Seele und unser Verstand, sie alle sind beteiligt, wenn wir unserem Glauben und dem, was er für uns bedeutet, auf der Leinwand unserer täglichen Arbeit Gestalt geben.

Aber was, wenn Sie ein christlicher Pianist sind oder ein Schuster? Was bedeutet eine christliche Weltsicht für die Art, wie Sie Schuhe besohlen oder die Mondscheinsonate spielen? Hier ist die Antwort weniger deutlich.

Wer rettet uns aus diesem Labyrinth? Die meisten Menschen, die angefangen haben, Bücher über die Integration von Arbeit und Glaube zu lesen oder in entsprechende Gruppen zu gehen, sind entweder mit nur einer der theologischen Strömungen in Berührung gekommen oder haben bereits mehrere mitbekommen und sind entsprechend verunsichert. Kirchen und Organisationen, die das Thema „Arbeit und Glaube“ betonen, neigen gerne dazu, einen oder zwei dieser verschiedenen Denkansätze auf Kosten der anderen in den Vordergrund zu stellen. Aber einfach alle miteinander zu kombinieren, in der Hoffnung, so ein sinnvolles Ganzes zu erhalten, kann auch nicht die Lösung sein.

Wir werden in diesem Buch nicht auf alle Fragen eine Antwort geben können, aber wir hoffen, dass dem Leser einiges klarer wird. Und anfangen wollen wir mit zwei Beobachtungen über die obige Liste von Sätzen, die mit „Gott durch meine Arbeit dienen heißt …“ anfangen. Erstens: Wenn ich diesen Satzanfang ergänze zu: „Gott durch meine Arbeit dienen heißt vor allem …“, dann erhalte ich eine Liste von Widersprüchen. Ich muss dann einen oder zwei dieser Sätze auswählen und den Rest verwerfen. Die meisten Leute, die sich zu dem Thema „Glaube und Arbeit“ äußern, tun (stillschweigend oder offen) genau dies. Lasse ich die Sätze dagegen so, wie sie sind, und sehe jeden von ihnen als eine Möglichkeit unter mehreren, Gott durch meine Arbeit zu dienen, dann widersprechen sie sich nicht, sondern ergänzen sich. Zweitens: Wie wir gerade sahen, können diese Faktoren unterschiedlich gestaltet und gewichtet sein, je nach meinem Beruf, meiner Kultur und historischen Epoche. Wenn wir diese beiden Prinzipien bedenken, können wir die verschiedenen Aussagen, Denkansätze und Wahrheiten als Baukasten betrachten, mit dem wir ein Modell für die Integration von Glaube und Arbeit für unseren Beruf, unsere Zeit und unseren Ort konstruieren können.

Wir wollen die Dinge aber nicht nur klarer machen, sondern auch lebendiger, realer und praktischer. Wir möchten mit dem, was der christliche Glaube (direkt und indirekt) über dieses unerschöpfliche Thema zu sagen hat, Ihre Fantasie und Tatkraft ansprechen. Die Bibel ist voll von Weisheit, Hilfe und Hoffnung für jeden, der einen Beruf ausübt oder erlernt, der Arbeit sucht oder seine Arbeit gut machen will. Und wenn wir sagen, dass die Bibel uns „Hoffnung“ für unsere Arbeit gibt, tun wir dies in dem Wissen, wie zutiefst frustrierend und schwierig unsere Arbeit sein kann und wie stark demnach die Hoffnung sein muss, die wir brauchen, wenn wir in dieser Welt Berufene sein wollen, die ihren Beruf ausüben. Ich kenne keinen provozierenderen und anregenderen Zeugen dieser Hoffnung als J. R. R. Tolkiens kleine, unbeachtete Geschichte „Leaf by Niggle“ (deutsch: „Blatt von Tüftler“).

