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Samaa Habib/Bodie Thoene

Ich kam zurück

Eine junge Muslimin erlebt den Himmel

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INHALT

1  Explosion

2  Wunderkind

3  Als Muslimin geboren

4  Bürgerkrieg

5  Hunger

6  Das heilige Buch

7  Gottes Sohn

8  Die große Begegnung

9  Erste Schritte mit Jesus

10Kraft von oben

11Gott erhörte unser Schreien

12Ein besonderer Bodyguard

13Samen, die aufgehen

14Das Alte wird neu

15Mutiger Glaube

16Ein Haus findet den Erlöser

17Im Himmel

18Ich kämpfe um mein Leben

19Heilungswunder

20Jesus im Gefängnis

21Wunderbar verwandelt

22„Jetzt weiß ich, was Ihr Geheimnis ist“

23Glaubensschritte

24Bis an die Enden der Erde

25In die USA

Epilog: Vier Träume

Nachwort von Mike Bickle

Danke!

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Face

Ins Deutsche übersetzt von Dr. Friedemann Lux

Die Bibelzitate sind im Allgemeinen der Übersetzung

© der deutschen Ausgabe 2015 Brunnen Verlag Gießen

Dieses Buch ist meinem geliebten Herrn und
Heiland Jesus Christus gewidmet,
meinen lieben Eltern, Geschwistern und Verwandten
und der treuen verfolgten Kirche

1

EXPLOSION

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Sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes und weil sie sich zu Gott bekannt haben. Sie haben ihr Leben für Gott eingesetzt und den Tod nicht gefürchtet.
(Offenbarung 12,11)

 

Als ich an dem sonnigen Herbstmorgen wach wurde, in der Hauptstadt meines Heimatlandes im Nahen Osten, war der Tod das Letzte, woran ich dachte. Terroristen und Bomben, die meine Welt in Stücke reißen würden, waren so weit weg von meinen Gedanken wie der Osten vom Westen.

Ich war neunzehn Jahre alt, und mein Herz war voll von Leben und Freude und den Hoffnungen und Träumen einer jungen Frau.

Das Sonnenlicht strömte durch das Fenster meines Zimmers und drang durch meine Augenlider. Ich schlug die Augen auf und hörte still zu, wie im Haus das Leben erwachte. Draußen sangen die Vögel. Ich freute mich, dass es Sonntag war, mein liebster Wochentag. Aus der Küche kam das warme Lachen meines Vaters. Meine Mutter war gerade auf drei Tage zu Besuch bei meiner Großmutter, sodass meine Schwestern für das Frühstück sorgten.

„Samaa!“, rief meine älteste Schwester. „Bist du wach?“

„Gleich!“ Ich setzte mich auf die Bettkante. „Guten Morgen, Herr“, flüsterte ich. „Danke für diesen schönen Herbsttag. Ich gebe dir jeden Augenblick.“

Als ob er mein Gespräch mit Jesus stören wollte, ging auf dem Minarett der nahen Moschee der Lautsprecher mit der Stimme des Muezzins los, der die gläubigen Muslime unseres Viertels zum Gebet rief.

Mein Vater war Rechtsanwalt, dazu ein angesehener Philosophieprofessor an der Universität sowie ein Mullah, das heißt ein religiöser Lehrer und Leiter. Während ich mich anzog, hörte ich, wie er auf sein Zimmer ging und die vorgeschriebenen Gebete zu Allah sprach. Ich wusste, dass er nicht an die „Schande“ zu denken versuchte, dass mehrere Personen aus seiner Familie den Islam verlassen hatten, um Jesus Christus nachzufolgen.

Mein Vater wusste, dass ich heute Morgen zur Kirche gehen würde. Sechs seiner zehn Kinder und meine Mutter hatten Christus angenommen. Meine Mutter war eine gebildete Frau. Sie beherrschte drei Sprachen und hatte an der Schule Englisch unterrichtet, bevor sie ihren Beruf aufgab, um meinen Vater zu heiraten und die geachtete Mutter von zehn Kindern zu werden. Ich war ihre jüngste Tochter.

Es war eine große Last für unseren Vater, dass wir Christen geworden waren. Ich hörte durch meine Tür, wie er seine Gebete sprach, und begann, selbst zu beten: „Herr, bitte nimm du die Decke der Blindheit von den inneren Augen meines lieben Vaters weg, damit er auch die ganze Freude der Erlösung durch deinen Sohn Jesus kennenlernt. Bitte zeig du ihm, dass Jesus nicht nur ein Prophet ist, sondern der Sohn des lebendigen Gottes.“

Ich beschloss, das neue knöchellange, graugrüne Kleid anzuziehen, das mir eine Freundin geschenkt hatte, und dazu High Heels. Dann bürstete ich mein langes braunes Haar. Für Gott wollte ich so schön wie möglich sein. Und pünktlich.

Ich gab meinen Brüdern und Schwestern einen Gutenmorgenkuss. „Ich muss gleich zum Gottesdienst.“

„Erst musst du frühstücken“, sagte meine älteste Schwester streng. Sie stellte mir eine Tasse Tee hin.

Ich trank den Tee und angelte einen Granatapfel aus der Obstschale. „Für mehr hab ich keine Zeit. Ich sing heute im Chor mit, und bevor wir üben, muss ich noch zu Adila.“

Mein Vater kam in die Küche. „Grüß deine Schwester Adila von mir. Und bring sie mit. Was wohnt sie in der Kirche, wenn sie ein Zuhause und Eltern hat?“

„Ich werd’s ihr sagen, Papa. Aber du weißt ja, dass sie gerade diese Ausbildung macht.“

Adila war nur ein Jahr älter als ich. Hochgewachsen und schön, war sie vor Kurzem von einer Bibelschule in Europa zurückgekehrt und wohnte zurzeit im Gebäude unserer Gemeinde, wo sie eine Art Praktikum machte.

„Sag ihr, dass ich sie liebe. Und dich liebe ich auch, meine liebe Tochter“, sagte Papa.

Ich warf ihm eine Kusshand zu, während ich aus der Küche rannte.

