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Conny Schramm

Mein ungebügeltes Leben

Wer mehr über die Autorin erfahren möchte:
connyschrammblog.wordpress.com/

© Brunnen Verlag Gießen 2016

Umschlagfoto: shutterstock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-4302-9

ISBN E-Book 978-3-7655-7461-0

Für meine Eltern und für Dietlind.

Danke für alles.

Die Dankbarkeit verwandelt die Qual
der Erinnerung in eine stille Freude.

Dietrich Bonhoeffer

Inhalt

Vorwort

1. Drei Kilometer

2. Gute Freunde

3. Endlich groß!

4. Rote Schuhe

5. Timurhelfer

6. Der Stern

7. Überraschung für den Herrn Pfarrer

8. Ein unvergesslicher Tag

9. Außenseiterin

10. Neue Freunde

11. Henry

12. Zweifelhafte Politik

13. Prüfungen

14. Quälende Entscheidung

15. Verschwunden

16. Zivilverteidigung

17. Bedrückende Gewissheit

18. Kurioses im real existierenden Sozialismus

19. Unerwartete Begegnung

20. Mein kleiner Freund Benny

21. Die Braut des Soldaten

22. Bewegende Zeiten

23. Zerrissen

24. Das Wiedersehen

25. Der 9. November 1989

26. Begrüßungshunni

Nachwort

Dank

Vorwort

„Ich komme aus Berlin.“ Kaum habe ich diesen Satz ausgesprochen, werde ich, auch fünfundzwanzig Jahre nach der Grenzöffnung, häufig gefragt, von welcher Seite Berlins. Mit einem Lächeln im Gesicht erkläre ich dann: „Ich komme aus Ostberlin.“ Dabei ernte ich betroffene Blicke, ähnlich, als hätte ich gesagt, ich käme aus den Slums von Nairobi.

Ich nehme regelmäßig an einer Schreibwerkstatt teil. Als ich dort einmal eine Anekdote aus meiner DDR-Zeit vorlas, hörte ich den Kommentar: „Ich wusste überhaupt nicht, dass man im Osten auch lachen konnte. Ich dachte, da wäre alles nur trist und grau gewesen!“

Da dachte ich: Es wird höchste Zeit, mein Buch zu schreiben. Ich will meine Geschichte erzählen. Mir ist bewusst, dass bereits viele ostdeutsche Biografien erschienen sind. Doch jedes Schicksal ist anders. In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte, erst aus der Sicht eines fünfjährigen Mädchens, später aus der eines Teenies und schließlich aus der Sicht einer jungen Frau, die in der Nähe zur Westberliner Grenze aufwächst.

Ich lebte als christlich erzogenes Kind im Sozialismus. Mit zunehmendem Alter geriet ich nicht nur in Interessenkonflikte zwischen meinem Glauben und dem in der Schule vermittelten sozialistischen Gedankengut, sondern entwickelte mich auch zu einer Regimegegnerin.

Ich hoffe, dass ich mit meinem Buch Verständnis für Menschen wecken kann, die Gleiches oder Ähnliches erlebt haben. Ich möchte mit dazu beitragen, dass die Mauer in den Köpfen endlich verschwindet, und Brücken bauen zwischen Ost und West.

Conny Schramm

1. Drei Kilometer

Im September 1965 erblickte ich in Potsdam unweit der Grenze zu Westberlin das Licht der Welt. Wie sich später herausstellen sollte, wurde ich genau drei Kilometer zu weit westlich geboren. Drei Kilometer, die mein Leben nachhaltig beeinflussen sollten, denn ich musste in einem sozialistischen Staat aufwachsen.

Doch erst einmal schrie ich der Menschheit ein lautes „Ich bin da!“ entgegen. Im Umkreis von fünfhundert Metern konnte niemand meine Ankunft ignorieren. Wenn man den Erzählungen meiner Mutter glauben darf, hörte mein stolzer Vater mich sogar dann schreien, wenn ich ausnahmsweise einmal friedlich schlief. Nach kürzester Zeit lagen bei unserem Familienoberhaupt die Nerven blank. Meine Mutter dagegen war deutlich gelassener.

Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt die Geburt meiner Schwester Kathrin am 28. April 1971. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Morgens ging ich in den Kindergarten, denn meine Eltern waren beide berufstätig. Unsere Kindergärtnerin Martina erzählte uns gerade eine Geschichte, als es an der Tür klopfte. Im Türrahmen stand die Chefin des Kindergartens und bat mich, in ihr Büro zu kommen. Ich war irritiert, denn noch nie zuvor war ein Kind von der Leiterin aus dem Gruppenraum geholt worden.