Den Baum gibt’s wirklich

Als Tolkien eine Zeit lang an seinem Herrn der Ringe gearbeitet hatte, kam er an einen Punkt, wo es nicht weitergehen wollte.9 Was er schreiben wollte, war eine Geschichte, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. Als führender Experte im Altenglischen und in anderen alten nordeuropäischen Sprachen wusste er, dass (anders als bei den Griechen und Römern oder sogar Skandinaviern) die meisten alten britischen Mythen über die Bewohner der Märchen- und Sagenwelt – Elfen, Zwerge, Riesen und Zauberer – verloren gegangen waren. Tolkiens Traum war es immer schon gewesen, eine kreative Rekonstruktion dieser altenglischen Mythologie zu schaffen. Der Herr der Ringe basierte auf dieser verlorenen alten Welt. Für sein Projekt musste Tolkien mindestens in den Grundzügen mehrere fiktive alte Sprachen und Kulturen schaffen sowie die Jahrtausende umspannenden Chroniken mehrerer Völker – all dies, um die Tiefe und das realistische Flair zu erhalten, die er für eine fesselnde Geschichte für absolut notwendig hielt.

Bei seiner Arbeit an dem Manuskript kam Tolkien an einen Punkt, wo die Geschichte sich immer mehr verzweigte. Die Protagonisten wanderten in verschiedene Gegenden seiner imaginären Welt, wo sie diverse Gefahren zu bestehen hatten und die Handlungsstränge immer komplizierter wurden. Es war eine enorme Herausforderung, all diese Handlungen und Nebenhandlungen zu entfalten und jede zu einem befriedigenden Ausgang zu führen. Und nicht nur das. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, und auch wenn Tolkien mit seinen 50 Jahren nicht als Soldat einberufen wurde, fiel der Schatten des Krieges schwer auf ihn. Er hatte die Schrecken des Ersten Weltkrieges miterlebt und nicht vergessen, und jetzt schien England kurz vor der Invasion durch Hitlers Truppen zu stehen. Wer wusste, ob Tolkien, selbst als Zivilist, den Krieg überleben würde?

Würde es ihm je gelingen, das Werk seines Lebens zu vollenden? Er arbeitete ja nicht erst seit ein paar Jahren daran. Als er mit dem Herrn der Ringe begann, hatte er bereits mehrere Jahrzehnte an den Sprachen, Chroniken und Geschichten gearbeitet, die den Hintergrund des Romans bildeten. Ihn womöglich nicht fertigstellen zu können war „ein furchtbarer und betäubender Gedanke“10. An der Straße an Tolkiens Haus stand damals eine Pappel. Eines Morgens musste Tolkien feststellen, dass sie von einem Nachbarn gestutzt worden war. Er fing an, seine Mythologie als seinen „eigenen inneren Baum“ zu sehen, dem womöglich das gleiche Schicksal bevorstand. Er hatte „keine geistige Energie oder Erfindungsgabe mehr.“11 Dann wachte er eines Morgens auf und hatte eine kurze Geschichte im Kopf, die er sogleich niederschrieb. Als der Dublin Review ihn um einen Beitrag bat, schickte er sie ein, unter dem Titel „Leaf by Niggle“. Sie handelte von einem Maler.

Im ersten Absatz der Geschichte erfahren wir zwei Dinge über diesen Maler. Erstens: Sein Name ist Niggle. Das Oxford English Dictionary, an dem Tolkien mitarbeitete, gibt folgende Definition des englischen Verbs to niggle: „planlos oder unzweckmäßig arbeiten, Zeit auf belanglose Details verschwenden, es in Kleinigkeiten übergenau nehmen“12. In der deutschen Übersetzung heißt Niggle denn auch „Tüftler“. Niggle alias Tüftler war natürlich Tolkien selber, der sehr gut wusste, dass dies eine seiner eigenen Schwächen war. Er war ein Perfektionist, der mit seinen Werken nie zufrieden war, sich leicht durch unwichtige Details von wichtigeren Dingen ablenken ließ und zum Zögern und Sich-Zersorgen neigte, eben wie Niggle auch.

