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© Brunnen Verlag Gießen 2015

www.brunnen-verlag.de

Umschlagfoto: joexx, photocase

Umschlaggestaltung: Jonas Heidenreich

Satz: DTP Brunnen

ISBN 978-3-7655-4277-0

eISBN 978-3-7655-7356-9

Inhalt

Vorwort von Rainer Eppelmann

Himmelunter

Kalter Krieg

Heimleuchtende Verhaftung

Falsches Gepäck

Augenzuflucht

Niemöllers Bibel

Ladenhüter Albert Schweitzer

Lamm Gottes

Thomaner im Knast

Macke abmalen

Seelenbrot

Vorratsspeicher

Sanduhren

Die Welt geriet mir aus dem Trott − oder wie alles anfing

Ich. Jona

Vaterland zum Mitnehmen

Schnee von gestern

Herleshausen: Für immer

„Die Hölle, das sind die anderen“

Erste Nacht in Gießen

Nach 430 Tagen auferstanden

Erste Spuren im Schnee

Wer bist du, Tine?

Klavierspielen

Am Ende der Zensur

Überfüllte Einsamkeit

„Farbe oder schwarzweiß?“

Kennst du mich noch?

Kreuz auf der Mauer

Kreuz vor Gericht

Berlin im Fleisch

Berlin, Brandenburger Tor

An Land

Baden, so oft man will

Schule

Tulpe im Schneematsch

Zarte Blumen

Die Amsel weiß nichts

Tine, bunt

Märkische Kiefer

Mensch, Tine, ob wir das schaffen?

Westwurst

Westfernsehen im Westen

Flucht nach Norden

Ankunft in Münster

Transit

Wollankstraße

Träume umgekehrt

Niemandsland mit Bahn

Ankunft mitten im Leben

„Roter Terror“

Prag von Osten aus

Konterbande

Prag von Westen aus

Der eigene Ton

Gefängnisseelsorge Fünf

Gottes Leibjurist

Don Quijote und der Menschensohn

Der Verlust der Mitte

Gesang tief innen

Grenze

Gerufen oder ungerufen

Von welchem Gott reden wir eigentlich?

Mein Dorf

Ich habe die Bibel gefressen

Boote und Boten

Beten lernen – Wortwagnisse

Farbe bekennen

Das Leben nachher bist du selbst

Heilig ohne Gott?

Stilles Geschrei

Osterweinen

„Nun aber ist Christus auferstanden“

Ausgerechnet Bananen

Gelesen werden

„Sind Sie das?“

Visionen

Von Neuem Gott erklimmen

Neu anfangen

Licht in Leipzig

Auf Wiedersehen in Zion

Wegweiser

Käfig ums Herz

Verwegene Lesart

Niemandsland hat seine Zeit

Matthias Storck

Vaterland zum Mitnehmen

Erfahrungen eines Freigekauften

Mit einem Vorwort von Rainer Eppelmann

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Vorwort

Manchmal genügt ein einziges Jahr, um die Welt zu verändern. Nachdem die Bürgerinnen und Bürger der DDR im Herbst 1989 in einer friedlichen Revolution die Berliner Mauer und die SED-Diktatur gestürzt hatten, wurde am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit verwirklicht. An diesem Tag ging auch die DDR in die Geschichte ein. 25 Jahre ist das nun her. Dieses Vierteljahrhundert, in dem die Menschen in ganz Deutschland in Freiheit und Demokratie leben können, hat es auch mit sich gebracht, dass die Erinnerungen an den „Arbeiter- und Bauernstaat“ und an die deutsche Teilung langsam verblassen. Dies gilt besonders im Hinblick auf junge Menschen, die über keine eigenen Erfahrungen aus dieser Zeit mehr verfügen.

Wenn wir jetzt das Einheitsjubiläum feiern, so freuen wir uns darüber, wie sehr Deutschland in den zurückliegenden 25 Jahren ein Land geworden ist. Doch es gilt auch festzuhalten, dass Erfahrungshorizonte, Denkweisen und Handlungsgewohnheiten zwischen Ost und West teilweise noch immer voneinander abweichen. Das muss uns nach Jahrzehnten der Teilung nicht wundern. Doch es ist wichtig, dass wir es wissen und uns deshalb gegenseitig noch besser kennenlernen. Das kann gelingen, wenn wir miteinander ins Gespräch kommen oder, vielleicht noch besser: einander zuhören. Die aus dem Westen denen aus dem Osten. Und umgekehrt. Damit wir verstehen, wo wir herkommen, wie wir gelebt haben, was uns geprägt hat und was uns wichtig war.

