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Marieluise Bierbaum

Marie

das Mädchen mit den
dunklen Augen

Roman

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Dieser Roman beschreibt in einer Mischung
aus Dichtung und Wahrheit, wie es war
oder wie es hätte sein können
.

© 2014 Brunnen Verlag Gießen

Inhalt

1. KapitelFesttagsstimmung

2. Kapitel„Sie soll Marie heißen!“

3. KapitelZwölf Uhr mittags

4. KapitelDer Großvater

5. KapitelDie Spinnräder surren

6. Kapitel„Mach Musik, Marie!“

7. KapitelMarie ist weg

8. KapitelJohann

9. KapitelEine schöne Bescherung

10. Kapitel„In guten wie in bösen Tagen“

11. KapitelDer Vater

12. KapitelDas Geheimnis

13. KapitelAbschied

Bedeutung regionaler plattdeutscher Ausdrücke

1. KAPITEL

Festtagsstimmung

SELBST ALS LEICHE war Marie anders als alle Frauen im Dorf. Wie sie so dalag in dem weißen Totenhemd aus feinem Leinen, das sie in ihrer Jugend selbst genäht hatte für die Aussteuer und das man jetzt aus der Truhe geholt hatte. Dort war es all die Jahre für diesen Augenblick aufbewahrt worden. Ihre Hände ruhten gefaltet auf dem schlichten Leinenlaken, das die Tote bedeckte und die Konturen des Körpers nur schemenhaft erkennen ließ.

Sie war nicht von der hellen, herben Schönheit, die so typisch war für die Frauen in diesem Landstrich im äußersten nördlichen Winkel Westfalens, direkt an der Grenze zu Niedersachsen, zum Hannöverschen, wie die Älteren immer noch sagten.

Auch hatte sie weder die hohe, schlanke Figur noch das schmale Gesicht mit den blauen Augen und den blonden, zu Zöpfen oder einem Knoten fest um den Kopf gelegten Haaren.

Alles an Marie war rundlich und dunkel und irgendwie warm und weich. Das Gesicht, die Körperform, das widerspenstige Haar, das sich nur mühsam mit strengem Mittelscheitel zu einem Knoten bändigen ließ. Selbst jetzt auf der Totenbahre wirkte sie noch warm und lebendig, obwohl die dunklen Augen geschlossen waren. Sie lag da, als hielte sie ein kleines Nickerchen, wie sie es oft in der letzten Zeit getan hatte.

Das dunkle Festkleid hing noch auf dem Bügel am Schrank. Es war dort bereit für den Kirchgang mit heiligem Abendmahl. Für dieses feierliche Ereignis, das nur wenige Sonntage im Jahr begangen wurde, trug man schwarze, festliche Kleidung. Alle Frauen im Dorf taten es, auch Marie, obwohl sie es lieber farbig und fröhlich gehabt hätte.

Aber so war es immer gewesen, solange sie denken konnte, diese Tradition, dass alles, was mit Kirche und Glauben zu tun hatte, eher ernst und traurig als lebendig und froh daherkam.

Überhaupt waren die Farben der Menschen in diesem Landstrich bei der Kleidung gedeckt und dunkel. Zwar trug Marie nicht mehr die preußische Tracht, wie es ihre Mutter noch ganz selbstverständlich getan hatte, aber ein Kleid aus Stoff im Blaudruck, vielleicht mit einem schönen Spitzenkragen und einer grauen Kattunschürze, war das Höchste, was sich eine Frau ihres Standes leisten konnte. Und so war es schon etwas ganz Besonderes, dass sie nun so ganz in Weiß dalag.

Vor zwei Tagen war es geschehen. Bei der Vorbereitung für den Besuch des Gottesdienstes. Als Marie sich niederbeugte, um die Füße in der Emailleschüssel zu waschen. Diese Reinigung gehörte für sie so selbstverständlich zu den Vorbereitungen auf das heilige Mahl wie das Lesen der Vermahnungen aus Stark’s Handbuch am Vorabend des Kirchgangs. Es war mühsam für sie geworden in der letzten Zeit. Die geschmeidige Gelenkigkeit der jungen Jahre war dahin. Die Knochen waren alt, die Glieder steif und besonders die Kniegelenke schmerzten bei jeder Bewegung. Als sie sich niederbeugte zu den Füßen in der Schale, durchzuckte ein heftiger, stechender Schmerz ihre Brust. Erschrocken fuhr sie sich mit den Händen ans Herz. Doch da quoll schon das warme Blut aus dem im Schreck weit geöffneten Mund, floss über die Brust und die erhobenen Hände. Sie konnte nicht mehr um Hilfe rufen. Nur ein gurgelnder, glucksender Ton stieg aus ihrer Kehle. Dann sank sie auf dem Stuhl zusammen und rutschte schräg zur Seite. Die Hände fielen herab und hingen schlaff am Körper herunter.