Wir erfahren über Niggle weiter: „Er sollte eine lange Reise machen. Er wollte gar nicht fahren; die Sache war ihm ausgesprochen zuwider, aber er konnte sich ihr nicht entziehen.“ Er schiebt die Reise ständig auf, aber weiß, dass er sie irgendwann wird antreten müssen. Tom Shippey, der wie Tolkien in Oxford altenglische Literatur lehrte, erklärt, dass in der altenglischen Literatur diese notwendige lange Reise der Tod war.13

Niggle liegt vor allem ein Bild am Herzen. Es hat mit einem Blatt begonnen, das ihm durch den Kopf ging. Aus dem Blatt wird ein Baum, und dann „begann überall um den Baum herum und hinter ihm … eine Landschaft sich auszubreiten; undeutlich sah man einen Wald, der sich über das Land hinzog, und Berge mit schneebedeckten Gipfeln.“ Niggle verliert das Interesse an seinen anderen Bildern, und um seine Vision zu verwirklichen, macht er sich eine Leinwand, die so groß ist, dass er zum Malen auf eine Leiter steigen muss. Er weiß, dass er sterben muss, aber er sagt sich: „Jedenfalls werde ich dieses eine Bild noch fertigbekommen, mein ureigenes Bild, ehe ich auf diese abscheuliche Reise gehen muss.“

Und er malt und malt, „tupfte hier einen Pinselstrich hin und rieb dort ein Fleckchen wieder weg.“ Aber viel bringt er nicht zuwege, und das hat zwei Gründe: Erstens ist er einer jener Maler, „die Blätter besser malen als Bäume. Er pflegte viel Zeit auf ein einziges Blatt zu verwenden und zu versuchen, seine Form, seinen Glanz und das Glitzern der Tautropfen an seinen Rändern einzufangen“, mit dem Ergebnis, dass er trotz all seiner Arbeit nur wenig auf die Leinwand bringt. Der zweite Grund ist seine „Gutherzigkeit“, die ihn seine Arbeit immer wieder unterbrechen lässt, weil ein Nachbar ihn um eine Gefälligkeit bittet, vor allem ein gewisser Herr Paris, der keinen Sinn für seine Malkünste hat.

Eines Abends, als Niggle spürt, dass seine Zeit fast abgelaufen ist, bittet Herr Paris (der ein lahmes Bein hat) ihn, hinaus in die Kälte zu gehen und einen Arzt für seine kranke Frau zu holen. Niggle tut dies – und wird selber krank. Kaum genesen, versucht er verzweifelt, sein Bild fertigzubekommen. Doch da kommt sein Fahrer: Die Zeit für die Reise ist gekommen. „Ach du lieber Himmel!“, sagt Niggle und beginnt zu weinen. „Und das Bild ist noch nicht einmal fertig!“

Einige Zeit nach seinem Tod bemerken die Leute, die jetzt in seinem Haus wohnen, auf einem Fetzen von der ehemaligen großen Leinwand „ein schönes Blatt“, das intakt geblieben ist. Es landet schließlich im Stadtmuseum, „und lange Zeit hing dort ‚Blatt, von Tüftler‘ in einem stillen Winkel, und ein paar Besucher bemerkten es.“

Aber zurück zu Niggle selber; seine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sein Fahrer setzt ihn in einen Zug, der ihn ins Jenseits bringt. Dort erlebt er eine Szene, wo er zwei Stimmen hört. Die eine, strenge, scheint die der Gerechtigkeit zu sein; sie stellt fest, wie viel Zeit er in seinem Leben vergeudet und wie wenig er zustande gebracht hat. Die andere Stimme, die sanft, aber nicht weich ist und die der Gnade zu sein scheint, hält dagegen, dass Niggle doch so viel für andere getan hat, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Niggle darf mit einem zweiten Zug aufs Land fahren. Als er dort ankommt, sieht er etwas Wunderbares: „Vor ihm stand der Baum, sein BAUM, fertig. Wenn man das von einem lebenden Baum sagen kann, dessen Blätter sich entrollen, dessen Äste wachsen und sich im Wind biegen, was Niggle so oft gespürt oder geahnt und so oft nicht hatte einfangen können. Er starrte auf den BAUM, hob langsam die Arme und breitete sie weit aus. ‚Es ist eine Gabe!‘, sagte er.“14

