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Cornelia Haverkamp (Hrsg.)

Das
Weihnachtskamel

und andere Geschichten

© 2016 Brunnen Verlag Gießen

Lektorat: Eva-Maria Busch

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Illustrationen: shutterstock

Satz: DTP Brunnen

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Buch 978-3-7655-0963-6

ISBN E-Book 978-3-7655-7462-7

Inhalt

Bettina Poock

Es begab sich aber zu der Zeit …

Ursula Berg

Graffiti-Weihnacht

Jeder von uns

Ilse Ammann-Gebhardt

„Merry Christmas, Freunde!“

Christoph Maas

Leben in der Krippe

Ursula Koch

Unterwegs

Gottfried Zurbrügg

Der unerwartete Weihnachtsgast

Hinrich C. G. Westphal

Mein vierter König

Mannfred Schmidt

Der schönste Baum

Ingeborg Reinhold

O Bethlehem, du kleine Stadt …

Elke Ottensmann

Die fliegende Weihnachtsgans

Gottfried Zurbrügg

Das Weihnachtskamel

Bettina Poock

Es begab sich aber zu der Zeit …

Eine feuchte, raue Zunge schleckte über seinen Handrücken …

Nur mühsam schaffte es Richard, zu sich zu kommen und ein Augenlid einen Spaltbreit zu öffnen. In der nächsten Sekunde schoss er hoch und saß kerzengerade da. „Heiliger Bimbam!“, murmelte er fassungslos.

Das Schaf, das gerade eben den Geschmack seiner Hand getestet hatte, blickte ihn erstaunt an.

„Wo kommst du denn her?“, fragte er verstört das Tier. Vermutlich hätte es ihn gern das Gleiche gefragt, wenn es nur gekonnt hätte.

Richard sprang auf und schaute sich um. Er stand inmitten einer beachtlichen Schafherde, die im milden Dämmerlicht vor sich hin döste.

„Das glaub ich einfach nicht!“ Aufgewühlt drehte Richard sich einmal um die eigene Achse. „Das kann nicht wahr sein!“, rief er vor Aufregung so laut, dass die Männer, die einen guten Steinwurf entfernt beieinanderstanden, zu ihm herüberschauten. Sie trugen einfache orientalische Gewänder und waren offenbar die Hirten der vierbeinigen Wollproduzenten.

Richard beachtete sie nicht. Stattdessen versuchte er fieberhaft, sich zu erinnern, was da eben geschehen war. Gerade hatte er noch mit Volker, seinem alten Schulfreund, zusammengesessen. Sie hatten sich, wie jedes Jahr, am Abend des dreiundzwanzigsten Dezember getroffen, um gemeinsam Stollen, Dominosteine und Bratäpfel zu futtern, die sie mit dem einen oder anderen Glas Punsch hinunterspülten. Weihnachtliches Vorglühen nannten sie das.

Volker war eigentlich ein netter Kerl. Er war Ingenieur von Beruf, bezeichnete sich aber gerne als Erfinder und liebte es, mit seinen neuesten Ideen anzugeben. So auch an diesem Abend.

Normalerweise hörte Richard ihm dabei immer geduldig zu – doch diesmal hatte er ihn ausgelacht. Zu viel Punsch, eindeutig, hatte er vermutet. Wie hätte er das auch ernst nehmen können, als Volker anfing, von einer Zeit­maschine zu faseln? Am Abend vor Weihnachten war es dann wohl gar nicht so abwegig, auf die Frage „Und – in welche Epoche soll ich dich schicken?“ kichernd zu antworten: „Och, ich würde gerne mal die echte ­Weihnachtskrippe sehen.“

Jetzt war Richard das Kichern vergangen.

Obwohl es offenbar mitten in der Nacht war, kam es ihm nicht so finster vor, wie man es wohl erwarten konnte in einer Zeit, in der es noch keine Straßenlaternen gab. Richard schaute zum Himmel hinauf und spürte, wie sein Mund vor Staunen aufklappte. Der Stern! Dort oben sah er den Stern von Bethlehem! Eindrucksvoll hell und fast direkt über ihm.

„Er ist wundervoll, nicht wahr?“

Richard zuckte zusammen und schaute den fremden Mann an, der unbemerkt zu ihm herübergekommen war und ihn angesprochen hatte. Er war schon älter, trug einen Vollbart und stützte sich auf seinen Hirtenstab. Auch er blickte fasziniert zu dem strahlenden Licht hinauf. Dann sah er Richard forschend an. „Du siehst so aus, als hätte der Stern dich aus einem sehr fremden Land hierhergelockt.“

„S-so ähnlich …“, stammelte er.

„Ich bin ihm auch gefolgt. So wie die meisten von uns.“

Richard sah sich aufmerksam um. Nun fiel ihm erst auf, dass da Gruppen von Männern standen, jüngere und ältere. Und immer noch kamen neue hinzu. Alle schienen Hirten zu sein. Sie standen da und warteten, aufgeregt und doch in heiliger Ehrfurcht.