So fand man sie eine halbe Stunde später, als schon alles bereit war für den Aufbruch zur Kirche und man verwundert feststellte, dass Marie noch fehlte. Das war erstaunlich, weil gerade sie es immer gewesen war, die alle anderen antrieb, ja pünktlich zu sein, besonders beim Kirchgang. Sie achtete ganz genau darauf, dass die fünf Plätze des Hofes auf der Kanzelseite in der Kirche besetzt waren. Und nun fehlte ausgerechnet sie in der Runde der sauber und festlich gekleideten Kirchgänger.

Der Schrecken war groß, als man sie blutüberströmt und halb heruntergerutscht vom Stuhl in ihrem Zimmer fand. Sofort war allen klar, dass hier nichts mehr zu helfen war.

Damit hatte niemand gerechnet. Zwar hatte Marie in der letzten Zeit etwas müder gewirkt, als es sonst ihre lebhafte Art war. Aber das fiel erst im Nachhinein auf und hatte vorher keinen beunruhigt. Sie selbst hatte auch nicht geklagt, und so war der Schrecken jetzt umso größer.

Auf dem Dorf gab es klare Regeln für einen Sterbefall, der sich – wie die meisten zu der Zeit noch – zu Hause zutrug. Zunächst mussten der erste Nachbar und die Heuerlinge in den beiden Kotten, die zum Hof gehörten, benachrichtigt werden. Sie waren zuständig für alle praktischen Dinge, die zu erledigen waren, damit die nächsten Verwandten sich ganz ihrer Trauer widmen konnten.

Nachdem der herbeigerufene Hausarzt eine Lungenembolie als Todesursache festgestellt hatte, war die wichtigste Aufgabe, Maries beide Töchter zu benachrichtigen, die nicht im Dorf wohnten. Keine leichte Aufgabe zu einer Zeit, da viele Haushalte noch nicht über ein Telefon verfügten.

Im Dorf selbst hatte sich die Nachricht schnell herumgesprochen, und die Kirchgänger trugen zur weiteren Verbreitung im ganzen Kirchspiel bei.

Die Tote musste gewaschen, angekleidet und im Sterbezimmer aufgebahrt werden.

Haus und Hof wurden für eine würdige Trauerfeier hergerichtet, weil es ein „Afdrag“ werden sollte. Dabei wurde die Trauerfeier mit Predigt auf der Deele des Sterbehauses gehalten. Eine Sitte, der man immer weniger folgte; die Planungen für eine Friedhofskapelle für das ganze Kirchspiel waren schon im Gange.

Zu einer Feier auf dem Hof war es oft notwendig, das Fachwerk auf der großen Deele neu zu streichen. Und in diesem Fall hatte Marie selbst schon vor langer Zeit bestimmt, alle schwarzen Balken mit weißen Leinentüchern zu verhängen. „Damit es ganz hell ist bei meinem Begräbnis“, hatte sie gesagt.

Nur mit dem Nachthemd bekleidet steht das Kind mit bloßen Füßen zitternd vor Kälte auf den hellen Holzdielen in dem ungeheizten Raum. Das Sofa aus moosgrünem Samt hat man zur Seite geschoben, den Tisch ganz hinausgetragen, um Platz zu machen für die Bahre, die auf zwei Holzböcken etwas erhöht mitten im Raum steht. Mit dem Gesicht zu den beiden Fenstern, so, als solle sie durch den Obstgarten hinausschauen, weiter über die Pferdekoppel und die angrenzenden Felder hinweg bis zum nahen Berg.

Alles andere im Zimmer ist unverändert. Die dunkle Kommode mit dem Bild der Ähren lesenden Frauen darüber, der Waschtisch mit der hellen, geäderten Marmorplatte und dem ovalen Spiegel, der Kleiderschrank mit den geschnitzten Initialen J.B.