Die Welt vor dem Tod – seine alte Heimat – hat Niggle fast völlig vergessen; dort ist sein Werk unvollendet geblieben, und von den paar Bruchstücken haben nur sehr wenige Menschen etwas. Doch in seinem neuen Land, der ewig wirklichen Welt, entdeckt er, dass sein Baum mitnichten ein Wunschtraum von ihm war, der mit ihm gestorben ist, sondern dass er fertig und vollendet dasteht, als Teil der wahren Realität, die für immer bestehen und Menschen Freude bringen wird.15

Ich habe diese Geschichte oft vor Menschen aus verschiedenen (vor allem jedoch künstlerischen) Berufen erzählt, und egal, was sie über Gott und das Leben nach dem Tod glauben, viele von ihnen berührt sie tief. Tolkien hatte ein tief christliches Verständnis der Kunst, ja der Arbeit überhaupt.16 Er glaubte, dass Gott uns Talente und Gaben gibt, damit wir füreinander das tun können, was er für uns und durch uns tun will. Als Schriftsteller z. B. konnte er durch das Erzählen von Geschichten, die das Wesen der Realität darstellen, das Leben der Menschen mit Sinn füllen.17 Niggle durfte erfahren, dass der Baum, den er nur geahnt hatte, „ein echter Teil der Schöpfung“ war18 und dass selbst das bisschen davon, das er den Menschen auf Erden enthüllt hatte, eine Vision des Wahren war. Tolkiens Geschichte war ihm selber ein großer Trost. Sie „half Tolkiens Angst ein wenig zu lindern und ihn wieder an den Herrn der Ringe zu bringen“, auch wenn es vor allem das freundliche Drängen von C. S. Lewis war, das ihn weiterschreiben ließ.19

Künstler, aber auch Unternehmer werden sich leicht mit Niggle identifizieren können. Sie gehen in ihrer Arbeit von oft sehr großen Visionen aus – Visionen einer Welt, die nur sie sich richtig vorstellen können. Nur wenigen von ihnen gelingt es, auch nur einen nennenswerten Teil ihrer Vision umzusetzen, und kaum einer erreicht das Ziel ganz. Und auch all die unter uns, die, wie Tolkien, zu Perfektionismus und Pedanterie neigen, können sich gut mit Niggle identifizieren.

Aber eigentlich ist jeder Niggle. Wir alle möchten so gerne etwas Großes schaffen – und bringen es nicht fertig. Jeder möchte lieber erfolgreich als vergessen sein, jeder möchte die Welt verändern. Aber das haben wir nicht in der Hand, und wenn dieses irdische Leben alles ist, dann wird irgendwann alles zusammen mit der sterbenden Sonne verbrennen und es wird niemanden mehr geben, der sich noch an irgendetwas erinnern kann. Alles wird vergessen sein, und all unser Tun, selbst das beste und edelste, wird umsonst gewesen sein.

Außer es gibt Gott. Wenn der Gott der Bibel existiert und es somit unter und hinter dieser Realität eine echte, ewige Realität gibt und dieses Leben nicht das Einzige ist, dann kann jede Arbeit, selbst die einfachste, die wir als von Gott Berufene tun, die Welt für immer verändern. Das ist ja die Verheißung des christlichen Glaubens: „Nichts ist vergeblich, was ihr für ihn [den Herrn] tut“, schreibt Paulus in 1. Korinther 15,58. Er spricht hier von der Arbeit in der Gemeinde, aber Tolkiens Geschichte zeigt uns, dass dieser Satz letztlich für jede Arbeit gültig ist. Der Christ Tolkien hatte sich darauf eingestellt, jemand zu sein, der in den Augen dieser Welt wenig geleistet hatte. (Ironischerweise schuf er dann ein geniales literarisches Werk, das zu einem der größten Bestseller aller Zeiten wurde.)