Mein Freund Matthias Storck unterbreitet uns dafür ein unwiderstehliches Angebot. Er weiß genau: Geschichte lebt durch Geschichten. Durch persönliche Erlebnisse und Erfahrungen. Deshalb erzählt er sie uns, ganz direkt, sehr emotional, schonungslos offen. Er lässt uns teilhaben an seinem Leben, nimmt uns mit ins Berlin seiner Kindheit und Jugend, in die kargen Zellen der DDR-Zuchthäuser, ins Notaufnahmelager Gießen und schließlich nach Ostwestfalen, wo er nach seinem Freikauf heimisch wird.

Er bietet uns einen lebendigen und authentischen Zugang zur Vergangenheit und wird zum Brückenbauer. Er baut Brücken in die Geschichte und er baut sie zwischen Ost und West. Für die Erlebnisgeneration ebenso wie für die Generation der Nachgeborenen. Mit seinen Geschichten schreibt er im besten Sinne Geschichte.

Wenn wir sein Buch lesen, verstehen wir besser, wie sich die Ereignisse und Entwicklungen konkret auf das Leben und das Schicksal der Menschen ausgewirkt haben, ja sogar, wie sie sich angefühlt haben. Er beschreibt ebenso lesenswert wie eindringlich, wie es einem einzelnen Menschen in der SED-Diktatur ergehen konnte, wenn er sich unangepasst verhielt und das herrschende System mutig zu hinterfragen wagte. Die Konsequenzen konnten schwerwiegend sein, ja das gesamte Leben für immer verändern. Unbarmherzig und willkürlich verfolgte das Regime Andersdenkende, sperrte sie ein und versuchte, sie zu entwürdigen und zu brechen. Politische Haft, so wie Matthias Storck und seine Frau Christine sie erleben mussten, ist damals wie heute eines der wichtigsten Kennzeichen von Diktaturen. Aber auch die Korrumpierung von Menschen durch Druck und Lüge, die manchmal bis zum Verrat an Freunden, ja sogar an Familienmitgliedern führen konnte, ist ein solches Merkmal.

Die Erinnerungen an eine so schmerzhafte Vergangenheit aufzuschreiben und sein Innerstes nach außen zu kehren, kann einem Menschen dabei helfen, wieder frei zu werden in seinem Denken und Handeln. Zugleich zeigt das bewegte Leben von Matthias Storck, wie gewinnbringend es für uns alle zu sein vermag, sich mit individuellen Schicksalen aus der Zeit der DDR zu beschäftigen. Ich bin mir sicher, dass sich Menschen in West- und Ostdeutschland, gerade auch viele junge, dazu ermuntert fühlen werden, in ihrem persönlichen Umfeld Fragen zu stellen und Antworten zu suchen, um das Wesen der SED-Diktatur zu begreifen. Denn erst die individuellen Erinnerungen bilden die Mosaiksteine im Geschichtsbild unseres Landes und zeigen uns, wie dankbar wir heute sein können für ein Leben im vereinten Deutschland in Demokratie und Freiheit.

Rainer Eppelmann
Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Himmelunter

Anfang der 1970er-Jahre saßen zwei Pfarrerskinder in Ostberlin an der Weidendammer Brücke.

Die beiden rauchten heimlich eine Zigarette und hängten ihre Gedanken wie gewohnt in die Spree, die an dieser Stelle von Ost- nach Westberlin floss. Wasser ist ein beruhigender Lehrmeister für den Gang der Welt. Es rückt vieles zurecht. Erst sammelt der Wasserspiegel das Licht ein. Dann Dächer unten, Häuser und Türme. Es folgen Brückenpfeiler, Baumkronen und Ufergras. Selbst Erinnerungen stehen im Fluss auf dem Kopf. Himmelunter schwankt die Stadt merkwürdig. Ganze Straßenzüge haben sich losgemacht von allen Fundamenten und hängen hilflos vom Himmel. So viel trotzige Aufsässigkeit musste den beiden gefallen. Und angesichts dieses Schauspiels schworen sie einander voller Inbrunst drei Lebensgrundsätze:

1. Ich werde niemals Pfarrer.

2. Ich höre niemals freiwillig Johann Sebastian Bach.

3. Meinen 65. Geburtstag werde ich keinesfalls zu Hause feiern. Ich gehe zum Grenzübergang Friedrichstraße und nehme die erste S-Bahn nach Westberlin.