Und das Bett, daneben der Nachttisch, darauf das Bild. Verstohlen schaut das Kind auf das Bild: ein lachendes Mädchen auf dem Schoß der Großmutter, die es liebevoll an sich drückt. Ein Foto aus den letzten Sommerferien, voller Freude, Ausgelassenheit und Geborgenheit.

Noch kann das Kind es nicht fassen, was geschehen ist, und was das für es bedeuten wird. Irgendwie ist die Großmutter ja noch anwesend. Und so hat das Kind auch keine Scheu, die Tote anzufassen. Es möchte sie aufwecken, um mit ihr ins warme Bett zu kriechen, sich anzukuscheln an die weiche Wärme ihres Körpers, wie es das so oft getan hat. Und dann eine Geschichte hören. Eine Geschichte aus der Bibel oder lieber noch „von früher“. „Oma, erzähl von früher!“

Und wenn dann dem Kind die Augen zufielen und die Großmutter vorsichtig das Licht auf dem hohen Nachttisch löschte und sich selbst zum Schlafen zurechtlegte, ertönte es leise, wie aus tiefem Traum: „Weiter, Oma! Erzähl noch mehr.“

Unzählige, unendliche Geschichten erzählte Marie auf diese Weise dem Kind in ihrem Bett. Sie erzählte wohl mehr sich selbst und ahnte nicht, wie tief und unauslöschlich die Erlebnisse ihres Lebens – denn das waren die Geschichten von früher – in die Seele des Kindes fielen und dort unvergesslich blieben.

Und nun das unberührte, leere Bett, der fremde, merkwürdige Geruch im Raum, die Kälte und die Stille – Totenstille. Unfassbar und unheimlich für das Kind. Zum ersten Mal taucht der Gedanke an das „nie wieder“ auf und macht dem Mädchen Angst. Beklommen und mit schwerem Herzen schleicht sich das Kind aus dem Zimmer zurück in das Bett im Fremdenzimmer des Hofes, das für sie wirklich ein fremdes Zimmer ist, obwohl die Eltern jetzt dort schlafen.

Am nächsten Tag sollte die Beerdigung sein. Dazu hatten die Nachbarn alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Früh am Morgen war die Tote in den dunklen, schlichten Sarg mit den schweren Messingbeschlägen gebettet und auf die Deele getragen worden, wo sie an der Stirnseite mit den Füßen zur großen Deelentür aufgebahrt war. Der Sarg blieb offen bis zur Aussegnung, damit viele noch Abschied nehmen konnten.

Dicht gedrängt saßen die Menschen auf den schlichten Holzbänken, die eigens für diesen Zweck aus einfachen Brettern zusammengefügt waren. Alle waren sie gekommen, die Bewohner des Dorfes, und dazu viele Bekannte von nah und fern.

Neben dem Sarg standen die Lebensbäume als immergrüne Symbole der Unsterblichkeit. Und dann – ganz neu und ungewöhnlich für eine Trauerfeier – große Kerzenständer mit brennenden, unruhig flackernden Kerzen rechts und links. Man war vorsichtig mit offenem Feuer auf den Höfen, aber so hatte Marie es sich gewünscht und schon lange vorher bestimmt: weiße Deelenwände, helle Kerzen, eine Festtagsstimmung, keine Trauerversammlung. „Ihr dürft dabei sein bei dem Fest, das ich feiern darf, wenn der Heiland mich aufnimmt in sein Reich“, hatte sie immer gesagt. Und wie wahr: Nun, da sie auf Erden nicht mehr zum heiligen Abendmahl gekommen war, würde sie jetzt das Festmahl im Himmel feiern.

Die Leute im Dorf, die sie kannten und ihre Auferstehungshoffnung teilten, hatten alle Narzissen der gesamten Umgebung gepflückt, sie als Osterglocken mitgebracht und in den Sarg und darum herum gelegt: leuchtendes Gelb und helles Grün, Zeichen des nahenden Frühlings, des neu erblühenden Lebens, der Auferstehung. Es hätte Marie sicherlich gefreut, die frohen Farben zwischen all den tiefschwarz gekleideten Leuten zu sehen.

Auch das Kind hielt einen kleinen Strauß Osterglocken fest in der Hand. Es waren die Besonderen, von denen es nur wenige gab. Die mit dem kleinen, orangefarbigen Kranz in der Mitte. Es saß dicht bei der Mutter und wie alle nahen Verwandten in der ersten Reihe und verfolgte mit Staunen das Geschehen.