„Pass gut auf dich auf, Mädchen!“, rief er hinter mir her. Spürte er die Feuerprobe, die vor uns lag? Erst vor zwei Tagen hatte die US-Botschaft ihr Personal abgezogen, wegen „konkreter Gefahr von Terroraktionen gegen Ausländer“. Man hatte auch etliche andere Ausländer, die im Land lebten, vor der Bedrohung durch islamische Extremisten gewarnt, doch die Hirten, die unsere Gemeinde gegründet hatten, hatten mutig beschlossen, bei ihrer Herde zu bleiben.

Ich hatte keine Angst vor irgendwelchen Terroristen. Meine Gemeinde hatte andere Probleme: wegen unserer Regierung. Die Behörde für Religion und Kultus drohte uns mit dem Entzug der staatlichen Registrierung, weil wir evangelistische Aktionen in der Hauptstadt durchführten. Dreimal im vergangenen Jahr war mitten im Gottesdienst die Polizei gekommen, hatte Gemeindeglieder festgenommen, Literatur beschlagnahmt und mehrere Personen wegen „illegaler religiöser Propaganda“ mit Strafen belegt.

Aber wir hatten alle keine Angst. Die Freude und der Friede von Jesus, die höher sind als alle Vernunft, füllten unsere Herzen und Sinne. Wir waren überzeugt, dass unser Herr seine Zusage halten würde, uns nie zu verlassen. Meine Mutter und mein Vater mochten Angst um uns, ihre Kinder, haben – ich hatte keine Angst. Wenn Gott für uns war, wer konnte dann gegen uns sein?

Ich sauste aus der Tür unserer Wohnung und hob mein Gesicht ins Sonnenlicht. „Herr, bitte zeige meinem lieben Papa, wie sehr du ihn liebst und wie sehr du uns, deine Kinder, liebst. Lass ihn die gleiche Freude der Erlösung erfahren wie uns.“

Dann ging ich mit klappernden Absätzen den Gehsteig entlang. Mir war, als ob Jesus direkt neben mir ginge. Die Luft duftete nach Frühstück und Herbstlaub.

Meine Insel der Hoffnung

Mehrere Straßen weiter sah ich ihn vor mir, den drei Stockwerke hohen Komplex aus Bürohäusern und Wohnheimen, zu dem unser angemietetes Gebäude gehörte. Dies war meine innere Heimat, eine Insel der Hoffnung in einem Meer der geistlichen Finsternis.

Mein Land war zu 98 Prozent muslimisch, und obwohl wir eine Demokratie sein wollten, war die Religionsfreiheit mehr eine hehre Idee als eine Alltagsrealität. Wir hatten erst vor Kurzem einen brutalen Bürgerkrieg überstanden, der sich zu einem Religionskrieg zwischen den beiden Hauptrichtungen des Islam, den Sunniten und Schiiten, entwickelt hatte. Zur Spaltung in Sunniten und Schiiten war es nach dem Tod Mohammeds gekommen. Das arabische Wort sunni kommt von einem Wort, das bedeutet: „jemand, der den Überlieferungen des Propheten folgt“. Die Sunniten glauben, dass der Nachfolger Mohammeds aus den Reihen derer gewählt werden sollte, die die größte Eignung für diese Aufgabe hatten, und so wurde Abu Bakr, der Unterstützer Mohammeds, der erste islamische Kalif. Das arabische Wort shia dagegen bedeutet: „die Partei oder Anhänger Alis“. Für die Schiiten hätte Mohammeds Nachfolger sein Cousin und Schwiegersohn Ali sein sollen, also jemand aus Mohammeds Sippe.

Der jahrelange Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten bei uns (angeblich ein Krieg um die Freiheit des Landes) hatte über 100.000 Todesopfer gefordert; dazu kamen noch die vielen Schwerverletzten, die für den Rest ihres Lebens mit körperlichen Behinderungen leben mussten. Es gab nur eines, in dem Sunniten und Schiiten sich einig waren, und das war ihr Christen- und Judenhass. In meinem Land wurde es toleriert, wenn jemand „als Christ geboren“ worden war, doch ein Muslim, der von Mohammed und dem Koran zu Christus und der Bibel konvertierte, war in den Augen der radikaleren Muslime ein Abtrünniger und Verräter und eines grausamen Todes schuldig.

Ich betrat den heiligen Boden unserer Gemeinde und atmete erleichtert auf. Hier fühlte ich mich immer sicher, denn hier war Gott gegenwärtig.

Rasch zum Zimmer meiner Schwester im Wohnheim. Nanu, sie lag noch im Bett. Ihre dunklen Augen glänzten fiebrig.

„Adila! Bist du krank?“ Ich kniete mich neben sie und legte die Hand auf ihre Stirn. Sie fühlte sich wie ein Glutofen an.

Adila blinzelte mich an und erwiderte mit matter Stimme: „Die Nacht war schrecklich.“

„Was ist mit dir?“ Die Farbe war aus ihrer schönen olivenfarbenen Haut gewichen. Ich legte die Hände auf ihren Kopf und betete zu Gott, sie zu heilen. Dann reichte ich ihr den Granatapfel, den ich von zu Hause mitgebracht hatte.

Sie flüsterte: „Bitte sag Mama und Papa nicht, dass ich krank bin. Sie würden sich nur Sorgen machen.“

„Ist schon gut, keine Bange. Versuch einfach zu schlafen. Ich muss jetzt in die Chorprobe. Nach dem Gottesdienst komm ich wieder, bring dir einen Tee und bete ganz fest für dich. Ich werde die anderen im Chor bitten, ebenfalls für dich zu beten.“

Meine Schwester nickte, legte den Kopf zurück aufs Kissen und schloss die Augen. „Danke. Ja, betet für mich, bitte.“

Ich sauste über den Hof ins Nebengebäude, schneller als das Laub, das im Herbstwind tanzte, rannte in den Probenraum im Untergeschoss, schnappte mein Chorgewand vom Kleiderhaken und streifte es über.

„Hallo, Samaa! Das nenn ich pünktlich!“, rief Wafa (der Name bedeutet „treu“)1, ein gut gelaunter junger Mann etwa in meinem Alter. Er war zusammen mit meiner Schwester Adila auf der Bibelschule gewesen und war ein guter Freund. Da er keine Geschwister hatte, behandelten wir ihn wie unseren Bruder.