Dieser verzweifelte Schwur lässt deutliche Rückschlüsse auf das Maß kindlicher Leiden im ostdeutschen evangelischen Pfarrhaus zu.

Jahre später begegneten sich die beiden Leidensgefährten.

Beide sind Pfarrer.

Bach wird uns den kindlichen Zorn nachsehen. Den Weg ins Herz hat er, allen Vorsätzen zum Trotz, bei beiden gefunden. Und den Westen − gibt’s nicht mehr. Gut, dass der liebe Gott nicht auf uns gehört hat.

Kalter Krieg

Im märkischen Sommer lag ein tiefblauer Himmel mit weißen Wolkenbergen in der Taufschale. An Taufsonntagen jauchzte das Harmonium in der kleinen Dorfkirche. Anders im Winter. Im Taufstein gefror schon mal das Wasser. Eltern und Paten hatten weiße Nebelfahnen vor dem Mund. Die Taufmutter hatte das Kind samt Kissen in eine dicke Wolldecke gehüllt, aus der nur der helle Saum des Taufkleidchens lugte. Der Küster brachte heißes Wasser und goss es in die Taufschale. Der Dampf zeigte den weiten Weg nach oben. Der Pfarrer war mein Vater. Im Winter schien er die Worte aus Barmherzigkeit schneller zu sprechen. Taufbefehl, Vaterunser, Tauffragen, Taufe. „Hirte, nimm das Schäflein an.“ Das Harmonium seufzte.

Der rotgelbe Herrnhuter Stern schwamm in der Taufschüssel, bis der Küster mit dem Wasser ein Loch in den Schnee auf dem Kirchhof machte.

Es war Kalter Krieg.

Wenn mir die Predigt zu lang wurde, taufte ich im Stillen die Wörter aus dem Gesangbuch. Nur Sonntagswörter. Ich schrieb sie in die Gewölbe und sah zu, wie sie sich im Taufwasser spiegeln. Zion, Ölberg, Gethsemane, Jericho. Später auch Erlösung, Kreuz, Reich Gottes, Auferstehung, Ewigkeit, Leben, Hoffnung, Gnade, Herrlichkeit. Nicht getauft wurden Alltagswörter. Schulheft, Kohleneimer, Wäscheklammer, Bürgersteig, Regenpfütze (obwohl in einer einzigen ungetauften Pfütze der ganze Himmel zu sehen ist).

In die meisten Wörter wuchs ich hinein. Sie änderten behutsam ihre Schwere, wechselten sanft ihre Farbe, färbten leise ihren Ton, manchmal drehte sich ihr Sinn. Beim ersten Hören ist der Advent violett, die Buße tiefdunkel, Ostern lichtgelb.

Das Wort Obhut ist groß und rund, das Wort Zuflucht schnell und sicher. Die schönsten Wörter gibt es zu Weihnachten. Sie müssen nicht verstanden werden. Sie trösten und wärmen schon beim ersten Hören wie ein Taufkleid. Bevor Gott in Bethlehem zur Welt kommt, hat er schon bergende Namen. Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.

Getaufte Wörter machen aufsässig. Es bleibt wichtig, wer sie wie sagt. Einige werden lebendig, andere machen lebendig. Manche sind zweischneidige Messer. Viele Wörter zeigen erst im Umgang, ob sie getauft sind.

Als Kind glaubte ich leicht, was ich dachte. So wusste ich früh und genau, Taufe ist Eingetauchtwerden vor Gott. Damit war ich zufrieden. Wort war Wort. Wasser war Wasser. Gott war Gott. Hirte war Hirte. Später glaubte ich schwerer. Jetzt hieß Taufe schon mal: Untertauchen. Dabei blieb es lange. Im Studierzimmer meines Vaters hing das berühmte Kreuzigungsbild von Matthias Grünewald mit Johannes dem Jünger, der noch lebt, und Johannes dem Täufer, der schon umgebracht worden war. Beide stehen im roten Gewand vor einem pechschwarzen Himmel unter dem gekreuzigten Christus. Der Jünger hält Maria im Arm, ihr Gesicht ist starr wie ein Stein. Der Täufer hat in der linken Hand ein offenes Buch. Sein Zeigefinger an der Rechten ist berühmt, weil er viel zu lang ist. Er zeigt auf den getöteten Christus. „Dieser Finger ist die ganze Theologie“, sagte mein Vater.