Wie der Posaunenchor sich aufstellte und auf den Einsatz wartete. Wie immer noch Menschen herbeiströmten, zum Sarg traten und in stillem Gedenken mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen Abschied nahmen. Was mochten sie wohl in ihren Herzen bewegen? Viel Dank sicherlich und Traurigkeit, denn Marie war weit über den Kreis ihrer Familie hinaus beliebt gewesen.

Inzwischen war die Deele so überfüllt, dass nicht mehr alle einen Sitzplatz bekommen konnten und an den Wänden entlang stehen mussten.

Nun trat der Pastor vor den Sarg und es wurde ganz still. Nach dem Posaunenspiel und den traditionellen Begräbnisliedern, die die meisten auswendig singen konnten, wurde die Predigt nach alter Sitte zum Taufspruch der Verstorbenen gehalten: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ Es war ein Vers aus dem Jesajabuch im 54. Kapitel, der noch vielen erstgeborenen Mädchen der Familie als Taufspruch mit auf den Lebensweg gegeben werden sollte.

Nach der Aussegnung und einem weiteren Lied wurde der Sarg geschlossen und vorsichtig auf den dafür bereitgestellten Wagen gehoben. Der Trauerzug formierte sich und machte sich auf den langen Weg zum Kirchhof.

Es war ungewöhnlich kalt in diesem März. Der eisige Wind sorgte dafür, dass der lange Trauerzug sich nicht langsam und bedächtig bewegte, sondern in zügigem Tempo voranschritt. Auch das hätte Marie gefreut, denn sie war in allem schnell gewesen, in ihren Bewegungen bei der Arbeit und auch in ihren Gedanken und Entscheidungen.

Als der Zug die gewundene Dorfstraße entlangging, läutete das Totenglöckchen auf dem Spritzenhaus der Feuerwehr, so wie jedes Mal, wenn ein Toter aus dem Dorf getragen wurde. Dann führte der Weg durchs offene Feld. Hier war der Wind besonders eisig, und der Trauerzug legte noch etwas Tempo zu.

Das Kind kannte den Weg gut. Wie oft war es ihn mit der Großmutter zur Kirche gegangen und auch zum Kirchhof, wo jeden Samstagnachmittag die Grabstelle der Familie gepflegt und ein Blumenstrauß aus dem heimischen Garten auf das Grab des Großvaters gestellt wurde. So war ihm die Stelle nicht fremd mit dem schwarzen Grabstein und der Inschrift „Ich bin die Auferstehung und das Leben“.

Als der Sarg nach Gebet, gemeinsamem Vaterunser und Segen ins Grab gesenkt war, zerstreute sich die Trauerversammlung schnell, wohl wegen der Kälte und auch, um schnell zurück ins Trauerhaus zum „Kaffee noen Loike“ zu kommen, der von den Nachbarn mit reichlich Butterkuchen und gutem Bohnenkaffee auf der umgeräumten Deele vorbereitet war.

Trotz aller Traurigkeit war es ein entspanntes, frohes Beisammensein auf der immer noch festlich geschmückten Deele. Und viele, die später davon berichteten, sagten, dass Maries Begräbnis ein richtiger Festtag gewesen sei, an den sie sich lange und gern erinnerten.

Es hatte nicht viele Festtage gegeben in Maries Leben. Wohl gab es Stunden überschwänglichen Glücks und auch Zeiten stiller Freude. Aber wenn man es gewichten müsste, war es wohl doch mehr Schweres und Notvolles gewesen, was das Leben dieser starken Frau ausgemacht hatte. Stark im Leiden, stark im Lieben, und vor allem stark im Glauben. Und so war sie für viele zum Vorbild geworden. Sie hatten sich Rat und Hilfe bei ihr geholt in schlimmen Lebensnöten, weil sie wussten, dass sie nie leer zurückkehren würden. Liebevolle Zuwendung und praktische Hilfe gehörten für Marie zusammen. Und so ging manch einer nicht nur mit einem aufmunternden Wort und einem Segensgebet, sondern auch mit einer guten Sommerwurst wieder nach Hause.

„Nimm die Sachen für Marlene mit. Sie sind in dem großen Holzkasten, der hinten auf dem Flur steht“, sagte Karl zu seiner Schwester. „Mutter hat sie extra dort verwahrt und mich gerade letzte Woche noch daran erinnert.“

„Was sind das für Sachen, Mama?“, fragte das Kind neugierig und drängte die Mutter, den Kasten zu holen.