Meine Freundinnen umarmten mich zur Begrüßung. Ich zog lachend das purpurrote Kreuz gerade, das vorne auf mein weißes Chorgewand gestickt war. Dann merkte ich, wie sinnlos das war, denn das ganze Begrüßen und Umarmen – wir begrüßten einander mit den traditionellen drei Wangenküssen – brachte das Gewand wieder hoffnungslos durcheinander.

Als wir gerade mit dem Einsingen anfangen wollten, kam meine Schwester Iman. Ich bat den Chor um ein kurzes gemeinsames Gebet für Adilas Genesung. Wo zwei oder drei im Namen von Jesus zusammen sind, ist er ja mitten unter ihnen und erhört ihre Bitten.

Schließlich verließen wir den Probenraum und stiegen die schmale Treppe zum Gottesdienstraum im zweiten Obergeschoss hoch. Die Chorstühle standen an der Stirnwand der Kirche, unter dem großen Holzkreuz. Von dort aus schauten wir direkt auf die gut gefüllten Holzbänke; an die 500 Gläubige mochten in der Kirche sein.

Eine packende Botschaft

Unser Hauptpastor war nicht da, sodass der zweite Pastor predigen würde, während mein guter Freund, Missionar Johnny (der Name bedeutet „Gott ist gütig“), die Gottesdienstleitung hatte.

Wir sangen „Halleluja“, „Gott ist so gut“ und „Preist den Herrn“. Wir sangen von Gottes Liebe, Herrlichkeit und Majestät. Schauer der Freude durchliefen mich. Die Gesichter in den Bänken vor uns strahlten. Wir sangen: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil und meine Kraft“ und ich wusste: Jawohl, das war wahr!

Zwischen den Liedern erzählte Missionar Johnny Mut machende Geschichten über Gottes Treue und Segen, die Christen aus aller Welt erlebt hatten. Aber dann zog ein Schatten über sein Gesicht und ich wusste: Etwas bedrückte ihn. Er fuhr mit einer Geschichte über einen Missionar in China fort, der wegen seines Glaubens schwer verfolgt worden war. Als er endlich wieder zu Hause war, saß er im Rollstuhl und sie hatten ihm die Nase abgeschnitten.

Meine Schwester Iman, die neben mir saß, keuchte auf vor Entsetzen. Johnny fuhr fort: „Dies ist keine fröhliche Botschaft, aber der Herr hat mir gesagt, dass Verfolgungen auf uns zukommen und dass wir uns vorbereiten müssen. Jesus selber hat Verfolgung und Leiden erfahren und uns wird es nicht anders ergehen. Seid ihr bereit, für Jesus zu leiden? Seid ihr bereit, für ihn zu sterben?“

Es lagen ein solcher Ernst und eine solche Dringlichkeit in seiner Stimme, dass ich mich fragte, ob er vielleicht einen schlimmen Traum oder eine Vision gehabt hatte, dass er uns das fragte. Die ganze Gemeinde hing wie gebannt an seinen Lippen. Es war so still, dass ich durch die Fenster an beiden Seiten des Gottesdienstraumes die Vögel draußen singen hörte.

Johnny setzte sich und unser zweiter Pastor trat ans Rednerpult. Er schlug seine Bibel auf und las uns Matthäus 16,13-19 vor: „Als Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger: ‚Für wen halten die Leute den Menschensohn?‘ Die Jünger erwiderten: ‚Einige meinen, du seist Johannes der Täufer. Andere halten dich für Elia, für Jeremia oder einen anderen Propheten.‘ – ‚Und für wen haltet ihr mich?‘, fragte er sie. Da antwortete Petrus: ‚Du bist Christus, der von Gott gesandte Retter, der Sohn des lebendigen Gottes!‘ – ‚Du kannst wirklich glücklich sein, Simon, Sohn des Jona!‘, sagte Jesus. ‚Diese Erkenntnis hat dir mein Vater im Himmel gegeben; von sich aus kommt ein Mensch nicht zu dieser Einsicht. Ich sage dir: Du bist Petrus. Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen und selbst die Macht des Todes wird sie nicht besiegen können. Ich will dir die Schlüssel zu Gottes neuer Welt geben. Was du auf der Erde binden wirst, das soll auch im Himmel gebunden sein. Und was du auf der Erde lösen wirst, das soll auch im Himmel gelöst sein.‘“

Der Pastor machte eine Pause und fuhr dann fort: „Wenn jemand euch fragt: Wer ist dieser Jesus, von dem ihr redet? Wer ist er?, werdet ihr selbst dann, wenn ihr damit rechnen müsst, verfolgt zu werden, den Mut haben, wie Petrus zu sagen: ‚Er ist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes‘?“

Verfolgung? Bei uns? Aber hatten wir nicht auch Gottes Verheißungen gehört? Ich musste daran denken, dass selbst die Pforten der Hölle uns nicht besiegen konnten und dass Jesus den Tod überwunden hatte. Und ich spürte, wie die stille Freude, mit der dieser Morgen begonnen hatte, zurückkam.

Nach der Predigt kam die Kollekte. Ich schaute kurz zur Uhr an der hinteren Wand hin. Es war ein paar Minuten vor zwölf. Iman ging kurz in einen Nebenraum, um die Blumen zu holen, die wir immer den Gottesdienstbesuchern schenkten, die zum ersten Mal da waren.

Der Chorleiter hob die Hand und wir standen für das nächste Lied auf: „Glory, glory, halleluja“. Es war mein Lieblingslied und wir stimmten es voll Freude an. Der mitreißende Rhythmus, die Melodie, der Text – sie gaben mir so viel innere Kraft und Zuversicht. Ich spürte sie wieder, die schiere Freude darüber, für meinen Jesus singen zu dürfen und ihn anzubeten.

Plötzlich ein greller Blitz und ein ohrenbetäubendes Krachen. Das ganze Gebäude bebte, wie bei einem Erdbeben. Ich packte instinktiv die Rückenlehne meines Stuhls, um nicht zu Boden zu stürzen. Einen Augenblick lang war ich wie betäubt von dem Lärm, der wie tausend Posaunen gleichzeitig klang.

Chaos

Schwarzer Rauch überall. In der Mitte des Saales schien irgendetwas vorzugehen. Was, konnte ich nicht ausmachen. Ich fühlte mich, als ob ich unter Wasser wäre oder meine Ohren mit Watte verstopft wären. Der beißende Gestank von Qualm biss mir in die Augen. Ich musste husten.

