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Albrecht Kaul

Wegen Gefährdung
des sozialistischen Friedens

Bewegende Schicksale
von Christen in der DDR

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© 2014 Brunnen Verlag Gießen

Inhalt

Strafsache K 97278: Eberhard Schulze

Mein Freund, der Feind: Theo Lehmann

Eine Jungscharstunde für 150,75 Mark: Monika und Ehrenfried Bär

Überwundene Angst: Evilis Heiße

Durchgeschüttelt und gehalten: Hansjörg Weigel

Widerstand macht stärker: Gerda Dietze

„Und morgen fahren Sie ab!“: Albrecht Kaul

Mit den Seligpreisungen fing es an: Ulf Liedke

Stasi-Verdacht: Eike Berger

Achtzehn Monate im „Koloss von Prora“: Thomas Weigel

Reise der Entscheidung: Angelika und Andreas Beier

„Schatz, glaube ihnen nichts!“: Harald Bretschneider

Vom Rädelsführer zum Ehrenbürger: Thomas Küttler

Ich bleibe trotzdem hier: Rosi Landersheim

Die Macht der Gewaltlosigkeit: Christian Führer

Strafsache K 97278:

Eberhard Schulze

Der Jungenkreis im Domgemeindehaus Zwickau war wieder super. Eberhard läuft durch den Maiabend nach Hause und hat das neue Lied im Kopf, das sie nun schon mehrere Wochen jedes Mal zum Abschluss singen: „Wir jungen Christen tragen …“ Er versucht alle fünf Strophen herzusagen, aber das gelingt noch nicht ganz. Eigentlich würde er gern so einen mit Schreibmaschine geschriebenen Zettel mit nach Hause nehmen, aber Karl-Heinz, der Jugendleiter, wacht darüber wie über einen großen Schatz. Klar, er hat keine Schreibmaschine. Irgendeine Sekretärin hat im Volkseigenen Betrieb (VEB) die Blätter mit 4-5 Durchschlägen heimlich vervielfältigt. Man vermutet, es war seine Freundin Erika, aber es ist besser, wenn das niemand weiß.

Eberhard kommt noch vor seinem Vater nach Hause, der in Espenhain in der Braunkohle arbeitet. Auch Eberhard hat mit fünfzehn Jahren im Bergbau angefangen, aber die Arbeit war für ihn zu schwer und so hat er mit neunzehn beim Schuhmachermeister Fitztum noch einmal eine Lehre begonnen. Mit dem Gesellen Günter versteht sich Eberhard gut. Zum Meister findet er kein so rechtes Vertrauen, außerdem ist der oft unterwegs.

Seine Mutter wartet schon auf Eberhard und hat ihm ein Marmeladenbrot geschmiert, denn hungrig ist er immer. Sie hat am Nachmittag zwei Stunden beim Fleischer gestanden, aber als sie an den Ladentisch kam, waren nur noch ausgelassenes Fett und Knochen zu bekommen. Zu gern hätte sie ihrem Eberhard und ihrem Mann ein dickes Wurstbrot vorbereitet, aber darauf müssen sie wieder einmal verzichten. „Samstag vielleicht“, sagte der Fleischer.

Inzwischen ist es dunkel geworden und ein leichter Nieselregen geht nieder. „Das wird unseren Kartoffeln im Garten guttun“, meint die Mutter, die am Fenster steht und auf ihren Mann wartet. Sie sieht zwei Autos vorfahren und wenig später klingelt es Sturm an der Wohnungstür. Zwei Männer mit Gesichtsmasken stürmen in die Küche, gehen zielgerichtet auf Eberhard zu. „Mitkommen!“ Die Mutter sieht mit Entsetzen in die ängstlichen Augen ihres Sohnes, den die Männer schon an den Armen packen und nach draußen ziehen. „Mutti, bete für mich!“ Das sind die letzten Worte, die sie von Eberhard hört. Geistesgegenwärtig zieht die Mutter ein dickes Nachthemd von der Leine über dem Küchenofen und steckt es Eberhard unter den Arm.

Der wird vor eines der Autos gezogen und das erste Mal in seinem Leben sieht er eine Pistole. Sie ist direkt auf ihn gerichtet. In gebrochenem Deutsch kommt der Befehl: „Einsteigen, du mache kein Problem!“ Als er sich in den Wagen beugt, sieht Eberhard noch, dass hinter ihnen ein weiteres Auto parkt, vor dem ein Soldat mit Maschinenpistole steht. Die Fahrt geht Richtung Erzgebirge.

