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Ulrike Strätling

Als die

Kaffeemühle

streikte

Geschichten zum Vorlesen
für Demenzkranke

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© 2011 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Eva-Maria Busch
Umschlagmotiv: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Ralf Simon
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-7405-4

Inhalt

Zu diesem Buch

Küchengeschichten

Eine Kaffeetasse erzählt

Tischsitten

Das Frühstück

Als die Kaffeemühle streikte

Wenn der Wasserkessel pfeift

Der Sonntagsbraten

Küchengymnastik

Gartengeschichten

Das Grillfest

Großmutters Kräuterbeet

Diesmal wird geerntet!

Die Schatzkiste

Ein Paradies für Zwerge

Die Riesengurke

Mittagessen aus dem Garten

Was gibt es Neues, Frau Nachbarin?

Rategeschichten

Der Dieb

Der verlorene Regenschirm

Wo ist die Kaffeetasse?

Wo sind die Ostereier?

Alltagsgeschichten

Auf nach Holland!

Frühstück im Café

Die Marktschreier

Die Waschmaschine

Der alte Schäfer

Ein Spaziergang mit Möppel

Die verschwundene Brille

Der heimliche Dichter

Geschichten über Puppen, Teddys und Stofftiere

Der verlorene Teddy

Vom Himmel gefallen

Der Hauptgewinn

Ein Eisbär für Emma

Das Findelkind

Ein Puppenwagen für Grete

Ein Lausbubenstreich

Das Erntedankfest

Der Ladenhüter

Erinnerungen

Tiergeschichten

Lui, der Kater

Der Spatz ist krank

Meister Petz auf Futtersuche

Das Waldkonzert

Minkas Heimweg

Karneval der Tiere

Der schlaue Hase

Der Schwan sucht eine Frau

Ein Kamel macht Urlaub

Reimgeschichten

Das Kätzchen

Schnecke und Maus

Der Papagei

Frau Tausendfuß

Die Osterglocke

Weihnachtsgeschichten

Stiefel für den Großvater

Das Weihnachtswunder

Weihnachten ohne Beleuchtung

Zu diesem Buch

Geschichten zu lesen oder vorgelesen zu bekommen, ist mehr als nur „Beschäftigung“. Es ist ein sinnvoller Weg, um Erinnerungen zu wecken und somit die Lebensqualität von demenzkranken Menschen zu erhalten. Da aber auch Beschäftigung bekanntlich die „beste Medizin“ ist, trägt der Inhalt der Geschichten dazu bei, den Kranken zum Nachdenken, Lachen, Bewegen und Reden zu aktivieren. Schließlich sind es keine unbekannten Dinge, die er da zu hören bekommt – und so wird er sich angesprochen und einbezogen fühlen.

Die Geschichten sind bewusst kurz und einfach gehalten. Dadurch wird es für den Zuhörer leichter, sich noch an Einzelheiten der Geschichte zu erinnern und ebenso an eigene Erlebnisse ähnlicher Art. Bei einem demenzkranken Menschen zählt die Gegenwart, der Augenblick – und so reichen oft Minuten, um ihn zu beschäftigen, glücklich zu machen und Erinnerungen zu wecken.

Ein paar praktische Tipps, die sich aus meiner Erfahrung bewährt haben:

Begeben Sie sich auf Augenhöhe mit dem Zuhörer. Schauen Sie ihn beim Vorlesen zwischendurch an und berühren Sie seine Hände oder die Schulter.

Lesen Sie langsam und deutlich und legen Sie Wert auf gute Betonung. Nur so kann der Demenzkranke auch im fortgeschrittenen Stadium der Geschichte folgen und sie verstehen. Er wird Ihnen dankbar sein und sich wohlfühlen.

Anschaulicher wird das Vorlesen, wenn Sie Gegenstände aus der „guten alten Zeit“ dabeihaben. Dinge, die befühlt und betrachtet werden können und kleine wertvolle Momente des Glücks hervorzaubern.