Als ich den Jordan das erste Mal sah, war er eine smaragdene Glaswand, die über den Horizont reichte. Während Johannes hier taufte, lag die Sonne im Wasser. Alle, die zu ihm kamen, zog er aus der täglichen Flut in ein anderes Licht. Am Ende taufte er Gott selbst. Seither steht der Himmel offen.

Hochmütig sein heißt vergessen, dass ich getauft bin.

Die kleine märkische Dorfkirche ist verwaist. Es gibt keine eigene Pfarrstelle mehr. Aber seit geraumer Zeit hat das Kirchlein Fußbodenheizung. Die frischroten Gewölberippen springen in den Schlussstein. Der zeigt eine weiße Taube.

Im Taufstein friert es nicht mehr. Der Kalte Krieg ist vorbei.

Heimleuchtende Verhaftung

Am Nachmittag des 2. Oktober 1979 wurde ich in Greifswald von zwei Männern auf offener Straße gewaltsam in einen ockergelben Wagen der Marke „Wartburg“ verfrachtet, wie ein Dieb. Sie drückten mich auf den hinteren Mittelsitz. So hatte ich durch das vordere Wagenfenster einen weiten Blick auf die entgegenkommende Landschaft. Als wir die Stadt verließen, ahnte ich: Die Fahrt bedeutet das Ende der Freiheit. Dieser Gedanke setzte blitzschnell einen inneren Schutzmechanismus in Gang. Meine Seele fotografierte mit Dauerauslöser Bild für Bild und lernte alles auswendig. Nach Stunden erreichten wir Berlin. Pankow, Prenzlauer Berg, Mitte. Die Fahrt endete auf dem Gefängnishof des Untersuchungsgefängnisses Keibelstraße. Es war schon dunkel, die vergitterten Fenster warfen gelbes Neonlicht. Das Verhör dauerte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen wurden mir Uhr, Ring und Gürtel abgenommen, auch die Schnürsenkel musste ich aus den Schuhen fädeln. Handschellen! In einem fensterlosen Lieferwagen ging es in die U-Haft Berlin-Pankow. Gesicht zur Wand. Die Zellentür fiel ins Schloss.

So allein war ich noch nie. Aber meine Seele hatte im Verborgenen geschuftet. Sie hatte die ganze Fahrt über Bilder eingesammelt. Mitten in dieser Finsternis bereitete sie mir mit den gespeicherten Momentaufnahmen der unfreiwilligen Autofahrt ein unvergessliches Freudenfest: Die Abendsonne fuhr noch einmal kräftig in die alten pommerschen Alleebäume an der Fernstraße 96 und entfachte ein herbstliches Farbenfeuer. Das Abendrot küsste die Wiesen. Der Hahn auf dem Domturm blitzte fröhlich auf. Kastanien und Linden ließen abwechselnd die Kronen brennen, nur für mich. An einer Bushaltestelle winkte lachend ein Kind. Das Kopfsteinpflaster einer Ortsdurchfahrt kribbelte freudig im Bauch, tiefroter, wilder Wein nahm einen Kirchturm gefangen. Neubrandenburg ließ seine Backsteintore glühen. In Pankow quietschte eine beleuchtete Straßenbahn in der Kurve, ein Schaufenster verscheuchte die beginnende Dunkelheit mit ausgestellten Büchern. Die alte Pfarrkirche stellte sich uns in den Weg. Ihr helles Geläut rief Erinnerungen zusammen. Urplötzlich fanden sich bekannte Lieder, uralte Gebete, einzelne Bibelverse zu einem lebhaften Gedränge in der Zelle ein. Geglaubtes und Unglaubliches, gesungen und gesprochen von vertrauten Stimmen. Die „Gemeinschaft der Heiligen“ machte mir die Nacht zum guten Dunkel.

Der „Lichtwurf“ mit den Hundertwattgespenstern über der Zellentür beim stündlichen Rundgang der Bewacher vermochte mir nichts davon zu rauben.