„Warum werde ich verhaftet? Ich habe doch nichts getan!“

„Du Feind der Sowjetunion. Hast gemacht Spionage. Tot gehen.“

Es ist Oktober 1951. Eberhard ist sich keiner Schuld bewusst. Er weiß auch nicht, ob er sich jemals negativ in der Öffentlichkeit gegen die Sowjetunion geäußert hat. Zwischen panischer Angst und der Vorstellung, dass man ihn an die Wand stellt, klammert er sich an die Hoffnung, dass alles ein Missverständnis ist. Aber wer wird ihm glauben?

Am Ortseingangsschild kann er „Schneeberg“ lesen. Noch in der Nacht wird er zwei Stunden verhört. Es sind russische Offiziere, die ihm gegenübersitzen und ihm unter blendenden Lampen Fragen stellen. Eine Dolmetscherin übersetzt. Er wird beschuldigt, Uran vom Wismutbergbau in den Westen geschmuggelt zu haben. Ist das die Strafe, dass er damals bei der Wismut – der Uranabbaugesellschaft der Sowjetunion – wieder aufgehört hat? Er kann nur immer wieder seine Unschuld beteuern.

Die Zelle, in die man ihn sperrt, liegt im Keller, ist dreckig, feucht und stinkt fürchterlich. Er traut sich nicht, sich auf die schmierige Holzpritsche zu legen. Doch die dritte Nacht ist er nach dem Verhör so müde, dass er weder den Gestank wahrnimmt noch sich erinnern kann, wie er sich hingelegt hat.

Nach einer Woche wird er nach Karl-Marx-Stadt ins Gefängnis auf dem Kaßberg gebracht. Weil er Gefangener der Sowjetunion ist, kommt er in den russischen Teil. Der andere Teil ist Gefängnis der Staatssicherheit der DDR.

Einzelzelle: Pritsche mit einer rauen Decke, Schüssel ohne Wasser, Toiletteneimer. Tag und Nacht brennt ein grelles Licht in der Zelle. Zur Außenwelt gibt es nur einen abgedeckten Fensterschlitz, durch den weder der Himmel noch die Sonne zu sehen ist.

Jede Nacht Verhör. Er soll alles sagen, was er weiß, es droht die Todesstrafe und nur die reine Wahrheit kann ihn retten. Was soll er erzählen? Er findet keinen Anhaltspunkt, der für die Peiniger interessant sein könnte. Wieder sind russische Dolmetscherinnen dabei. „Du wirst singen, sonst werden sie dich mit dem Arsch über sibirisches Grundeis schleppen!“

Der Geruch des Gefängnisses, die laut schallenden Geräusche auf dem Gang, die kreischenden Schlüssel, die knarrenden Gittertüren – Momente, die man sein Leben lang nicht wieder vergisst.

Einmal in der Woche kann er duschen, die Kleider werden nicht gewechselt oder gewaschen. Er hat immer noch Hose und Hemd vom Verhaftungsabend an. Sein Kopf ist kahl geschoren.

In den Verhören fragt der Offizier immer wieder nach seinem Schuhmachermeister Fitztum. Eberhard erfährt, dass auch er und der Geselle Günter verhaftet sind. Ist das der Grund? Meister Fitztum war kein Sympathisant der DDR, das war deutlich zu merken. Er hat mal erzählt, dass er Kontakte nach Westberlin hat und von dort Flugblätter mitbringt, die er dann per Post anonym verschickt. Eberhard hat nie so ein Flugblatt gesehen, aber Günter erzählte, dass auf einem stand: „Wie Stalin sich den Frieden denkt, so will ihn hier kein Mensch geschenkt.“ Sie haben damals darüber gelacht – mehr nicht.

Oder hängt es mit dem Jungenkreis in der Domgemeinde zusammen? Eberhard kann sich das nicht denken. Karl-Heinz hat immer wieder betont, dass sie ja in der DDR Glaubens- und Gewissensfreiheit hätten, und die sollten sie sich nicht nehmen lassen.