Ich stelle übrigens zum Schluss niemals Fragen zu den Geschichten, um peinliche Situationen zu vermeiden. Wenn ich einer Gruppe vorlese, weiß anschließend immer einer der Zuhörer etwas zu erzählen und die anderen stimmen dann in das Geplauder mit ein.

Die Geschichten können auch in Form von Ritualen eingesetzt werden: zum Beispiel abends am Bett, um Depressionen zu vertreiben, als Ablenkung bei Aggressionen oder einfach nur zu einer bestimmten Uhrzeit, auf die der Kranke sich freuen kann. Dies erleichtert ihm die zeitliche Orientierung und gibt ihm Sicherheit.

Die Würde und Lebensqualität des Demenzkranken so lange wie möglich zu erhalten – das sollte immer das wichtigste Ziel sein, auch beim Vorlesen.

Viel Spaß dabei!

Ulrike Strätling

Küchengeschichten

Eine Kaffeetasse erzählt

Glauben Sie mir, ich habe es auch nicht immer leicht gehabt. Genau wie bei Ihnen ging es mal rauf und mal runter im Leben. Harte und schlechte Zeiten, gute und schöne Zeiten, aber man denkt ja gerne an alles zurück.

Ich befinde mich im Besitz einer älteren Dame, die schon etwas zittrig ist. Sie heißt Adelheid und benutzt mich täglich, um ihren Kaffee aus mir zu trinken. Vielleicht sollte man besser sagen schlürfen, denn Adelheid schlürft ihren Kaffee so laut, dass einem die Ohren schmerzen.

Früher waren wir ein ganzes Service und erlebten viele Feiern und Feste. Die Tafel war dann festlich gedeckt und unter uns lag ein feines Damasttischtuch. Ich hörte immer gerne zu, wenn Klatsch und Tratsch das Tischgespräch der Gäste war.

Im Sommer 1952 freundete ich mich mit einem Henkelmann an. Er war nagelneu, jung und hübsch. Wir sahen uns am Abend und hatten dann die ganze Nacht für uns. Tagsüber war er im Bergbau, gefüllt mit Suppe. Deswegen roch er immer etwas streng, wenn er nach Hause kam. Meine Freundin, das Milchkännchen, sagte immer: „Der ist nichts für dich, ihr passt nicht zusammen.“ Und ich antwortete immer: „Halt dich da raus. Kümmere du dich lieber um deinen geliebten Zuckertopf.“

Weihnachten 1953 verlobten wir uns, mein Henkelmann und ich. Wir waren ein schönes Paar, so meinte ich jedenfalls. Doch mein Henkelmann hatte es nicht leicht. Unter Tage, das war kein Zuckerschlecken, da gab es keine Samthandschuhe, da herrschte ein raues Leben. Er bekam Dellen, Kratzer und sah bald nicht mehr so schön aus. „Siehste, das haste nun davon“, sagte meine Freundin, das Milchkännchen.

Doch wahre Liebe kommt von innen. Das bewies auch mein Henkelmann, als mein Blümchenmuster im Laufe der Zeit vom Spülwasser immer blasser wurde. Doch es tat unserer Liebe keinen Abbruch.

Eines Tages kam ein neuer Henkelmann ins Haus. Schön und stattlich, dagegen sah mein alter Henkelmann aus wie … na ja, lassen wir das. Zu der Zeit wurde ich vom übrigen Service ausgesondert und kam in den täglichen Gebrauch. Mein Henkelmann wurde als Vase für die Wiesenblumen benutzt, aber es stand ihm ausgezeichnet. So ist das nun mal, wenn man alt wird. Aber das Leben geht weiter und wir sehen immer nach vorn und machen das Beste daraus. Noch so viele schöne Jahre stehen uns bevor.

Jetzt, wo mein Henkelmann nicht mehr arbeiten muss, sehen wir uns jeden Tag von morgens bis abends. Und wenn Adelheid vergisst, mich in den Schrank zu stellen, sehen wir uns auch nachts. Das ist doch toll, oder?