Sprachgesellen

Der erste Augenblick entscheidet. Der Moment, der Endgültigkeit verkündet. Das Vage erstarrt. Es macht einer bitteren Gewissheit Platz. Was ich bis jetzt für einen Irrtum hielt, wird die Wahrheit. Und bleibt Wahrheit. Verhaftet. So sieht das also aus. So riecht und schmeckt das. Verhaftet. Ein Wort, das sonst nur in Krimis vorkam. Jetzt hat es mich erwischt. Und ich bleibe ich. Und der Knast bleibt Knast, Wärter bleibt Wärter. Unvorstellbar war es bis gestern. Ab heute ist es normal.

Die mich bewachen, werden mit der Zeit immer vertrauter. Die Pritsche wird meine Pritsche, der Spind wird mein Spind, die Decke wird meine Decke, die Zelle wird meine Zelle. Mein Leben bleibt mein Leben. Aber völlig verändert. Vorher war ich draußen. Jetzt bin ich drinnen. So schnell geht das.

Niemand sieht mich. Ich stelle fest, dass das Fenster das Licht nicht heil lassen kann. Die Sonne wird krank, wenn sie sich an diesem Fenster Tag für Tag die Strahlen bricht.

Der Himmel kommt auch nicht durch. So ist das.

Die Wände sind mit einem braunen Ölsockel gestrichen. Alles andere dreckiggelb. Die Matratze spielt den Farbklecks. Und der Klodeckel aus gelbbraunem Holz macht auf vornehm. Die Tür dunkelgrüngrau. Solche Farben muss sich erst einer ausdenken.

Über der Tür wieder eine nackte Hundertwattbirne.

Die Decke war einmal weiß. Ein paar Millionen Häftlingsatemzüge zuvor.

Das Leben malt Bilder. Eine grüne Wiese mit Gänseblümchen und Schmetterlingen, einen Baum, der was von seinem Laub abgibt. Wilder Wein, der sich den grauen Putz hochmalt, neue Farben jeden Tag.

Einsamkeit will eingeübt sein. Die Seele braucht, schreibt Paul Gerhardt, stille „Sprachgesellen“.

Meine erste Übung ist Wörtermerken. Zum Beispiel: Schafgarbe, Langmut, Wegwarte, Klatschmohn, Holunder, Ginster, Muttersprache. Wer erkennt so was noch von allein nach einem Jahr ohne Sommer? Ein anderes Spiel: Feinde verjagen. Alle Plätze im Gedächtnis werden gebraucht. Meine Klassenlehrerin muss weg. Die Schulrektorin und der Professor für Praktische Theologie, ein Spitzel. Wir schließen sie in die Aktenschränke des Vernehmers.

Löwenzahnblätter verwegen gezackt, wer merkt sich so was? Oder das helle Violett der Stockrosen im Mittsommer. Ich schlage Nägel in die Zellenwand. Die Schatten einer Kiefer mustern den Hügel. Aber den Gesang einer Lerche, wenn sie abschwingt oder den Ruf der Wachtel, wo verstecke ich das vor den Wächtern? Und den Duft der Linden. Die aufgespannte Ruhe vor dem ersten Regentropfen und das Geräusch des erlösenden Wolkenbruchs auf dem Kopfsteinpflaster während der Sommergewitter …

Wohin damit? Die Seele läuft über.

Vielleicht ist es das, was sie wollen. Aber mich interessiert nicht, was die wollen.

Können wir wollen, was wir wollen? Dieser seltsame Satz Schopenhauers verliert unter diesen Umständen seinen Sinn. Denn jeder hat diese Frage schon beantwortet, ehe der erste Schlüssel singt.

Jedes irdische Ding kann uns ein ewiges Ding lehren. Irgendwo las ich das. „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes.“ Ich habe diesen Psalm im Greifswalder Dom gesungen, in einem vielstimmigen lebendigen Chor. Ich war von dem überzeugt, was da erklang. Ich sang mir die Seele fast aus dem Hals.

Der Dom war tief in den Himmel gebaut. Stein für Stein. Die Morgensonne war ergriffen vom Hohen Chor. Rote Backsteine gaben ihr Halt für den Vormittag.

Wohin mit dem Licht?

Keinesfalls durfte es in den Träumen häuslich werden. Nachts muss man schlafen im Knast.