Stimmen: „Was ist da passiert?“ – „Ist jemand verletzt?“ – „Was sollen wir machen?“

Ich versuchte, durch den Rauch und den Staub etwas zu sehen, und rief in Imans Richtung: „Bist du okay?“ Aber halt, sie war ja hinausgegangen. Ich rief: „Was war das? Was war das?“

„Keine Ahnung!“ Die anderen waren genauso ratlos wie ich.

Ich dachte: Ist das vielleicht Jesus, der wiedergekommen ist? Konnte das sein? War es das – die Wiederkunft unseres Herrn? Ich starrte weiter in den Rauch und spitzte die Ohren. Dann betete ich plötzlich – ich wusste selbst nicht, wie – laut die Worte aus Offenbarung 22,17: „Der Geist und die Braut sagen: ‚Komm!‘“ Und dann begann ich, das Lied zu singen. Ich schaute zur Seite. Viele andere im Chor hatten die Hände erhoben und sangen mit: „Amen! Komm, Herr Jesus, komm!“

War das möglich? War Jesus da und rief uns nach Hause?

Ich spürte keinerlei Angst, nur Verwirrung. Wenn es für das hier keine geistliche Erklärung gab, war es dann vielleicht ein Unfall?

Der Staub begann sich zu verziehen. Jetzt sah ich, dass mehrere Fenster zersplittert waren. Ich hörte Rufe und Schreie, konnte aber die Worte nicht verstehen.

Seit dem Bürgerkrieg hatte es in meinem Land viele Stromausfälle und andere Pannen gegeben. Vielleicht war das gerade nur ein Kurzschluss gewesen oder so etwas Ähnliches?

Schnell wurde ich eines anderen belehrt. Ein Mann aus unserer Gemeinde, der beim Militär war, kam nach vorne gerannt und rief mit den Armen fuchtelnd: „Raus, alle raus! Das war eine Bombe, vielleicht gibt’s noch mehr! Geht nach draußen, schnell!“

Jetzt brach das Chaos los. Angstschreie. Der einzige Ausgang, am hinteren Ende des Saals, war gerade breit genug für zwei Personen; jetzt versuchten fünfhundert gleichzeitig, sich durchzuquetschen.

Von dem plötzlichen Strom wurde ich mitgerissen. Ich hätte mich nicht umdrehen und in die andere Richtung gehen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Adila lag krank in ihrem Zimmer, und meine anderen Geschwister waren nicht hier, aber wo war Iman? Sie war hinausgegangen, um die Blumen zu holen, und immer noch war sie nirgends zu sehen!

Jetzt standen wir in der Mitte des Saals. Ich japste. Im Fußboden klaffte ein Loch, das einen Meter breit sein mochte! Bänke und Stühle waren von der Explosion halb zerfetzt. Auf den Trümmern lagen Leichen. Da, wo die Bombe hochgegangen war, war alles zerstört. In der Decke war ebenfalls ein Loch.

Als der Rauch sich weiter verzog, sah ich noch mehr. Gemeindeglieder, die blutend auf dem Boden lagen. Ihre Schmerz- und Hilfeschreie mischten sich mit dem allgemeinen Lärm der Menschen, die panisch zum Ausgang drängten. Einige begannen, den Verletzten zu helfen.

Aischa, eine liebe Freundin von mir, mit der ich zusammen in der Gottesdiensttanzgruppe war, hielt ihre Hände gegen den Bauch gepresst. Sie versuchte zu gehen, aber zwischen ihren Fingern sickerte Blut durch. Sie sagte kein Wort, aber ihre verängstigten Augen sprachen Bände.

Ich packte sie an der Schulter und versuchte, sie zum Ausgang zu ziehen. Sie fühlte sich an wie ein nasser Sack. Ihre Füße versagten fast und sie schwankte, als wollte sie jeden Augenblick umkippen.

Um mich herum schienen meine Freunde wie die Fliegen zu sterben und ich stand hilflos mittendrin.

Ich stolperte zu einer der Bänke, die in zwei Stücke zerbrochen war. Sie standen in einem bizarren Winkel voneinander ab. Überall Blut, als habe jemand einen Eimer rote Farbe ausgekippt. Ich musste meine Freundin hier rauskriegen, ich musste Hilfe für sie holen! Aber der Ausgang schien so weit weg zu sein. Kamen wir überhaupt vorwärts? Oder würde ich für immer in diesem Gebäude festsitzen?

„Gott, hilf uns“, flüsterte ich. Als Antwort kam etwas wie ein sanfter Hauch und ich spürte einen tiefen Frieden, aber mein Körper zitterte weiter von den schockierenden Eindrücken, mit denen meine Augen und Ohren bombardiert wurden.

Zersplitterte Bänke, Scherben von Fensterscheiben. Ölig schwarzer Staub senkte sich über alles. Ich würgte und hustete. Mit der einen Hand versuchte ich, den Mund zu bedecken, während ich mit der anderen meine Freundin stützte. Um mich herum ein Albtraum aus Tod, Blut und schrecklichen Verletzungen, den ich nicht aus meinem Blick aussperren konnte.

Luft, ich brauchte Luft! Ich legte meine Freundin auf die Reste einer Bank und ging zum nächsten Fenster. Von der Fensterbank waren nur noch Reste übrig. Eine Stimme in meinem Ohr forderte mich auf, mich hinauszulehnen und zu dem Bürgersteig unten hinunterzuschauen.

„Spring“, flüsterte die Stimme. „Das ist das Beste. Wenn du hier bleibst, erstickst du … oder verbrennst … oder wirst zu Tode getrampelt. Spring!“

Ich wusste, dass es der Teufel war, der mich in den Selbstmord treiben wollte. Ich würde drei Stockwerke tief fallen, es wäre der sichere Tod. Aber nur Gott, der mir mein Leben gegeben hatte, hatte das Recht, es mir wieder zu nehmen. Ich stemmte mich innerlich gegen die verführerische Stimme. Satan, geh weg von mir, im Namen von Jesus!

Im gleichen Augenblick sah ich, wie die Frau von Missionar Johnny versuchte, durch das Fenster nebenan zu klettern. Ihr Gesicht war von Ruß und Blut verschmiert, ihr Blick war das reine Entsetzen. Schon hatte sie den einen Fuß auf die Fensterbank gesetzt.