Tischsitten

Der kleine Jens war gerne bei seinen Großeltern zu Besuch. Opa Heini spielte mit ihm „Mensch ärgere dich nicht“ oder las ihm spannende Geschichten vor. Oma Anni backte Kuchen, und den gab es dann nachmittags am Küchentisch, mit leckerem Kakao. Und genau an demselben, begann Opa Heini dann jedes Mal mit seinen Belehrungen. Kaum saß der kleine Jens, so hörte er auch schon den Opa sagen: „Sitz gerade, Junge.“

So auch an einem Sonntagnachmittag im August. Es war ein schöner warmer Sommer und Oma Anni hatte etwas Erfrischendes gebacken. Es war fünfzehn Uhr und dreißig Minuten, als die drei Platz nahmen.

Opa Heini sagte: „Sitz gerade, Junge, sonst bekommst du später einen Buckel.“

Jens setzte sich so aufrecht, wie es nur ging, damit er endlich anfangen konnte. Jens trank einen Schluck Kakao und Opa Heini sagte: „Nicht schlürfen, mein Junge, sonst bekommst du Luft in den Bauch.“

„Ja, Opa“, sagte Jens höflich.

Opa Heini sagte: „Und die Hände liegen beide auf dem Tisch, neben dem Teller.“

„Ja, Opa“, meinte Jens und legte beide Hände auf den Tisch.

Opa Heini sagte: „Nicht schmatzen, mein Junge, das gehört sich nicht.“

„Nein, Opa. Kann ich endlich essen?“

Opa Heini meinte: „Binde dir die Serviette um, damit du dich nicht bekleckerst.“ Auch das tat Jens.

Oma Anni mischte sich ein und sagte: „Nun lass den Jungen doch endlich essen, er muss doch schon gleich wieder nach Hause.“

Opa Heini sagte: „Er muss Tischsitten lernen, sonst kann er sich später in Gesellschaft nicht richtig benehmen.“

Jens sagte: „Opa, ich habe Hunger.“

Inzwischen zeigte die Küchenuhr sechzehn Uhr an. Opa Heini sagte energisch: „Du sitzt schon wieder krumm. Sitz gerade, so wie es sich gehört.“

Jens nahm eine Gabel voll Kuchen. Doch noch bevor er den Kuchen im Mund hatte, rief Opa Heini: „Halt! Man führt die Gabel zum Mund, nicht den Mund zur Gabel. Warte, ich mache es dir vor.“

Opa Heini beobachtete Jens genau. Er ließ ihn nicht aus den Augen. Doch plötzlich stand er auf und kam kurze Zeit später mit einem Besenstiel zurück.

Verdutzt fragte Oma Anni: „Was hast du vor, Heini?“ „Den bekommt Jens jetzt in den Rücken, unter den Pullover. Dann sitzt er gerade“, sagte Opa Heini und machte sich an Jens zu schaffen. Inzwischen war es sechzehn Uhr und fünfzehn Minuten.

Jens stand auf. „Ich muss nach Hause, Opa. Du kannst meinen Kuchen essen, aber sitz gerade dabei, schmatz nicht, schlürf nicht und führ die Gabel zum Mund. Und außerdem steht man nicht einfach vom Tisch auf und läuft weg, um einen Besenstiel zu holen. Ach ja, und vergiss die Serviette nicht, falls du kleckerst.“ Dann war er fort.

Opa Heini hatte keinen Appetit mehr. Er hatte nur noch ein schlechtes Gewissen.

Das Frühstück

Vor Beginn weisen Sie darauf hin, dass in der folgenden Geschichte einige merkwürdige Dinge zu hören sind, die so nicht stimmen können. Dadurch lenken Sie die Aufmerksamkeit auf die bevorstehenden Fehler. Schlagen Sie vor, dass bei jedem Fehler geklatscht oder „Halt!“ gerufen wird.

Lesen Sie langsam und sehr betont. Wenn der Fehler nicht erkannt wird, wiederholen Sie den Satz noch einmal. Eventuell klatschen Sie auch selbst oder stellen eine Rückfrage.

Edelgard war eine kluge Frau. Und weil sie ihre Klugheit behalten wollte, trainierte sie ständig ihre grauen Gehirnzellen. Sie löste Kreuzworträtsel, lernte Gedichte auswendig und las täglich die Tageszeitung.