Aber diese winkte nur ab und antwortete ungewöhnlich kurz, fast barsch: „Jetzt nicht, später. Wir müssen nach Hause.“

Die Fahrt zurück in die nahe Stadt verlief fast schweigend. Die Eltern wechselten nur die nötigsten Worte, und die Kleine war bedrückt von der angespannten Stimmung zwischen den beiden, die sie nur zu gut kannte. Gern hätte sie noch über alles gesprochen, was sie in den letzten zwei Tagen erlebt hatte. Doch dazu schien jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zu sein. Später, wenn sie mit der Mutter allein sein würde, könnte sie immer noch fragen.

Aber sie hatte gesehen, dass der braune Holzkasten hinten im Auto stand, und war zunächst beruhigt.

Zu Hause angekommen wurden die Sachen aus dem Auto geladen und ins Haus getragen. Auch der braune Holzkasten. Ihn stellte die Mutter schnell auf die Abseite, so, als wäre er etwas ganz Unwichtiges. Dabei behielt die Kleine ihn auch die nächsten Tage fest im Auge und wartete auf eine Gelegenheit, wann sie erfahren würde, was in dem geheimnisvollen Kasten verborgen war.

„Mama, mach den Kasten auf“, drängelte sie dann auch immer wieder, bis es der Mutter schließlich zu viel wurde und sie den Kasten holte. Sie stellte ihn auf den Küchentisch. Es war ein großer, länglicher, schlichter Kasten aus poliertem Holz mit einem kleinen Schloss.

Sofort wollte das Kind den Kasten öffnen, doch enttäuscht musste es feststellen, dass er abgeschlossen war.

„Hast du den Schlüssel, Mama?“, fragte es.

„Wie ärgerlich! Nein, ich habe keinen Schlüssel.“

„Versuch es doch mit dem kleinen Küchenmesser. Damit hat Papa neulich auch die Blechdose aufgemacht.“

„Gut, wir können es versuchen. Hol mal das Messer.“

Schnell sprang das Kind vom Küchenstuhl und holte das Messer aus der Besteckschublade.

„Pass aber auf, dass das Holz nicht verkratzt. Der Kasten sieht so schön aus.“

Vorsichtig machte sich die Mutter daran, den Holzkasten mit dem Messer zu öffnen. Einmal rutschte das Messer ab und hinterließ einen langen Kratzer auf dem polierten Holz. Doch dann sprang das einfache Schloss plötzlich auf und die Mutter öffnete den Deckel. Neugierig beugten sich beide über den Kasten.

Dass der Inhalt nicht wohlgeordnet und verpackt war, sondern sie erst mal nur zerknülltes Seidenpapier und vergilbte Stofffetzen sahen, wunderte sie beide nicht sonderlich. So war Marie gewesen, nicht besonders akkurat und penibel, eher etwas unordentlich und nachlässig.

So auch hier. Sie mussten erst etwas suchen, bevor sie die einzelnen Stücke ausgraben und vorsichtig nebeneinander auf den Küchentisch legen konnten.

Da war das dicke, schwarze „Stark’s Handbuch“, das ihnen zuerst in die Hände fiel. Enttäuscht meinte das Kind: „Was soll ich denn damit? Die alte Schrift kann ich doch gar nicht lesen.“

Doch als dann die in goldenem Gelb schimmernde kostbare, geschliffene Bernsteinkette aus einem Leinentuch gewickelt wurde, konnte es nur staunend „Oh, wie schön!“ flüstern.

Ein Sparbuch auf den Namen des Kindes mit einer beträchtlichen Summe, angelegt bereits zur Taufe und nun mit Zins und Zinseszins ein sehenswerter Betrag, kam zum Vorschein und erweckte eher das Interesse der Mutter. Das Kind konnte jetzt noch nichts Rechtes damit anfangen und ahnte nicht, dass es sich als Studentin viele Jahre später sein erstes Auto damit finanzieren würde.

In ein Spitzentaschentuch gewickelt war ein kleiner Gegenstand. Es musste etwas Kostbares sein, das konnte man schon an der Verpackung sehen. Es war ein kleines, goldenes Kreuz, das Konfirmationskreuz der Großmutter. Zwar war das dünne Goldkettchen zerrissen, aber das Kreuz glänzte wie neu. Andächtig nahm das Kind es in die Hand und strahlte die Mutter mit leuchtenden Augen an.