Da fällt Eberhard wieder das Lied von der Abschlussrunde ein. In der vierten Strophe heißt es: „Du gibst uns Kraft zu tragen der Menschen Hohn und Spott ...“ Obwohl er oft vor Verzweiflung weint und Gott um ein Wunder bittet, ist der Glaube doch ein kräftiger Halt. Ihm fallen einzelne Bibelverse ein und Liedstrophen, die so etwas wie Hoffnung vermitteln. Und dann schenkt ihm Gott ein Zeichen, ein kleines Wunder mitten in Angst und Ausweglosigkeit. Das Toilettenpapier besteht aus alten Zeitungen, russischen und deutschen. Die deutschen Texte auf den abgezählten Blättern sind das Einzige, was er zu lesen bekommt. Und da entdeckt er eines Tages die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium. Wieso die in die Zeitung gekommen ist, ist unwichtig. Das Blatt wird sein wertvollster Besitz, den er gut in der Zelle versteckt.

An einem anderen Tag hört er die Glocken einer Kirche. Dort versammeln sich jetzt Christen. Ob sie für mich und die anderen Gefangenen beten?

Bei den Verhören ist jetzt immer ein sowjetischer Staatsanwalt dabei, der die Gerichtsverhandlung vorbereitet. Eberhard wirft sich vor ihm auf die Knie: „Ich habe nichts gemacht, ehrlich. Ich bin unschuldig, vielleicht ist das alles eine Verwechslung.“

Sachlich und unberührt kommt es zurück: „Das wird das Gericht entscheiden.“

Nach der „Beweisaufnahme“ soll Eberhard das Protokoll unterschreiben. „Das kann ich nicht unterschreiben. Da stehen Dinge drin, die ich nicht gemacht und nicht gesagt habe.“

„Das wirst du sofort hier unterschreiben. Soll die ganze Arbeit umsonst gewesen sein? Wenn etwas nicht stimmt, wird das Gericht dies klären“, so die Argumentation.

Seine Eltern wissen nicht, wo er sich befindet und dass ihm Spionage zur Last gelegt wird. Wenn sie sich bei der Polizei und bei der Partei nach dem Verbleib ihres Sohnes erkundigen, wird ihnen erklärt: „Wenn Ihr Sohn unschuldig ist, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“

Inzwischen sind fünf Monate vergangen, die Verhandlung ist angesetzt. Die Eltern werden nicht eingeladen, ja, sie erfahren nicht einmal von dem Termin. Eberhard entdeckt im Gerichtssaal Meister Fitztum, dessen Frau, aber auch Günter und weitere vierzehn Gefangene. Alle sind angeklagt wegen Spionage, antisowjetischer Propaganda und Agitation und Bildung einer antisowjetischen Gruppe mit dem Ziel, die Sowjetherrschaft zu unterhöhlen und zu stürzen.

Eberhard bekommt zehn Jahre Straflager. Schuhmachermeister Fitztum und weitere vier Angeklagte werden zum Tode verurteilt. Im nächsten Jahr, am 12. März 1952 wurden die Todesurteile durch Erschießen vollzogen.

Zehn Jahre Straflager, das heißt Sibirien. Eberhard weiß, dass er gnädig davongekommen ist, aber er weiß auch, dass es ein Terrorurteil gegen einen Unschuldigen ist. Wird er die zehn Jahre überstehen? Was hat man nicht schon alles für schreckliche Dinge von den Lagern gehört?

Zwei Tage sowjetisches Gefängnis in Berlin. Dann werden sie mit Handschellen in einen Armeelaster gehievt, zu einem Abstellgleis der Bahn gebracht und „verladen“. Auf dem Waggon steht „Deutsche Post“. Im Inneren sind enge Zellen eingebaut, die Fenster sind alle von innen vergittert. Ein Bewacher kann fünf Zellen überblicken. Wer auf Toilette will, muss sich bemerkbar machen und wird einzeln eskortiert. Als der Waggon dann das erste Mal hält, hört Eberhard aus den Lautsprechern: „Berlin Ostbahnhof, D-Zug nach Moskau. Abfahrt 20.20 Uhr.“ An diesen Zug nach Moskau wird der Waggon angehängt, eine besondere „Post“, die nach Sibirien adressiert ist.

In Moskau sitzt Eberhard einige Tage im berüchtigten Gefängnis Lubjanka. Er ist mit fünf Gefangenen zusammen in einer Zelle für zwei Personen mit zwei Pritschen. An Schlaf ist nicht zu denken, auch weil immer wieder Schmerzensschreie, Befehle und russische Worte, die wie Flüche klingen, durch die Gänge hallen.