Doch einmal, es war an einem Freitagmorgen, kam ihr eine Idee. Es war gerade sieben Uhr und sie wollte sich ein leckeres Frühstück zubereiten. Edelgard nahm sich vor, an diesem Morgen alle Dinge, die sie in die Hand nahm, brauchte oder sah, mal anders zu benennen. Das bringt meine Gehirnzellen ordentlich auf Trab, dachte sie und fing sofort damit an …

„Mh, ich freue mich schon sehr auf mein Mühstück (Frühstück)“, sagte sie und begann zu hantieren. „Nun erst einmal die Futter (Butter) aus dem Mühlschrank (Kühlschrank) holen“, sprach sie und lachte über sich selbst. Sie meinte schmunzelnd: „Lustig hört sich das an. Jetzt nehme ich mir noch Burst (Wurst) und Schlamelade (Marmelade).“ Sie legte alles auf den Küchentisch.

Edelgard ging zum Schrank und holte sich einen Propf (Topf) heraus, um sich ein Ei zu kochen. Dann deckte sie den Küchentisch mit Schnellern (Tellern) und Klassen (Tassen). Schmunzelnd setzte sie den Kaffee auf und holte die Knilch (Milch) aus dem Kühlschrank.

Edelgard nahm auf dem Küchenbuhl (Küchenstuhl) Platz, um in die Tageszeitung zu schauen. Ein interessanter Artikel fesselte sie – und Edelgard vergaß ihr Ei. Nach fünfzehn Minuten fiel es ihr wieder ein. Jetzt war es aber bestimmt gar! Sie meinte: „Nun, jetzt werde ich in Ruhe mühstücken (frühstücken), mein Schrot (Brot) essen und dazu gibt es das harte Ei. Einen guten Appetit wünsche ich dir, Edelgard.“ Und dann biss sie herzhaft in ihr Schrot (Brot).

Als die Kaffeemühle streikte

Oma Luise und Opa Paul lehnten jeglichen modernen Schnickschnack ab. Elektrische Geräte waren für sie Firlefanz und gehörten nicht in ihre Küche. Entsafter, Mixer, Hacker, Pürierer und Eierkocher gab es nicht, es wurde alles, wie anno dazumal, mit der Hände Kraft gemacht.

Jeden Morgen nahm Oma Luise ihre alte Kaffeemühle vom Regal, füllte sie mit frischen Bohnen und mahlte diese zu Pulver. Fröhlich drehte sie die Mühle und pfiff dabei ein Liedchen. Anschließend wurde der Kaffee mit der Hand aufgebrüht. „Das ist immer noch der beste Kaffee“, sagte Oma Luise und fächerte sich den wunderbaren Kaffeeduft zu.

Doch eines Morgens wollte die Kaffeemühle nicht mahlen. Irgendetwas klemmte, sie drehte sich nicht. „Paul, komm doch mal, ich glaube, die Kaffeemühle ist kaputt!“, rief Luise.

Nach einer gründlichen Begutachtung sagte Paul: „Die ist hinüber, wir brauchen etwas Neues.“

„Dann geh und kauf eine neue Kaffeemühle, aber noch heute! Ich habe Kaffeedurst“, antwortete Oma Luise.

Opa Paul runzelte die Stirn: „Wollen wir uns nicht lieber so einen modernen Kaffeeautomaten kaufen?“

„Kommt mir nicht ins Haus!“, erboste sich Oma Luise.

„Ja, aber die sind doch so bequem, sagt man. Du kaufst den Kaffee schon gemahlen und den Rest macht der Automat“, meinte Opa Paul.

„Nichts da, will ich nicht! Alles nur Geldmacherei von den Geschäftsleuten“, antwortete Oma Luise ärgerlich.

„Ja, aber unsere Kinder sind auch zufrieden damit. Und du trinkst doch auch den Kaffee aus ihrem Automaten, wenn wir da sind“, versuchte Opa Paul erneut sein Glück.

„Nix da, ich will genau so eine Kaffeemühle wie diese.“ Oma Luise hielt ihm die alte Mühle unter die Nase.