„Dort, hinter dem Stall da vorne, muss das Haus des neugeborenen Königs liegen. Siehst du? Der Stern steht direkt darüber.“

„Nein“, antwortete Richard mit klopfendem Herzen, „er ist nicht irgendwo hinter dem Stall, sondern in dem Stall zur Welt gekommen.“

„Was? Der König? Der von den Propheten angekündigte Fürst, der das Volk des Allmächtigen erlösen wird, soll in einem Stall geboren worden sein?“ Der Mann lachte, wurde jedoch schnell wieder ernst, als Richard nickte. Verstört trat der Hirte einen Schritt zurück.

„Was erzählst du da?!“

„Die Wahrheit. Komm mit, wir gehen hin und sehen ihn uns an.“

Der alte Mann wich noch einen Schritt zurück. „Du willst einfach so zu einem König gehen und ihn dir ansehen? So wie man in einen Stall geht, um sich ein neugeborenes Lamm anzusehen?“

„Ja. Das ist sogar ein guter Vergleich“, entgegnete Richard unbekümmert.

„Du machst dich lustig über mich! Über mein Volk! Über das, was hier gerade geschieht!“

Beschwichtigend hob Richard die Hände. „Aber nein, das würde ich niemals tun! Hör doch: Dieses Kind, das heute Nacht geboren wurde, ist ein König. Aber kein gewöhnlicher König. Er liebt die Menschen von ganzem Herzen. Wir dürfen es also nicht nur wagen, zu ihm zu kommen, sondern sind sogar herzlich willkommen, wenn wir ihn aufsuchen. Denn deswegen ist er ja auf die Erde gekommen: um uns so nah sein zu können, wie es nur irgend geht.“

„Vielleicht weißt du es nicht, Fremder, aber ich bin ein Hirte. Ich bin ein Unwürdiger!“

„Aber genau deswegen ist er doch in einem Stall geboren worden. Damit auch du dich dort hineintraust und ihn kennenlernst. Komm, lass uns gehen.“

Der Alte wich weiter zurück und schüttelte den Kopf.

Richard begriff, dass man ihn offenbar für geisteskrank hielt. „Wenn du mir schon nicht glaubst, dann tu mir den Gefallen und hör wenigstens auf die Engel, wenn sie gleich hier erscheinen.“

Angsterfüllt drehte sich der Hirte um und rannte, so schnell er konnte, zurück zu seinen Kollegen.

Richard seufzte. Er hatte mal wieder nicht die richtigen Worte gefunden. Kurz schaute er hinauf zum Himmel. Der Stern stand unvermindert still am Himmel und beschien den ärm­lichen Stall. Mit zitternden Knien machte er sich auf den Weg.

Er war noch gar nicht weit gegangen, als er etwas erstaunt feststellte. Wäre es nicht normal gewesen, immer nervöser zu werden, je näher er dem Stall kam? Doch genau das Gegenteil geschah. Als Richard schließlich vor der Eingangstür stand, waren seine Knie fest geworden, sein Herz schlug ruhig und er fühlte sich so leicht und frei von allem Kummer wie noch nie in seinem ganzen Leben.

Hinter sich hörte er eine dröhnende Stimme: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude …“ Er drehte sich um.

„Wow!“, entfuhr es ihm. Die Engel waren da. Es war beeindruckend. Zum ersten Mal verstand Richard, was die Bezeichnung ‚Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie‘ wirklich bedeutete. Sie würden es besser hinkriegen als er, die Hirten zu Jesus zu bringen.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht wandte er sich wieder der Stalltür zu und atmete noch einmal tief durch. Ich werde Jesus sehen!

Eine feuchte, raue Zunge schleckte über seinen Handrücken.

Richard brummte irritiert.

Erneut spürte er die feuchte Zunge.

„Schatz“, nuschelte eine schläfrige Stimme neben ihm. „Der Hund muss raus. Du bist heute dran.“

Richard öffnete kurz die Augen und hob den Kopf, um sich zu orientieren. Kraftlos und frustriert ließ er ihn wieder ins Kissen zurückfallen. Mist! Warum habe ich die Tür nicht schneller geöffnet? Ich hätte so gerne Jesus gesehen. Und wenn auch nur im Traum.

Wie aus der Ferne hörte er eine Stimme, die sich so anhörte wie die des Engels: „Dafür hast du seine Nähe gespürt, und das war kein Traum.“

„Scha-ha-tz!“

Richard zuckte zusammen. Er war fast wieder eingeschlafen. „Ich gehe ja schon“, seufzte er, beugte sich kurz hinüber zu seiner Frau, gab ihr einen Kuss auf die Wange und schlurfte dann, gefolgt von den erwartungsvollen Blicken seines Hundes, ins Bad. Erst mal gründlich die Hand vom Hundesabber befreien, überlegte er. Nachher dann noch Volker anrufen und fragen, was ich morgen zum Vorglühen mitbringen kann. Und eine Idee für die Heiligabendpredigt habe ich jetzt endlich auch.

Er stutzte. Unfassbar, wie schnell der Alltag wieder da war. Noch einmal vergegenwärtigte er sich seinen Traum. Ich habe seine Nähe gespürt!

Leise murmelte er: „Was für ein Geschenk!“