Ein Suchscheinwerfer im Hof des Gefängnisses wirft ein gespenstisches Licht durch das Fenster der Zelle. Es projiziert das Gitter und bizarre Formen an die Decke. Ein dicker Längs- und Querbalken bilden ein Kreuz genau über Eberhard. Da ist es wieder, das Lied aus dem Jungenkreis: „Das Kreuz ist unser Zeichen, den Sieg gibst du allein ...“ Plötzlich weiß er, dass Gott hier ist. Auch in Sibirien wird er sein. Kein Ort dieser Welt ist ohne Gott. So leuchtet ihm in dieser Trostlosigkeit das Kreuz wie ein Hoffnungszeichen.

Nach einer Woche Lubjanka werden sie in einen Güterwaggon gesperrt, der mit einem qualmenden Ofen und Strohlager ausgestattet ist und an die Transsibirische Eisenbahn angehängt wird. Jeder bekommt für zwei Tage Proviant. In Swertlowsk im Osten der Ukraine wird wieder haltgemacht. In einem riesigen Lager warten sie auf den Weitertransport. Was Eberhard an diesem Umschlagplatz der Verbannung zu sehen bekommt, macht ihm solche Angst, dass er die spärliche Verpflegung wieder erbrechen muss. Menschen aus allen Ostblockstaaten, gefangene Russen, denen man die Qual von Folter und Misshandlungen ansieht, verstopfen diesen Ort der Hoffnungslosigkeit.

Es folgen weitere zehn Tage Transport bis nach Taischet, ein sibirisches Lager weit hinter dem Ural. Ein älterer Mitgefangener murmelt ständig vor sich hin: „8000 km bis nach Hause. 8000 km bis zur Freiheit. 8000 km weg vom Leben.“ Immer wieder werden unterwegs Gefangene zugeladen. Mörder in Ketten, Diebe, Gewaltverbrecher, politische Gegner Stalins.

Das Lager für politische Gefangene besteht aus mehreren Baracken, Stacheldrahtzaun und Wachtürmen. In den Baracken je dreißig Doppelstockbetten aus Holz mit Strohmatratzen. Schmutzige Decken geben kaum Wärme, wenn der zuständige „Heizer“ den Holzofen in der Mitte des Raumes nicht zuverlässig befeuert.

Als Erstes werden die neuen Gefangenen von einem Arzt oberflächlich untersucht. Man sucht ansteckende Krankheiten und will die Männer nach Leistungsfähigkeit einteilen. Um herauszubekommen, wie stabil man ist, greift der Arzt nach den Pobacken. Ist da noch Fleisch vorhanden, dann ist der Mann gesund. Eberhard hat noch etwas zu bieten und kommt in die Kategorie 1 – für schwere Waldarbeit.

Nach dem Frühstück in der Essensbaracke mit einer dünnen Krautsuppe, einem Hefegetränk und 80 g nassem Brot geht es in Fünferreihe eingehakt in den Wald. Rechts und links die bewaffneten Wachen, die unablässig zur Eile mahnen: „Dawai, dawai!“ Das Einhaken ist deshalb wichtig, weil der Boden morastige Stellen hat, in denen ein Mensch allein hoffnungslos versinken würde. Wenn sie die Norm von vierzig gefällten, geschälten und aufgeladenen Bäumen nicht erfüllen, wird die Verpflegungsration um die Hälfte gekürzt. Doch Eberhard ist in eine gute Brigade gekommen, die ihre Norm meistens schafft.

Im Frühjahr und Sommer sind die Mücken die größte Plage. Wenn der Frost kommt, sind die Wege leichter zu begehen, aber die Temperatur sinkt bis auf minus 40 Grad. Obwohl sie mit dicker Jacke und Filzstiefeln ausgerüstet sind, erfrieren immer wieder entkräftete Gefangene im Wald. Wenn die Temperatur noch weiter sinkt, dann ist kältefrei. Die Kleidung wird nicht gewaschen, sondern sie wird ausgetauscht, wenn sie in Fetzen vom Körper fällt. Auch am Sonntag braucht nicht gearbeitet zu werden.