Doch ich staunte noch mehr, als sie sagte: „Dein Papa ist am Telefon und möchte dir etwas Schönes erzählen!“ Misstrauisch starrte ich sie an. Noch nie im Leben hatte ich telefoniert. Ich besaß zwar ein orangefarbenes Spiel­telefon aus Plastik, doch richtig telefonieren konnte man damit nicht. In der DDR hatten lange Zeit fast nur Behörden und Institutionen einen Fernsprechapparat. Wen wundert es da, dass ich erst einmal dazu ermutigt werden musste, mit diesem geheimnisvollen Ding zu reden? Doch dann erkannte ich Papas Stimme. Freudig erzählte er mir von der Geburt meiner kleinen Schwester Kathrin. Ich war voller Begeisterung, denn ich hatte mir schon lange eine Schwester gewünscht.

Oma Hertha holte mich mittags vom Kindergarten ab. Ich rannte ihr entgegen: „Omi, ich habe richtig telefoniert und meine Schwester wurde geboren!“ Vor Aufregung stand mein Plappermäulchen nicht mehr still.

Meine Großmutter schüttelte nur ungläubig den Kopf und murmelte: „Die Kleine hat zu viel Fantasie.“ Sie konnte kaum mit mir Schritt halten, denn jetzt rannte ich nach Hause und erzählte allen Kindern und Nachbarn, dass wir ein Baby bekommen hatten.

Am Abend bestätigte mein Vater meinen Bericht. Leider durften Kinder damals nicht mit ins Krankenhaus und die Zeit, bis Mama und Kathrin nach Hause kommen würden, erschien mir unendlich lang.

Zu diesem Zeitpunkt lebten wir in Wilhelmshorst, einem kleinen Ort in der Nähe von Potsdam. Die Straße hieß Irisgrund. Wir wohnten zusammen mit einer anderen Familie in einem Mietshaus. Das Haus war von einem Garten umgeben, in dem man herrlich spielen konnte.

Zu der Familie, die über uns lebte, gehörten die Zwillinge Sabine und Andreas. Sie waren nur ein Jahr älter als ich. Das Beste war, dass sich die drei Kinderzimmer, die der Zwillinge und mein eigenes, im ausgebauten Dachgeschoss befanden. So konnten wir uns abends heimlich ins Zimmer der anderen Kinder schleichen, uns Gruselgeschichten erzählen und Streiche aushecken. Manchmal hatte ich nach diesen Geschichten auch Angst und versteckte mich unter meiner Bettdecke.

Meine Eltern fanden dieses Arrangement recht ungünstig, aber in unserer Wohnung war kaum Platz. Die Zwillinge waren lustig und hatten viele abenteuerliche Ideen. Ich genoss die Zeit mit ihnen.

2. Gute Freunde

In der DDR gab es zu der Zeit einen gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschutz von drei Monaten. So blieb meine Mutter mit dem Baby zwölf Wochen zu Hause. Als meine Schwester drei Monate alt war, kam sie in die Kinderkrippe. Sie war nur fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt.

Ich dagegen ging weiter in den Kindergarten. Dort lernte ich viel Interessantes, aber auch, wie man einen Panzer malt. Wir erfuhren, dass es besonders gut war, wenn der Vater Soldat war und uns beschützte und gegen den Klassenfeind kämpfte. Ich war fünf Jahre alt und hatte nur eine sehr diffuse Vorstellung von einem Klassenfeind. Man brachte uns auch bei, dass es lebensnotwendig sei, unser Volkseigentum zu verteidigen – notfalls mit der Waffe.

Mein Vater war kein Soldat. Er arbeitete in der Orthopädie und baute für Menschen, die bei einem Unfall ihren Arm oder ihr Bein verloren hatten, ein neues, künstliches Bein. So half er ihnen, wieder laufen zu können. Ich fand, das war eine bedeutsame Aufgabe. Meine Mutter war Krankenschwester bei der DEFA, dem DDR-Filmstudio. Dort musste sie häufig berühmte Schauspieler verarzten. Sie erzählte mir von Gojko Mitić, dem „DDR-Winnetou“, und von Manfred Krug.

Im Kindergarten lernten wir ein Lied über unsere tapferen Soldaten. Darin heißt es:

Gute Freunde

Soldaten sind vorbeimarschiert
Im gleichen Schritt und Tritt.
Wir Pioniere kennen sie
Und laufen fröhlich mit.
Gute Freunde, gute Freunde,
Gute Freunde in der Volksarmee.