Nun folgten wieder mehrere Lagen zerknülltes Papier und einige Leinenhandtücher mit gesticktem Monogramm, und die Mutter wollte schon anfangen, alles wieder einzupacken, als sie unten in der Kiste doch noch etwas Hartes entdeckten. Es war ein schmutziger Leinenbeutel mit einer unregelmäßigen Form. Was mochte das bloß sein?

Eifrig griff das Kind zu und zog zu seinem großen Erstaunen eine alte, ramponierte Geige aus dem Beutel. Das Holz war an manchen Stellen abgeschabt und stumpf, die Saiten zerrissen, und der Bogen lag in zwei Stücke zerbrochen dabei.

„Ach du liebe Zeit“, stöhnte die Mutter und riss entsetzt die Augen auf.

So erschrocken hatte das Kind sie selten gesehen. Als die Mutter dann hastig die Geige wieder in den Beutel stopfte, unten in den Kasten warf und den Deckel mit einem lauten Knall energisch zuklappte, da wusste das Kind, dass es hier auf ein Geheimnis im Leben der Großmutter gestoßen war. Und als es die Tränen in den Augen der Mutter sah, wusste es auch, dass es nicht aufhören würde, nachzuforschen, bis es dieses Geheimnis gelüftet hätte.

2. KAPITEL

„Sie soll Marie heißen!“

ES WAR EINE UNRUHIGE NACHT für die Bauern in dem kleinen Dorf am nördlichen Hang des Berges. Grell zuckten die Blitze, und grollend krachten die Donnerschläge. Dazu ein gewaltiger Wolkenbruch mit laut prasselndem Regen. Der Sturm rüttelte in heftigen Böen an Dächern und Fenstern.

Seit Tagen schon hatte sich dies Gewitter mitten im heißesten August angekündigt mit schwülen Nachmittagen und verhangener Sonne gegen Abend. Aber es war nicht über den Höhenzug des nahen Berges gekommen. Nur am dumpfen Grollen in der Ferne hatten die Bauern erleichtert gemerkt, dass das Unwetter sich wieder einmal auf der anderen Seite des Berges austobte. Und das kleine Reihendorf mit seinen zwölf Höfen und zwanzig Heuerlingskotten am Rande der fruchtbaren Tiefebene war wieder einmal verschont geblieben.

Doch diesmal war es anders. Schon am frühen Abend war eine merkwürdige Unruhe über das Vieh in den Ställen gekommen. Die Kühe wollten sich nach dem Melken einfach nicht zur Ruhe begeben. Sie zerrten an ihren Ketten und legten sich nicht wie sonst auf das frische Stroh in ihrem Stall. Auch die Schweine liefen unruhig in ihren Ställen hin und her, und die Hühner und Gänse gackerten aufgeregt, was für diese Tageszeit äußerst ungewöhnlich war.

So hatte sich das Unwetter angekündigt, und die Menschen im Dorf sahen voller Sorge der Nacht entgegen. Gegen Mitternacht kam dann die ganze Wucht des Unwetters über sie und verbreitete Angst und Schrecken.

Man fürchtete die Gefahr eines Gewitters besonders wegen der Blitze. Zu oft war es schon geschehen, dass ein Blitz eine Scheune getroffen hatte. Und dann war es nur eine Frage von Minuten, bis helle Flammen aus dem Dach schlugen und ein ganzes Anwesen mit Wohnhaus, Ställen und Scheune dem lodernden Feuer zum Opfer fiel. Nach einer einzigen Nacht hatte so schon mancher Hof in Schutt und Asche gelegen.

So war es auch in dieser Nacht nicht verwunderlich, dass es keinen Hof und keinen Kotten im Dorf gab, wo nicht Licht brannte und die Menschen besorgt und ängstlich das Unwetter beobachteten. Und während die Männer – Bauern, Heuerlinge und Knechte – Haus, Scheunen und Ställe absicherten und bewachten, saßen die Frauen, Kinder und Mägde zusammen in der Wohnstube, angstvoll aneinandergedrängt. Manche lagen auf den Knien und beteten. Je nach Temperament riefen sie Gott laut um Hilfe an oder murmelten leise ihre auswendig gelernten Gesangbuchverse.

Gegen drei Uhr ließ die Kraft des Unwetters langsam nach. Der Abstand zwischen Blitz und Donner wurde größer, ein Zeichen, dass das Gewitter sich entfernte und nicht mehr direkt über ihnen stand. Auch der Wind schwächte sich allmählich ab. Nur der Regen strömte wie aus Eimern.