Falsches Gepäck

Ich und im Knast! Das meiste hatte ich zu Hause gelassen. Aber ich habe immer noch zu viel falsches Gepäck. Wie auch, wenn sie dich von der Straße fangen? Ich habe den Kopf voller Samisdat. Jede freie Minute Manuskripte lesen. Fotografierte Seiten sortieren. Im Dunkeln. Ganze Bücher hat A. Seite für Seite abfotografiert. Wir mussten sortieren. Ich habe aber nicht alles gelesen, was in der Dunkelkammer lag. (Das letzte war von Bahro, „Die Alternative“.) Wenn ich dafür in den Bau gekommen bin, hat sich’s eigentlich nicht so richtig gelohnt. Was wollen die wirklich von mir?

Ich habe, kurz vor der Verhaftung, einen Liederabend gemacht. Nicht alles für die Ewigkeit, aber umso besser auswendig gelernt. Im Hinterzimmer einer Kneipe in Greifswald. Dreißig Leute waren gekommen. Texte aus Heines Wintermärchen als Rahmen, Brecht zum Vorzeigen, Biermann und ein paar eigene Lieder heimlich dazwischen. Alles fest im Gepäck zum Mitnehmen.

Wieder im Barkas quer durch Ostberlin. Im anderen Kabuff regt sich was. Wetthusten wie immer. Eine Frau. Wahrscheinlich Tine. Es wird alles immer mehr Tine. In der Erinnerung türmen sich am Ende die Gewissheiten, dass es jedes Mal Tine war. Aber selbst das Husten kann gefälscht sein. Der Wächter brüllt: „Ruhe dahinten!“

Die Straßenbahn quietscht draußen um die Kurve. Sie quietscht durch die Seele. Ist es die 46, die 49 oder die 22?

Das Metallgeräusch verrät nur die Hälfte. Wie das Husten.

In welcher Zelle ist hier wer und warum?

Ich räume meine Seele in den Spind. Ich besitze ja sonst nichts. Aber die Bilder muss ich auslagern. Ich brauche Platz, um das hier zu überstehen.

„Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.“ Die Zelle ist ziemlich dicht. Die im Altbau sind etwas höher und haben Tonnengewölbe.

Kiste zum Schlafen, Hocker, Spind und unten an der Schlafkiste ein Tisch zum Ausklappen. Klosett ohne Deckel, daneben das Waschbecken.

Für so eine Zelle braucht die Seele nicht viel Platz. Aber Geduld.

Die Zeit zerreißt sich selbst. Die Langeweile darf nicht eingelassen werden. Es kann passieren, dass einer vor Langeweile zugrunde geht. Noch langsamer als im richtigen Leben.

Die Uniformen, grüngrau, graue Kragenspiegel. Stasi-U-Haft. Tote Farbe.

Die Jünglinge, die uns bewachen, haben keine Geschichte, werden auch nie mehr eine haben. Wenn alles so bleibt, werden sie auch keine brauchen.

Aber meine Geschichte hat schon angefangen.

Im falschen Land an der falschen Stelle geboren. Für meine Bewacher ein eindeutiger Sachverhalt.

Heißt das für mich gleich: im richtigen Land an richtiger Stelle?

Das wird sich zeigen. Kommt darauf an, wie stark der Gott ist, der mir das nicht erspart.

Ich muss das Auge im Spion ertragen. Ob ich gehe oder stehe, selbst, wenn ich auf dem Klo sitze. Beobachtet werden, selbst beim Pinkeln. Aber darin habe ich ja schon Übung. Mir fällt die Fahrt nach der Verhaftung ein. Zwischen Greifswald und Neubrandenburg, an der Fernstraße 96, sagte ich:„Ich muss mal!“

Keine Antwort.

„Ich mache Ihren Wagen nass, wenn Sie nicht anhalten!“

Der Fahrer hielt im Halteverbot an einem der Alleebäume. „Aussteigen!“, sagte er unwirsch. Die beiden Hintermänner kamen mit raus, einer rechts, einer links. Einer hatte die Hand an der Pistole in seiner Tasche, der andere schaute mir über die Schulter. Er roch aus dem Mund.

Aber die riesige Kastanie streichelte mir mit tausendmal fünf Fingern sanft die Seele. Nie wieder lernte ich einen Baum so schnell und gründlich auswendig. Der liebe Gott hat ihn mir persönlich in die Seele gemalt. Danach musste ich nur noch die Augen schließen, und der riesige Baum stand mitten in meiner Zelle. Zum Ärger der Wächter versteckte ich mich dahinter, wenn ich aufs Klo ging.