Im Gelände des Lagers gibt es eine Gruppe Birken, die kreisförmig hinter der letzten Baracke stehen. Wenn man nach oben schaut, dann bilden die Bäume einen Dom. Sonntags flüchtet sich Eberhard oft dorthin. Er fühlt sich dann mit den Christen in Deutschland verbunden. Nie hätte er gedacht, dass man sich einmal so nach einem Gottesdienst sehnen könnte. In seinem Dom wird ihm seine Lage erst richtig bewusst. Hier schreit er oft innerlich zu Gott: „Warum? Ich bin doch unschuldig! Gott, ich überstehe das nicht. Lass mich nicht hier ohne meine Eltern und Freunde sterben, ich bin doch noch so jung.“ Ruhig wird er meist erst, wenn er das Lied vom Jungenkreis vor sich hin summt. In einem Vers heißt es: „Herr, stärke uns den Glauben, sei unsrer Reinheit Schild ...“

Später wird Eberhard in eine andere Arbeitseinheit gesteckt. Er muss jetzt Öfen in den neu errichteten Holzhäusern mauern. Hier entsteht eine ganze Stadt und ihm ist klar, dass er als Zwangsarbeiter hierher verbannt ist. Stalin will Sibirien bevölkern und die Bodenschätze heben. Dafür braucht es Wohnungen, Städte, Eisenbahnlinien und Straßen, die sie als billige Arbeitskräfte zu bauen haben. Ist er mit Tausenden von jungen Männern eine Art Reparationszahlung für den verlorenen Krieg? War seine Verhaftung nur ein Vorwand, um hier für Stalin zu schuften?

Erfahrene Gefangene sagen offen: „Du wirst nach zehn Jahren hier verheiratet, angesiedelt und bekommst einen guten Job in der Industrie. Sieh zu, dass du die zehn Jahre überstehst.“ Die Hoffnung, Deutschland jemals wiederzusehen, sinkt auf den Nullpunkt, die Verzweiflung macht ihm auch körperlich zu schaffen. Magenschmerzen und nicht zu kontrollierendes Zittern in der Nacht, Angstträume und Weinkrämpfe setzen ihm zu.

Obwohl sie mit wenigen Rubeln für Zigaretten und Wodka entlohnt werden, ist das Leben im Lager von Gewalt und Gemeinheit geprägt. Das harte Leben macht Männer zu Bestien. Diebstahl, homosexuelle Übergriffe und Betrug schaffen ein Klima der Angst und Feindschaft untereinander. Einer verspricht Eberhard ein ganzes Brot, wenn er dafür sein dickes Nachthemd – das ihm seine Mutter bei der Verhaftung noch zugesteckt hat – eintauscht. Das Hemd ist er los, das Brot hat er nie gesehen. „Du gibst uns Kraft, zu tragen der Menschen Hohn und Spott ...“

Ausgerechnet von den russischen Gefangenen kommt oft Hilfe. Eberhard muss eine Klogrube ausheben – und das bei minus 25 Grad. Der Boden ist steinhart gefroren und das Werkzeug primitiv. Es geht nicht, so sehr er sich auch plagt. Da gibt ihm ein Russe den Tipp, Reisig und Holz auf dieser Stelle zu verbrennen und die ganze Nacht am Brennen zu halten. Am nächsten Tag ist der Boden aufgetaut und Eberhard kann 50 cm tief graben. Dann wird die Feuerprozedur wiederholt, bis er sich zwei Meter in den Permafrost hineingearbeitet hat.

Als Ostern kommt, erinnert er sich daran, dass Karl-Heinz in der Jungenstunde einmal erzählt hat, die Russen grüßten sich am Ostermorgen mit „Christus ist auferstanden“ – „Er ist wahrhaftig auferstanden“. Eberhard wagt es, mit ängstlicher Stimme einem Offizier am Ostermorgen zuzurufen: „Christos woskres.“ Der Offizier stutzt kurz und antwortet dann mit einem Leuchten im Gesicht: „Wo istinu woskres.“ Auch in der Essensbaracke grüßen sich die russischen Gefangenen mit diesem alten Spruch. So wird ein Gruß zwischen hoffnungslosen Männern zu einem Stück Himmel auf Erden. Nie wieder hat er die Nähe des Auferstandenen so deutlich gespürt wie an diesem Ostermorgen. „... ein Licht in schweren Tagen, als Fackel in der Hand.“

Ein Jahr später, am 5. März 1953, stirbt Stalin. Im Lager ist immer wieder das Wort Amnestie zu hören. Tatsächlich werden bald Transporte zurück nach Deutschland zusammengestellt. Eines Tages wird auch Eberhards Name aufgerufen. Es ist wie ein Traum – doch kann man den Sowjets trauen? Geht es vielleicht noch weiter hinein nach Nordsibirien? Doch der Gefangenentransport mit leichter Bewachung rollt nach Westen, immer nach Westen bis nach Königsberg. Dort trifft Eberhard seinen Gesellen Günter wieder. Das ist ein wunderbares Zeichen der Hoffnung, dass die böse Zeit tatsächlich ein Ende haben wird.