Wie ist das mit Ihnen? Nehmen wir an, Sie studieren als junger Mensch Stadtplanung. Warum? Sie mögen große Städte, und Sie haben eine Vision, wie eine „richtige“ Stadt auszusehen hat. Doch Sie werden enttäuscht werden, denn wahrscheinlich werden Sie in Ihrem ganzen Leben nicht mehr als ein „Blatt“ oder allenfalls einen „Zweig“ schaffen. Aber es gibt wirklich ein Neues Jerusalem, eine himmlische Stadt, die einst wie eine geschmückte Braut auf die Erde herabkommen wird (Offenbarung 21–22).

Oder Sie sind Jurist geworden – weil Sie eine Vision von einer Gesellschaft haben, in der Gerechtigkeit, Fairness und Friede herrschen. In zehn Jahren werden Sie ihre Illusionen über Bord geworfen haben, weil Sie sich so sehr für wirklich wichtige Dinge einsetzen möchten, aber das allermeiste von dem, was Sie tun, ist juristischer Kleinkram. Vielleicht werden Sie nur ein- oder zweimal im Leben das Gefühl haben, wirklich etwas Entscheidendes bewirkt zu haben.

Was auch Ihr Beruf ist: Den Baum gibt es wirklich! Was Sie auch suchen in Ihrer Arbeit – die Stadt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen, die Welt der Schönheit, die große Geschichte, die neue Ordnung, die Heilung – es ist wirklich da! Es gibt einen Gott, und es gibt eine neue, heil gewordene Welt, die er schaffen wird, und durch Ihre Arbeit zeigen Sie Ihren Mitmenschen ein Stück davon. Selbst an Ihren allerbesten Tagen wird Ihre Arbeit für diese neue Welt nur Stückwerk sein, aber der ganze große Baum, den Sie suchen – die Schönheit, Harmonie, Gerechtigkeit, Freude und Gemeinschaft –, er wird einmal wahr werden. Und wenn Sie dies wissen, werden Sie nicht verzweifeln, weil Sie in diesem Leben nur ein, zwei Blätter fertigbringen. Sie werden mit Befriedigung und Freude arbeiten. Ihre Erfolge werden Ihnen nicht zu Kopf steigen, an Ihren Niederlagen werden sie nicht zerbrechen.

Ich habe gerade gesagt: „Wenn Sie dies wissen.“ Wenn Sie so arbeiten wollen, wenn Sie in Ihrer Arbeit den gleichen Trost und die gleiche Freiheit erfahren wollen, die Tolkien durch seinen christlichen Glauben bekam, müssen Sie die Antworten der Bibel auf drei Fragen kennen.

Erstens: Warum wollen wir arbeiten? (Warum brauchen wir Arbeit, um ein erfülltes Leben zu haben?) Zweitens: Warum ist das Arbeiten so schwer? (Warum kommt es uns oft so fruchtlos, sinnlos und schwierig vor?) Und drittens: Wie können wir mit den Schwierigkeiten fertigwerden und durch das Evangelium Befriedigung in unserer Arbeit bekommen? Der Rest dieses Buches versucht, Antworten auf diese drei Fragen zu geben, und ist entsprechend in drei Teile gegliedert.