Ich bekam sie gerade noch rechtzeitig zu fassen. „Mach das nicht!“, sagte ich leise. „Wir schaffen das schon über die Treppe, wir sind gleich unten.“

Sie ließ sich aufschluchzend in meine Arme fallen und nickte. Zwei andere Gemeindeglieder waren schon dabei, sich um Aischas Bauchwunde zu kümmern, und ich blieb bei Johnnys Frau. Wir schafften es zum Ausgang, über verlorene Schuhe, weggeworfene Handtaschen und Rucksäcke stolpernd, und stiegen zum ersten Stock hinunter. Johnnys Frau, die sich wieder beruhigt hatte, nickte mir ihr „Danke“ zu und drehte sich zur Seite, um jemand anderem zu helfen.

Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks rief jemand meinen Namen. „Samaa! Hilf uns!“ Durch eine halb geöffnete Tür, die in einen dunklen Gang führte, winkte ein Arm in meine Richtung. „Hier sind lauter Leute, denen es die Kleider weggerissen hat!“

In meiner Kultur ist es eine Schande, sich nackt zu zeigen. Die Frauen da drinnen würden buchstäblich lieber sterben.

„Samaa“, fuhr die Frauenstimme fort, „hilf uns, bitte! Bring uns was zum Anziehen!“

Ich schlüpfte aus meinem Chorgewand und warf es durch die Tür. „Das ist schon mal für eine! Ich komm gleich mit mehr wieder!“

Ich dachte an Adila in ihrem Zimmer im Nachbargebäude. Von der könnte ich mehr Kleider borgen. Und gleichzeitig sehen, wie es ihr ging.

Als ich in den Hof trat, kam Adila mir entgegengerannt. „Gott sei Dank, du lebst!“ Sie warf sich mir an den Hals.

„Ja, ich bin okay“, erwiderte ich. „Aber ich hab jetzt keine Zeit.“ Ich erklärte ihr in ein paar Worten die Situation und wir rannten gemeinsam auf ihr Zimmer, wo wir uns jede einen Arm voll Kleidung schnappten. Ich schlüpfte aus meinen High Heels in normale Straßenschuhe und band mein Haar zusammen, damit ich schneller laufen konnte. „Es sind so viele, die Hilfe brauchen“, erklärte ich.

„Warte“, sagte Adila. „Nebenan gibt’s Decken, Laken und Handtücher.“

Wir rannten mit unseren Bündeln zurück zur Kirche. Dort war man dabei, die Schwerverletzten hinauszutragen und säuberlich in Reihen entlang der Mauern hinzulegen. Dann sah ich endlich Iman, die dabei war zu helfen. Die Zeit reichte nur für eine kurze Umarmung.

„Ich bleib draußen und helf den Verletzten“, sagte Adila.

„Ich bring eben die Kleider rein! Bin gleich zurück!“, erwiderte ich.

*

Als Iman sah, dass ich zurück ins Gebäude ging, wollte sie mit, aber sie spürte eine innere Stimme, die „Nein“ sagte. Erst ignorierte sie diese Stimme, aber dann kam sie wieder, und diesmal gehorchte Iman und blieb draußen, um mit Adila Verletzten zu helfen.

*

Jetzt musste ich mich gegen den Strom vorkämpfen. Genauso erging es unserem Freund Wafa, der beim Hinaustragen der Schwerverletzten half. So viele verstörte Menschen versuchten noch, nach draußen zu gelangen, dass wir es nicht zurück in den ersten Stock schafften. Wir blieben im Treppenhaus stecken und beschlossen zu warten, bis der größte Ansturm sich gelegt hatte.

Das Bündel aus Decken, Betttüchern und Handtüchern, das ich trug, war so schwer, dass ich mich an einen Holzkasten lehnte, der an der Wand befestigt war und zur Aufbewahrung des Feuerlöschers diente. Ich holte Luft und schaute kurz auf meine Armbanduhr. Dreißig Minuten waren vergangen seit der Explosion. Ein anderer Freund, Sabir, trat zu mir. Er hatte ebenfalls geholfen, die Verletzten nach draußen zu tragen. Sein Hemd war blutverschmiert.

„Alles klar?“, fragte ich und legte eine Hand tröstend auf seine Schulter.

Im gleichen Augenblick explodierte die zweite Bombe. Sie war in dem Feuerlöscherschrank versteckt gewesen, vor dem ich stand.

Die Wucht der Explosion schleuderte mich hoch und gegen die gegenüberliegende Wand. Ich bekam keine Luft mehr. Ich hörte und sah nichts mehr, doch gleichzeitig fühlte mein ganzer Körper sich an, als ob er brannte. So ähnlich musste es sein, wenn man in einem Gewitter vom Blitz getroffen wurde.

Der Schmerz war fürchterlich. Ich fühlte mich, als ob der Todesengel mich erwürgte. Luft, Luft …

In der Bibel heißt es in Römer 10,13: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, der wird von ihm gerettet.“ Ich konnte nicht sprechen, aber mein Herz schrie: Jesus! Jesus, hilf mir! Jesus, rette mich! Ich keuchte auf und tat einen letzten Atemzug.

Dann verließ meine Seele meinen Körper und alles wurde schwarz.

__________
1 In meiner Kultur, aber auch in der Kultur der Bibel, ist die Bedeutung des Namens sehr wichtig. Ich werde daher immer wieder die Bedeutung von Namen erklären.

2

WUNDERKIND

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In den 1980er-Jahren, als ich geboren wurde, stand mein Land noch unter der Herrschaft der Kommunisten. Aber obwohl meine Eltern also in einem kommunistischen Land aufwuchsen, folgten sie der muslimischen Kultur. Eine große Familie war ein Zeichen dafür, dass Allah einen gesegnet hatte. Meine Eltern stammten aus Familien, die miteinander befreundet waren; sie hatten sich schon als Kinder gut gekannt.

Die Schwester meiner Mutter war mit dem Onkel meines Vaters verheiratet, und die beiden fanden, dass Ibraheem und Sarah („Sarah“ bedeutet „Prinzessin“) das perfekte Paar wären. Das sahen meine Großeltern genauso. Mein Vater war ein intelligenter Mann, der gerade seinen Doktor in Philosophie machte. Da ihre Tochter ebenfalls gebildet war, wünschten meine Großeltern, dass sie einen Mann bekam, der ihr geistig ebenbürtig war.