Sie schützen unsre Heimat
Zu Land, zur Luft und auf der See …
Der Flügelmann im ersten Glied
Mit Stahlhelm und MPi,
Als Melker der Genossenschaft
Betreute er das Vieh.
Gute Freunde, gute Freunde,
Gute Freunde in der Volksarmee.

Text: Hans-Georg Beyer*

Jedes Jahr am 1. März feierten wir den Tag der Nationalen Volksarmee. Alle staatlichen Gebäude wurden dann mit der DDR-Fahne oder mit der Arbeiterfahne geschmückt. Unser Kindergarten war natürlich auch beflaggt. Wir hörten, dass es wichtig sei, aus Solidarität mit den tapferen Helden auch zu Hause die Fenster mit Fahnen zu schmücken. Ich wusste zwar nicht genau, was Solidarität war, doch ich bedrängte meine Eltern so lange, bis jedes unserer Fenster eine Wimpelkette mit der DDR-Fahne trug. Aus meinem Fenster wehte eine besonders große Fahne – die hatte ich im Kindergarten gemalt und stolz nach Hause getragen.

Auch am 1. Mai, dem Tag der Arbeiterklasse, und am 7. Oktober, dem Tag der Republik, mussten meine Eltern Fahnen ins Fenster hängen.

Mein Vater und meine Mutter waren gläubige Christen und geprägt von der strengen Erziehung meiner Groß­eltern. Mein Großvater war Prediger der Landeskirch­lichen Gemeinschaft. Meine Eltern arbeiteten ehrenamtlich in der evangelischen Gemeinde unseres Ortes mit. Ihnen war unsere „so schön geschmückte Wohnung“ peinlich. Sie hofften aus tiefstem Herzen, dass kein Gemeindemitglied unsere beflaggten Fenster sah, denn Leute, die ihre Flaggen heraushängten, galten als „systemtreu und kommunistisch“. In so einem kleinen Ort allerdings war der Flaggenschmuck nicht zu übersehen. Noch Jahre später erzählten meine Eltern von der peinlichen Situation.


* Textauszug, ©Friedrich Hofmeister Musikverlag GmbH, Leipzig

3. Endlich groß!

„Hurra, ich bin ein Schulkind und nicht mehr klein …“ So hieß es in einem Lied, das wir von Martina in der Kindergartengruppe lernten. Bei diesem Lied traf leider nur der erste Teil des Liedes auf mich zu, denn ich war fast sieben Jahre alt und konnte es kaum erwarten, endlich zur Schule zu gehen. Allerdings war ich die Kleinste aus meiner Kindergartengruppe, die eingeschult werden sollte. Bei der Schuluntersuchung begrüßte mich die nette Ärztin: „Hallo, was kommt denn hier für ein Pünktchen an?“ Offensichtlich hatte ich nicht die tabellarisch festgelegte Normgröße und auch nicht das nötige Gewicht. Zum Glück stellte man schnell fest, dass ich pfiffig genug war, um die Schule zu besuchen. Man kann sich meine Erleichterung kaum vorstellen.

Meiner Einschulung stand nur noch ein bedeutendes Hindernis im Weg. Ich hatte meinen Eltern erklärt, dass ich nicht ohne Zöpfe in die Schule gehen würde. Unglücklicherweise hatte ich zu diesem Zeitpunkt recht kurze Haare und wurde, sehr zu meinem Ärger, häufig für einen kleinen Jungen gehalten. Meine Mutti vollbrachte ein wahres Wunder, indem sie es irgendwie schaffte, zwei Zopfgummis in meinem Haar zu befestigen. Wie zwei dünne, drei Zentimeter lange Rasierpinselborsten standen die Zöpfe von meinem Kopf ab. Erhobenen Hauptes schritt ich an der Hand meiner Eltern der Schule entgegen. Hinderlich erwiesen sich nur der schwere Ranzen und meine Schultüte, denn sie war mit Süßigkeiten gefüllt und fast so groß wie ich. Um pünktlich in der Schule einzutreffen, übernahmen meine Eltern das Tragen der gewichtigen Gegenstände. Aufgeregt rannte ich hin und her, bis wir endlich am Schulgebäude ankamen. Dort hatten sich schon viele Familien mit ihren ABC-Schützen versammelt und es ging zu wie in einem Ameisenhaufen.

Plötzlich ertönte ein lautes Geschrei und heftiges Weinen. Neugierig sahen wir uns nach der Ursache des Lärms um. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren wurde von vier Erwachsenen geschoben, getragen und zur Schule gezerrt. Es wehrte sich mit ganzer Kraft und schrie immer wieder: „Ich will nicht in die Schule.“ Ich konnte das Theater überhaupt nicht verstehen, denn ich wollte unbedingt eingeschult werden.