TEIL I

Gottes Plan für unsere Arbeit

Kapitel 1

Zum Arbeiten geschaffen

So waren nun Himmel und Erde erschaffen, und nichts fehlte mehr. Am siebten Tag hatte Gott sein Werk vollendet und ruhte von seiner Arbeit aus. Darum segnete er den siebten Tag und sagte: „Dies ist ein ganz besonderer, heiliger Tag! Er gehört mir.“ … Gott, der Herr, setzte den Menschen in den Garten von Eden. Er gab ihm die Aufgabe, den Garten zu bearbeiten und zu schützen. (1. Mose 2,1-15)

Am Anfang war die Arbeit

Gleich auf den allerersten Seiten äußert sich die Bibel zum Thema „Arbeit“ – so wichtig und fundamental ist das Arbeiten. Der Verfasser der Genesis (1. Buch Mose) beschreibt das gewaltige Projekt der Erschaffung der Welt durch Gott als Arbeit,20 und zwar eine Arbeit, die sich innerhalb einer normalen Arbeitswoche von sieben Tagen vollzieht.21 Und dann zeigt er uns die Menschen im Paradies – wie sie arbeiten. Diese Sicht der Arbeit – die Verbindung der Arbeit mit der Erschaffung der Welt durch Gott und dem Sinn des menschlichen Lebens – ist unter den großen Religionen und Glaubenssystemen der Welt einmalig.

Der ganze Schöpfungsbericht der Genesis ist einzigartig unter den antiken Schöpfungsgeschichten. Viele alte Kulturen haben Geschichten, die den Anfang der Welt und der Menschheitsgeschichte als Ergebnis eines Kampfes zwischen verschiedenen kosmischen Kräften darstellen. In dem babylonischen Schöpfungsmythos, dem Enuma Elisch, besiegt der Gott Marduk die Göttin Tiamat und erschafft aus ihren Überresten die Welt. In diesem und ähnlichen Texten befindet sich das sichtbare Universum in einer prekären Balance einander widerstreitender Mächte.22 In der Bibel dagegen ist die Schöpfung nicht das Ergebnis eines Konflikts, denn Gott hat keine Rivalen; alle Mächte und Wesen im Himmel und auf Erden sind von ihm erschaffen und von ihm abhängig.23 Die Schöpfung ist nicht das Ergebnis eines Kampfes, sondern der Plan eines genialen Meisters. Gott hat die Welt nicht wie ein Soldat geschaffen, der einen Schützengraben aushebt, sondern wie ein Künstler, der ein Meisterwerk fertigt.

Zur griechischen Schöpfungsmythologie gehört die Vorstellung, dass die Menschheit durch verschiedene „Zeitalter“ geht und dass das erste Zeitalter das „Goldene Zeitalter“ war, in welchem Menschen und Götter harmonisch zusammen auf der Erde lebten. Auf den ersten Blick erinnert dies vage an den Garten Eden, aber es gibt da einen gewichtigen Unterschied: Der griechische Dichter Hesiod schreibt, dass im Goldenen Zeitalter weder Menschen noch Götter arbeiten mussten, da es in diesem Urparadies Nahrung für alle in Hülle und Fülle gab.24 Der Gegensatz zur Bibel könnte nicht größer sein. Ihre ersten Kapitel beschreiben wiederholt Gott als „arbeitend“; sie benutzen dazu das hebräische Wort mlkh, das sonst ganz gewöhnliche menschliche Arbeit bezeichnet. „Es ist“, so Gordon Wenham in seinem Genesis-Kommentar, völlig „unerwartet, dass das außerordentliche göttliche Handeln bei der Erschaffung von Himmel und Erde so beschrieben wird.“25

Am Anfang – hat Gott gearbeitet. Arbeit ist also nicht ein notwendiges Übel, das erst später in die Welt kam, oder etwas, das halt für den Menschen bestimmt ist, aber unter der Würde des großen Gottes liegt. Nein, Gott selber hat gearbeitet – aus Spaß an der Freude, wenn man so will. Einen noch höheren Ursprung der Arbeit kann es nicht geben.