Aber gleichzeitig war es auch eine Liebesheirat. Mama war 20 und Papa 30, als sie in den 1960er-Jahren heirateten. Mein Vater fand, dass er mit meiner Mutter, die für ihre Schönheit und Intelligenz bekannt war, die Eroberung seines Lebens gemacht hatte. Mama war Englischlehrerin, aber sie hängte ihren Beruf an den Nagel, als sie meinen Vater heiratete. Jetzt war er die Mitte ihres Lebens; sie war entschlossen, seinem Namen („Ibraheem“ bedeutet „Vater der Menge“) Ehre zu machen und ihm viele Kinder zu schenken.

Meine Eltern betrachteten Kinder als Segen Allahs und wollten daher so viele wie möglich. Als sie nach drei Jahren immer noch keins hatten, begannen die Leute sich zuzuflüstern, dass sie verflucht seien (Unfruchtbarkeit gilt in der muslimischen Kultur als Fluch).

Doch dann gebar meine Mutter einen Sohn, was Anlass zu einer großen Feier war. Mein Vater nannte den Jungen Daniyal („Gott ist mein Richter“). Doch die Freude wich bald der Trauer. Daniel war nicht gesund; mit ganzen drei Monaten starb er nach einer Magenoperation. Es war ein furchtbarer Schlag für meine Eltern. Die Klatschbasen erklärten, dass sie also doch verflucht waren, und meine untröstliche Mutter verlor alle Hoffnung.

Doch schon im nächsten Jahr war das Leid zu Ende, mit der Geburt meines Bruders Suleyman („Friede“). Es folgten rasch acht weitere Kinder: mein Bruder Musa („Aus dem Wasser gezogen“, „Gerettet“), meine Schwester Mubarak („Gesegnete“), mein Bruder Dawud („Geliebter“), meine Schwestern Muqaddas („Heilig“), Iman („Glaube“), Malika („Königin“), Adila („Gerechte“) und ich.

Adila war nur ein Jahr vor mir geboren worden, und meine Mutter hatte Schwangerschaft und Geburt mit Bravour hinter sich gebracht. Doch mit mir war es eine andere Geschichte.

Mamas Kampf

Meine Mutter war eine zierliche Person. Sie hat mir später erzählt, dass sie fast ständig Schmerzen hatte, während sie mit mir schwanger war. Ihre Arme und Beine schwollen furchtbar an.

In unserem städtischen Krankenhaus gab es gut ausgebildete Ärzte und Schwestern, aber kein Ultraschallgerät. Meine Eltern hatten keinen Schimmer, ob ich ein Junge oder ein Mädchen war. Freundinnen meiner Mutter tippten auf ein Mädchen, weil meine Mutter sich angeblich so bewegte. Mein Vater hoffte als guter Muslim auf den nächsten Jungen. Er hatte schon fünf Mädchen, aber nur drei Jungen, und im Islam stehen Töchter nicht so hoch im Kurs wie Söhne.

Trotz ihrer Probleme trug meine Mutter mich bis zur Geburt aus. Es war ein früher Sonntagmorgen, als die Wehen begannen, die rasch heftiger wurden. Als mein Vater der ein Jahr alten Adila ihren Brei gab, versprach er ihr: „Wenn wir wiederkommen, bringen wir dir ein neues Brüderchen oder Schwesterchen mit – was Allah will.“

Adila war noch zu klein, um ihn zu verstehen, aber meine Geschwister wussten Bescheid und hofften alle auf einen Bruder. Suleyman, mein 13-jähriger Bruder, sagte: „Mama, bitte bring uns einen Bruder. Wir Jungen sind in der Minderheit.“

„Ich tu mein Bestes“, lachte Mama.

Meine Eltern gingen und Suleyman war jetzt der Mann im Haus. Papa half meiner Mutter die Treppe von unserer Wohnung im ersten Stock hinunter auf die belebte Straße. Ein Taxi brachte die beiden ins Krankenhaus. Die Wehen wurden heftiger.

Mein Vater lächelte, als sie im Krankenhaus eintrafen. Der Fluch der Unfruchtbarkeit war ohne jeden Zweifel gebrochen …

Auf der Entbindungsstation wurde meine Mutter sofort untersucht und in den Kreißsaal gebracht. Mein Vater durfte nicht mit, denn Männer durften bei Geburten nicht dabei sein. Er wartete geduldig draußen auf der Straße. Das Wetter war warm und angenehm. Nachdem er die Sache bereits neun Mal mitgemacht hatte, glaubte Papa nichts anderes, als dass auch diese Geburt schnell über die Bühne gehen würde. Er behielt das Fenster im Blick, in dem sicher bald eine Krankenschwester erscheinen würde, um ihm das Neugeborene zu zeigen.

Im Kreißsaal untersuchte die kommunistische Hebamme meine Mutter und versuchte, den Kopf des Kindes zu ertasten. Sie machte eine besorgte Miene. In der Amtssprache des Landes (die nicht unsere Muttersprache war) sagte sie zu ihrer Kollegin: „Das sollten wir wegmachen. Ich glaub, das ist ein Tumor und kein Kind.“

Sie wusste nicht, dass meine Mutter fließend drei Sprachen sprach und jedes Wort verstand. Meine Mutter hob den Kopf und befahl, ebenfalls in der Amtssprache: „Rühren Sie mein Kind nicht an!“

Die Hebamme machte ein überraschtes Gesicht, erwiderte aber: „Madame, es ist besser, wenn wir das Ding da drinnen abtreiben.“

Ding? Abtreiben? Meine Mutter, die bereits neun Geburten hinter sich hatte, wusste ohne jeden Zweifel, dass sie ein gesundes Kind in sich trug. Sie sagte: „Meinem Kind fehlt nichts und ich erlaube nicht, dass Sie es abtreiben!“

„Madame, ich helfe jeden Tag bei Entbindungen und ich sage Ihnen: Dies ist kein Kind, sondern irgendein Gewächs!“

Meiner Mutter rann der Schweiß übers Gesicht. Der Schmerz der Wehen war fast unerträglich, aber sie war nicht bereit, dem Drängen der Hebamme nachzugeben. Sie hatte fast keine Kraft mehr und mein Vater durfte nicht bei ihr sein; dies war ein Kampf, den Mama ganz alleine durchfechten musste.