Nach bangen vier Monaten wird er in einen normalen Zug nach Berlin gesetzt. In Fürstenwalde soll er aussteigen und sich bei der Polizei melden. Aber schon in Frankfurt/Oder müssen sie den Zug verlassen und werden vom Roten Kreuz neu eingekleidet. Es stehen zwei Züge bereit: Einer in die BRD, einer in die DDR. Viele entscheiden sich für die Reise in den Westen. Eberhard hat nur Sehnsucht nach Zwickau und seinen Eltern. Werden sie überhaupt noch am Leben sein? Rechnen sie damit, dass er noch lebt? Er schickt von Leipzig aus ein Telegramm. Das wird aber so spät zugestellt, dass es erst im Briefkasten steckt, als er endlich vor dem Haus der Eltern ankommt.

Die Überraschung und Freude ist unvorstellbar. Die Eltern hatten die ganze Zeit kein Zeichen, keine Nachricht, wo sich Eberhard befand und ob er noch am Leben war.

Die Jungenstunde ist am nächsten Abend. Eberhard geht den Weg zum Domgemeindehaus wie im Traum. Als er den Raum betritt, schweigen alle, bis die Jungen ein ohrenbetäubendes Freudengeheul anstimmen. Karl-Heinz sagt: „Ich wusste, dass du wiederkommst. Wir haben jeden Abend für dich gebetet.“

Eberhard erwidert: „Danke, ich habe das auch manchmal gespürt, aber bitte singt noch einmal das Lied von den ‚Jungen Christen‘.“

„Na warte doch mal, die Stunde ist noch nicht zu Ende!“

Dann hörte er es wieder:

Wir jungen Christen tragen ins dunkle deutsche Land

ein Licht in schweren Tagen als Fackel in der Hand.

Refrain:

Wir wollen Königsboten sein des Herren Jesus Christ,

der frohen Botschaft heller Schein und Weg und Auftrag ist.

Das Kreuz ist unser Zeichen, den Sieg gibt er allein.

Hier gilt kein schwaches Weichen, Herr, schließe fest die Reihn.

Herr, stärke uns den Glauben, sei unsrer Reinheit Schild.

Will sie der Teufel rauben, bewahre uns dein Bild.

Du gibst uns Kraft, zu tragen der Menschen Hohn und Spott.

Wir wollen weitersagen, was endet alle Not.

Christ wird das Feld behalten in jener letzten Zeit.

Sein Gnade möge walten auch unsre Ewigkeit.

Willi Reschke

Mein Freund, der Feind:

Theo Lehmann

„Kennst du den? Die Titanic soll gehoben werden. An der Bergung beteiligen sich die USA, die UdSSR und die DDR. Die USA wollen die Diamanten, das Gold und die Wertgegenstände der Passagiere. Die UdSSR braucht den Stahl für ihre Kriegsflotte und die DDR will die Kapelle, die bis zum Untergang spielt.“

Theo und Dieter klatschen sich auf die Schenkel, weil der Witz die DDR so treffend mit Ende und Täuschung charakterisiert.

Dieter weiß auch einen neuen: „Hast du schon gehört, dass unser Emblem im Wappen mit Hammer, Zirkel und Eigenlob (statt Eichenlaub) jetzt ausgetauscht wird gegen drei Peperoni? Wir sind die Kleinsten, wir sind die Schärfsten, wir sind die Rotesten.“

Noch einige Witze werden ausgetauscht, dann geht es zum eigentlichen Grund des Treffens. Theo hat zwei neue Jazzplatten von Miles Davis und Charlie Parker über die besondere Beziehung seines Vaters aus dem Westen bekommen und Dieter ist als Jazzfan scharf darauf, sie zu hören und für einige Zeit auszuborgen. Das Verhältnis der beiden Freunde ist super. Schon lange verbindet sie die gemeinsame Begeisterung für Jazz und Spirituals. Theo hat seine Doktorarbeit darüber geschrieben und Dieter ist ein glühender Anhänger dieser Musik. Der häufige Weg von Karl-Marx-Stadt nach Halle/Saale, wo Theo noch wohnt, ist ihm nicht zu weit.