Wie Gott arbeitet

Es ist bemerkenswert, dass im 1. Kapitel der Genesis Gott nicht nur arbeitet, sondern auch Freude daran hat. „Dann betrachtete Gott alles, was er geschaffen hatte, und es war sehr gut! … So waren nun Himmel und Erde erschaffen, und nichts fehlte mehr“ (1. Mose 1,31–2,1). Gott findet das, was er gemacht hat, schön. Er inspiziert es anerkennend und sagt: „Das ist gut!“ Wie bei jeder Arbeit, die gut ist und uns befriedigt, sieht er sich selber in seinem Werk. „Das Ganze der Harmonie und Perfektion des vollendeten Himmels und der vollendeten Erde bringt das Wesen ihres Schöpfers angemessener zum Ausdruck, als die einzelnen Teile für sich dies tun könnten.“26

Das 2. Kapitel der Genesis zeigt uns, dass Gottes Arbeit nicht nur in der Erschaffung, sondern auch in der Erhaltung seiner Schöpfung besteht. Dies ist das, was die Theologen Gottes „Fürsorge“ nennen. Gott erschafft die Menschen und anschließend wirkt er als ihr Ernährer und Versorger. Er formt den ersten Menschen (1. Mose 2,7), pflanzt einen Garten für ihn, den er bewässert (2,6.8), und schafft ihm eine Frau (2,21-22). Der Rest der Bibel zeigt uns, wie Gott diese Arbeit der Fürsorge weiter tut; er gibt dem Boden Wasser und Wachstum, gibt all seinen Geschöpfen ihre Speise, hilft den Leidenden und sorgt für alles, was lebt (vgl. Psalm 104,10-22; 145,14-16).

Aber Gott arbeitet nicht nur selber, er beauftragt andere Arbeiter, sein Werk weiterzuführen. In 1. Mose 1,28 (LU) sagt er den Menschen: „Füllet die Erde und machet sie euch untertan.“ Das Wort „untertan machen“ deutet an, dass zwar alles, was Gott erschaffen hatte, gut war, dass es aber noch weitgehend unentwickelt war. Gott hat in seine Schöpfung ein gewaltiges Potenzial der Kultivierung und Vervollkommnung hineingelegt, das die Menschen durch ihre Arbeit zur Entfaltung bringen sollen.27 In 1. Mose 2,15 (LU) setzt Gott den Menschen in den Garten, „dass er ihn bebaute und bewahrte“. Dies bedeutet: Gott arbeitet, um uns zu versorgen und zu bewahren, aber auch wir arbeiten für ihn. Wobei eigentlich Gott es ist, der durch uns arbeitet. Der Satz „Wenn der Herr nicht das Haus baut, dann ist alle Mühe der Bauleute umsonst“ in Psalm 127,1 impliziert, dass Gott (der für uns sorgt) das Haus durch die Bauleute baut. Und Martin Luther versteht die Aussage in Psalm 145, dass Gott allen Lebewesen ihre Speise gibt, so, dass er uns durch die Arbeit der Bauern und anderer Menschen zu essen gibt.28

Unsere Arbeit ist etwas Gutes

Was wir im biblischen Schöpfungsbericht lesen, ist wahrlich erstaunlich: Zum Paradies gehörte die Arbeit. Der Theologe Ben Witherington resümiert in seinem Buch über die Arbeit: „Es ist vollkommen klar, dass es zu Gottes gutem Plan von Anfang an gehörte, dass die Menschen arbeiten – oder, genauer, in dem ständigen Kreislauf von Arbeit und Ruhe leben.“29 Wieder könnte der Gegensatz zu anderen Religionen und Kulturen nicht größer sein. Die Arbeit kam nicht nach einem goldenen Zeitalter des Müßiggangs in die Welt hinein, sondern sie gehörte zu Gottes vollkommenem Plan für die Menschen, denn wir sind nach Gottes Bild erschaffen, und zu seiner Herrlichkeit und Seligkeit gehört es, dass er arbeitet, wie auch sein Sohn, der gesagt hat: „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch“ (Johannes 5,17 LU).