„Wenn es ein Kind ist, liegt es fast mit Sicherheit verkehrt herum“, fuhr die Hebamme fort. „Es wird die Geburt nicht überleben, und wenn wir nicht bald handeln, müssen Sie sterben.“

„Holen Sie jemand anderes“, keuchte meine Mutter. „Sie werden mein Kind nicht töten!“

Die beiden Schwestern sahen sich vielsagend an und gingen, um eine jüdische Ärztin und Hebamme zu holen, die im ganzen Land für ihre Kunst bekannt war. Sollte das Krankenhaus doch der die Schuld in die Schuhe schieben, falls meine Mutter starb … Mein Vater war immerhin Rechtsanwalt und eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt.

Die Ärztin kam und untersuchte meine Mutter und schon war der Fall klar: Ich lag mit dem Kopf nach oben und nicht, wie eigentlich notwendig, nach unten im Geburtskanal. Doch schlimmer noch: Ich steckte fest und konnte gar nicht herauskommen. Kein Wunder, dass es die schlimmsten Wehen waren, die meine Mutter je erlebt hatte.

Die jüdische Ärztin erkannte den Ernst der Lage sofort. Sie sagte: „Wenn wir Mutter und Kind retten wollen, müssen wir sofort einen Kaiserschnitt machen.“ Meine Mutter, die immer noch glaubte, dass man mich umbringen wollte, protestierte, aber man verabreichte ihr eine Narkose, und wenige Minuten später, um 15 Uhr an diesem Sonntagnachmittag, holten sie mich heraus.

Sofort begann ich zu schreien. Ich war eindeutig ein Mensch und kein Gewächs, und es war zu spät, um mich zu töten. Ich bin überzeugt, dass Gott selbst mich damals gerettet hat und dass er etwas mit mir vorhatte. Mein Überleben verdanke ich der Kompetenz einer jüdischen Ärztin in einem kommunistischen Krankenhaus, das von Muslimen geführt wurde.

Während meine Mutter sich noch von der Operation und der Narkose erholte, holte man meinen Vater. Er war der Erste, der mich im Arm halten konnte.

Als Mama aufwachte, waren ihre ersten Worte: „Ibraheem! Wo ist mein Kind? Wie geht es ihm?“

Man legte mich in ihre Arme. Sie weinte vor Freude, als sie sah, dass ich lebte. „Mein Wunderkind“, murmelte sie.

In meiner Kultur gibt es ein großes Trara im Krankenhaus, wenn ein Sohn zur Welt gekommen ist. Ärzte und Schwestern kommen, um der Mutter zu gratulieren; Verwandte bringen Geldgeschenke und Kuchen. So war es bei mir nicht; die Einzigen, die sich freuten, waren meine Eltern. Für die anderen waren sie eher bemitleidenswert, denn Mädchen hatten sie ja mehr als genug. Doch mein Vater und meine Mutter betrachteten mich voller Liebe. Mama hat mir später erzählt, dass ihr die Tränen kamen, als sie mein Gesicht betrachtete und erkannte, wie nah sie daran gewesen waren, mich zu verlieren.

Als ich geboren wurde, war sie 37 Jahre alt. Sie musste acht Tage im Krankenhaus bleiben, bis sie sich vom Kaiserschnitt und der schweren Geburt erholt hatte. Als die Nachricht kam, dass ihr neues Schwesterchen endlich nach Hause kam, waren meine Schwestern begeistert.

Meine älteste Schwester Mubarak war neun Jahre alt. Sie war so aufgeregt, dass sie zu allen Nachbarn rannte und Freudentänze aufführte: „Mama hat ein wunderschönes Mädchen gekriegt und heute kommen sie nach Hause!“

Meine Brüder Suleyman und Musa spielten draußen Fußball, als sie zu ihnen kam. Sie gaben sich unbeeindruckt. „Noch ’n Mädchen“, murmelten sie.

Doch schon bald wurde ich der Liebling aller meiner Geschwister. Für sie und ihre Freunde war ich wie eine lebendige Puppe. Vielleicht lag es auch an meinem schwierigen Start in die Welt, dass sie mich umso mehr liebten. Nur bei zwei von seinen Kindern bestand mein Vater darauf, ihnen selbst den Namen zu geben: bei seinem ersten Sohn, Daniyal, und bei mir, seiner letzten Tochter.

Er nannte mich Mariam, was „Liebe“ bedeutet.

Für meine Mutter war ich immer ihr „Wunderkind“.

3

ALS MUSLIMIN GEBOREN

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Ich wuchs in zwei Kulturen auf, der des Nahen Ostens und der des Westens. Mein Heimatland hatte durch den Einfluss des modernen Industriezeitalters manche westlichen Züge angenommen, und in unserem Viertel gab es Juden und orthodoxe Christen, aber die allermeisten Menschen in meinem Land waren sozusagen als Muslime geboren, was bedeutete, dass sie buchstäblich bis zu ihrem Tod dem Islam und Koran treu zu bleiben hatten. Im Koran steht, dass ein Muslim, der zu einer anderen Religion konvertiert, den Tod verdient hat. Schon als kleines Kind wusste ich: Als Muslimin war ich geboren und als Muslimin würde ich sterben.

Die sunnitischen wie die schiitischen Frauen waren verschleiert, doch das Gesicht durfte frei bleiben. Auf dem Land trugen viele Frauen den traditionellen blauen, schwarzen oder weißen Schleier, in der Stadt eher die bunt bestickten traditionellen langärmeligen, knöchellangen Kleider.

Wir hatten ein typisch nahöstliches Zuhause. Zum Essen saßen wir auf länglichen Kissen auf dem Fußboden und aßen mit der rechten Hand – derselben Hand, die wir auch zum Begrüßen von Gästen benutzten. Niemals benutzten wir zum Essen oder Begrüßen die linke Hand, denn die war zum Reinigen des Körpers (zum Beispiel beim Gang zur Toilette) da und galt daher als unrein. Unser Tisch war immer reichlich gedeckt, mit Lamm-Kebab, Pita- Brot, diversen Gemüsen, Tabouleh (Bulgursalat) und Suppen; zum Nachtisch gab es Tee, Baklavas, frisches Obst und Dörrobst. Wir waren sehr familienbewusst und aßen alle unsere Mahlzeiten zusammen, unter viel Gespräch und Lachen. Unsere Tischgespräche konnten stundenlang dauern und reichten von politischen Themen bis zu Schule und Sport.