Augenzuflucht

Augen zumachen half fast immer. Wenn die Neonröhre direkt über meinem Gesicht ihr kaltes Licht abregnete, hielt ich mir die Augen zu. Dann dauerte es nicht lange und ich bekam lebendigen Besuch.

Ich nannte diese Übung Augenzubesuch. Zuerst suchte ich mir Namen zusammen. Zu den Namen die passenden Charaktere, zu den Charakteren passende Gedanken, Dialoge und Handlungen. Hatte ich alles beieinander, lernte ich es auswendig. Niemand konnte mir derartige Manuskripte im Kopf zerreißen. Bald war ich so trainiert, dass schon einzelne Wörter ganze Welten beherbergen konnten.

Mein unsichtbarer Besuch kam nie mit leeren Händen. Erinnerungszitate waren die schönsten Geschenke. Ich konnte sie mir immer von Neuem ins Gedächtnis rufen. So rief ich etwa: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch!“, und staunte, was dann begann: Kaum hatte ich den Psalmvers gesprochen, wurde er mir zur Wahrheit. Die Riegel sprangen auf. Ich ging hinaus und konnte mir aussuchen, wohin.

Ich machte mich auf den Heimweg, das hieß, in mein Dörfchen am Rand von Berlin. Die alte Kirche auf dem Friedhof sah ich schon von Weitem zwischen den Linden an der Bucher Straße. Ich ging ganz langsam und sah, wie am Wegrand das Gras die alten, dicken Stämme umtanzte. Die Teerdecke glänzte schwarz in der Sonne. An ein paar Stellen kamen die Kopfsteine wieder durch. Diese Straße führte mir mitten ins Herz. Ich sah das Küsterhaus. Die Winterkirche fiel mir ein: ein kleiner Saal, mit gelbbraunen Stühlen, einem Holzkreuz, einem Altartisch. Vielleicht passten dreißig Leute hinein. Es war voll. Sie sangen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.“ Die „Zweiglein der Gottseligkeit“ reichten bis in meine Zelle. Hellgrün wie der Buchsbaum. Für diese kleinen Fluchten mit geschlossenen Augen fand ich ein schönes, doppelbödiges Wort: Augenzuflucht. Es enthält beides, eine Flucht mit geschlossenen Augen und eine Zuflucht für die Augen. Mein Herz war dann manchmal ein Tempel mit schlanken dorischen Säulen oder eine große gotische Kirche wie der Greifswalder Dom oder nur die kleine Dorfkirche meiner Kindheit. Vorn am Altar stand der einarmige Küster und zündete die Kerzen an. Ihn hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Er sagte immer, der fehlende Arm habe ihm das Leben gerettet. Es war sein Heimatschuss. Sonntags trug er einen schwarzen Anzug. Aus dem Ärmel, der sonst leer herunterhing, schaute unter einer weißen Manschette eine Hand mit einem schwarzen Lederhandschuh hervor. Wenn er in der Woche die Wiesen mähte, hatte er einen eisernen Unterarm, in den er den Sensenstil einspannte.

Er mähte schneller und besser als die meisten mit zwei Armen.

Sein rechter Arm war unglaublich stark. Er hob oft allein die Gräber auf dem Friedhof aus.

Ich habe oft vor diesen Löchern gestanden und hineingeschaut.

Die Sonne fiel hinein.

Einmal, im Advent, mischte sich der „König der Ehren“ selbst unter meine unsichtbaren Besucher. Er brachte alle mit, die ihm die Straße säumten. Zum Beispiel meinen Dorf-Posaunenchor, der mir ein Ständchen brachte. Augenblicklich waren alle alten Erinnerungen hellwach.

Als die Jungs mich also besuchen kamen, setzten sie sich auf die freie Pritsche, stellten ihre Notenständer auf und spielten „Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell herein“. Damit meinten sie für den Augenblick die Neonlampe. Aber was machte das? „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein’ neuen Schein.“ Sie spielten voller Inbrunst. Vieles klang, zugegeben, etwas ironisch hier. Einer gab mir sein Flügelhorn, und ich spielte in der zweiten Stimme mit. Eine willkommene, gute Abwechslung im Zellenalltag. Ich war dankbar für dieses Ständchen.