Als Nesthäkchen wurde ich reichlich verwöhnt. Für meine Geschwister war ich der Schatz der Familie.

Ich hatte eine sehr geborgene Kindheit. Zwar vermisste ich meine fünf älteren Schwestern, als sie jeden Tag zur Schule gehen mussten, aber dafür konnte ich mit gleichaltrigen Freundinnen aus unserem Mietshaus spielen. Wir kamen aus muslimischen, jüdischen und christlichen Familien, aber das machte uns nichts. Die religiösen und politischen Trennungen zwischen den Erwachsenen waren mir ein Buch mit sieben Siegeln.

Meine beste Freundin war meine Schwester Adila. Wenn sie in der Schule war, war meine Lieblingsspielkameradin ein Lockenkopf namens Gamila („Schön“). Gamila gehörte zur sunnitischen Familie in der Nachbarwohnung. In den langen, kalten Wintermonaten, wenn der Wind von den Bergen herabfegte, tollten wir draußen im Schnee oder spielten in unserer oder in Gamilas Wohnung. Tagsüber waren die Wohnungstüren nicht verschlossen und oft rannten wir kichernd und schwätzend von einer Wohnung in die andere.

Gamilas Mutter war die Freundin meiner Mama. Sie war eine vollschlanke, riesig nette Frau, die gerne kochte und dabei im Radio Volksmusik unseres Landes hörte. Gamila und ich durften ihr helfen, wenn sie die großen Mahlzeiten für die Familie richtete, sodass ich schon als Kind eine Expertin im Brotbacken und Kochen meiner Lieblingsspeisen wurde.

Meine Mutter brachte uns unsere Schrift bei und wie man Geschichten las und führte uns in die Anfangsgründe der englischen Sprache ein.

In der Schule

Als ich endlich alt genug für die Grundschule war, war ich ganz aufgeregt. Ich probierte die europäisch geschnittene schwarzweiße Schuluniform an, die meine Schwestern in ihren ersten Schuljahren getragen hatte. Mama musterte mich und sagte dann: „Du bist die Letzte und ich glaube, du hast genug Sachen von deinen Schwestern aufgetragen. Komm, Mariam, wir fahren in die Stadt, einkaufen.“

Noch am gleichen Tag kaufte sie zusammen mit mir eine nagelneue Schuluniform. Wir stiegen in den Bus. Ich durfte am Fenster sitzen, aber anstatt hinauszuschauen, sah ich meine Mutter an. Sie war so schön. Ein bunt besticktes Kopftuch rahmte ihr ovales Gesicht mit dem dichten, dunklen Haar ein. Ihre Augen strahlten vor Freude, als sie meine Hand nahm.

Die Welt war in Ordnung, als wir in dem voll besetzten Bus durch die friedlichen Straßen fuhren. Ich kam mir vor, als wäre ich das einzige Kind meiner Mutter. Während wir ausstiegen, lächelte Mama mich an und sagte: „Jetzt bist du ein großes Mädchen, das seine erste Schuluniform kriegt. Was meinst du, Mariam – was möchtest du mal sein, wenn du groß bist?“

Ich drückte ihre Hand. „Ich möchte so sein wie du, Mama. Ich möchte alles lernen und Englisch sprechen können und eine Lehrerin sein, wie du.“

Sie erwiderte lachend und auf Englisch: „Danke.“

„Keine Ursache“, antwortete ich, ebenfalls auf Englisch.

Sie lachte wieder und ich wusste: Ich hatte ihr gerade eine Freude gemacht. Das war mein großes Ziel im Leben: bei allem, was ich tat, meiner Mutter, meinem Vater und meiner Oma Freude machen.

Meine Mutter träumte manchmal davon, nach England oder in die USA zu reisen. Ich sagte dann immer: „Das wäre fantastisch, Mama! Bitte nimm mich mit, dann können wir zusammen unser Englisch üben.“ Meinem Vater sagte ich gerne, dass ich Rechtsanwältin werden wollte, wie er. Meine Großmutter wollte, dass ich Ärztin wurde. Etliche meiner Verwandten waren Ärzte oder Rechtsanwälte oder studierten in der Richtung. Durch meine Eltern wusste ich, dass der Weg zur Erfüllung meiner Träume Bildung hieß.

Mein erster Schultag war also da. Meine Mutter bürstete mir das Haar und band es zusammen. Mubarak, meine älteste Schwester, half ihr. Dann musste ich mich zur Begutachtung neben meine fünf Schwestern stellen. Wir standen da wie die Orgelpfeifen. Mama legte bewundernd den Kopf zur Seite. „Schööön …“

Papa verschränkte die Arme. „Sechs Mädchen. Das ist die halbe Miete für meine private Frauenfußballmannschaft.“ Er legte uns seine großen Hände segnend auf die Köpfe. „Mariam, du wirst die Mittelstürmerin. Verstehst du, was ich meine?“

„Meinst du, ich soll immer ganz schnell rennen?“ Ich war voller Energie und eine große Läuferin. Wo ich ging, rannte ich. Wenn ich morgens nach dem Familienfrühstück aus dem Haus lief, hörte ich immer, wie meine Mutter mir hinterherrief: „Nicht rennen, Mariam, nicht rennen!“

Mein Vater lachte dröhnend. „So ähnlich.“ Er sah Adila an. „Adila, kannst du Mariam das erklären?“

Adila war nur ein Jahr älter als ich, aber sie genoss es, „die Große“ zu sein. „Der Mittelstürmer schießt die Tore. Papa meint, dass du alles, was du machst, so tun sollst, dass du gut spielst und gewinnst. Du sollst für die ganze Mannschaft das Siegestor schießen.“

„Das ist richtig“, meinte Papa. „Versuch dein Allerbestes.“

„Das mach ich, Papa“, erwiderte ich. „Ehrenwort.“

Mein Vater nannte mich immer seine Prinzessin. Er glaubte an mich und unterließ nichts, um mir Mut zu machen. Er und meine Mutter schärften mir ein: Wovon auch immer ich träumte, ich würde es verwirklichen können.