Meine unsichtbaren Besucher verabschiedeten sich und gingen, unbemerkt von den Posten, wieder hinaus durch Türen und Schleusen. Sie hatten ja noch andere zu besuchen. Die Posaunen und Hörner unterm Arm, gingen sie voll freudiger Erwartung vom Hof. Mein Herz hatte sich gemerkt, wie die Gesichter aussahen. Ich ahnte, dass Novemberwind und Regen sie draußen kräftig zausen würden, denn die Sonne hatten sie ja vorerst bei mir in der Zelle gelassen.

Der mürrische Posten konnte sie weder kommen noch gehen sehen, er hatte nur einmal an die Tür gehauen, bei „Tochter Zion“, und gerufen: „Links!“, damit meinte er mich, „Singen einstellen!“ Die Bläser hatte er gar nicht bemerkt.

Niemöllers Bibel

Der Offizier hat extra die Tür aufgeschlossen. Dann hat er sie hereingereicht. Lutherübersetzung 1912. Nicht einmal einen Tag war ich ohne Bibel.

Das verdanke ich dem Pfarrer Martin Niemöller. Über ihn hatte ich gelesen, dass er im Konzentrationslager Sachsenhausen als „persönlicher Gefangener Hitlers“ eingeliefert worden war. Als er aus dem Auto in die Zelle verfrachtet wurde, fragte ihn der Kommandant: „Ist noch was?“

Geistesgegenwärtig habe er geantwortet: „Aber ja! Ich brauche mein Neues Testament!“

Er bekam es prompt.

Nach dieser Lektüre hatte ich mir angewöhnt, mein griechisches Neues Testament immer in der Tasche zu tragen. Für den Fall der Verhaftung. Erstaunlich war, dass genau diese Szene sich wiederholen ließ und mir tatsächlich zu meiner Bibel verholfen hat.

Ich sehe mich in der Aufnahmezelle. Nackt und bloß an Seele, Herz und Leib. Gerade haben sie mir die Kniebeuge abverlangt. Jeder „Neuzugang“ wurde auf diese Weise untersucht, ob er Kassiber oder sonstiges im Hintern hatte. Die Zivilsachen sind gegen die Knastgarderobe getauscht, sogar mit einer gewissen Erleichterung, denn die Klamotten stanken nach dem Tag- und Nacht-Verhör nach Angstschweiß. Die Knastklamotten rochen nach billigem Waschpulver.

So stand ich da, als die Klappe an der Tür laut aufging. In dem kleinen Quadrat sah ich das Gesicht des Effektenoffiziers, der uns unsere Zivilsachen abgenommen hatte.

Der Mann fragte durch die Klappe „Ist noch was?“

Sofort fiel mir Niemöller ein und ich gab seine Antwort: „Ja, ich brauche mein Neues Testament!“

Nach kurzer Zeit kam der Mann wieder. Er schloss die Tür auf, gab mir eine Bibel und entschuldigte sich: „Ihre Bibel konnten wir Ihnen nicht aushändigen, fremdsprachige Ausgaben sind nicht gestattet.“

Aus meiner heutigen Sicht ist damals ein Wunder passiert.

Von allen anderen Gefangenen habe ich erfahren, dass es Wochen, manchmal Monate dauerte, bis sie eine Bibel bekamen.

Bei meinem Abendgebet war ich nie allein. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, fand sich ein unsichtbarer Besucher ein. Manchmal besuchte mich Martin Luther und fragte mich den Katechismus samt Erklärungen ab.

„Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.

Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben …“

Später, als der Posten mich vor sich her trieb, rote Birnen ein- und ausschaltend, „Gesicht zur Wand!“, dachte ich: Angesichts dieser vielen kleinen Götter hier im Haus ist es noch schwerer, nur diesen einen Gott zu fürchten. Ebenso ist es leichter, diesem fernen Gott zu trotzen, als den vielen bedrohlich nahen Göttern hier im Haus.

Was ist Wahrheit? Der Freiheitskrieg der Menschheit, der mit der Rettung eines Sklavenkindes beginnt, in einem Körbchen auf dem Nil? So klein, mit der Regung im Herzen einer Frau aus reichem Hause, sollte die Freiheit angefangen haben? Jedenfalls holte sich ein versklavtes Volk von da an nach und nach seine Wahrheit und Würde zurück.

Beides war mir genommen. Dazu die Uhr, der Ehering. Hemd und Hose. Die Zivilkleidung hatte ich gegen einen alten Trainingsanzug getauscht, Schuhe gegen Filzpantoffeln. Die Pantoffeln hatten ein gelbbraunes kleinkariertes Muster.