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Timothy Keller

BETEN

Dem heiligen Gott
nahekommen

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Prayer: Experiencing Awe and Intimacy with God
© 2014 by Timothy Keller
Published by Dutton, a member of Penguin Group (USA) Inc.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dr. Friedemann Lux

Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben,
der Lutherbibel, revidierter Text 1984,
durchgesehene Auflage in neuer Rechtschreibung,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Sonst:
ELB: Revidierte Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2006, SCM R. Brockhaus
im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
NGÜ: Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen,
© 2011 Genfer Bibelgesellschaft.
EIN: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980,
Katholische Bibelanstalt Stuttgart.

© 2016 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Umschlagmotiv: shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-7655-7398-9

INHALT

EINLEITUNG: Warum ein Buch über das Beten?

TEIL I
Ich möchte so gerne beten!

Kapitel 1 Warum wir beten müssen

Kapitel 2 Warum Beten so etwas Großes ist

TEIL II
Verstehen, was Beten ist

Kapitel 3 Was ist Beten?

Kapitel 4 Mit Gott reden

Kapitel 5 Gott begegnen

TEIL III
Beten lernen

Kapitel 6 Zwei Briefe über das Beten

Kapitel 7 Regeln für das Gebet

Kapitel 8 Das Gebet aller Gebete

Kapitel 9 Die Prüfsteine des Gebets

TEIL IV
In die Tiefe gehen

Kapitel 10 Beten als Gespräch: über Gottes Wort meditieren

Kapitel 11 Beten als Begegnung mit Gott: sein Angesicht suchen

TEIL V
Fangen wir an!

Kapitel 12 Das Gebet der Ehrfurcht: Gottes Herrlichkeit loben

Kapitel 13 Das Gebet der Nähe: Gottes Gnade finden

Kapitel 14 Der Gebetskampf: Bitte und Fürbitte

Kapitel 15 Das tägliche Gebet

Anhang: Weitere Varianten für die tägliche Andacht

Danke!

Anmerkungen

FÜR DICK KAUFMANN,
FREUND UND BETER

EINLEITUNG

Warum ein Buch
über das Beten?

Vor einigen Jahren merkte ich, dass ich als langjähriger Pastor kein Buch hatte, das ich einem Christen, der sich mit dem Thema Beten befassen und sein Gebetsleben intensivieren wollte, als Einstiegslektüre in die Hand drücken konnte. Was nicht heißt, dass es keine Bücher zu diesem Thema gäbe. Es gibt sogar vorzügliche Bücher. Viele der älteren sind viel, viel tiefschürfender als alles, was ich Ihnen bieten kann. Die besten Bücher über das Gebet sind bereits geschrieben.

Doch viele dieser exzellenten Bücher sind in einer Sprache geschrieben, zu der die meisten heutigen Leser keinen Zugang mehr haben. Zudem sind sie gewöhnlich entweder theologische Abhandlungen oder Andachtsbücher oder praktische Leitfäden, doch nur wenige führen alle diese drei Aspekte zusammen.1 Eine Einführung in das Beten sollte aber alle drei behandeln. Fast alle „Gebetsklassiker“ warnen den Leser zudem ausgiebig vor damals aktuellen spirituellen Praktiken, die sie für nicht hilfreich oder gar schädlich erachten. Dergleichen Warnungen müssen für jede Lesergeneration aktualisiert und neu geschrieben werden.

Beten ist – ja, was?

In der neueren Literatur über das Beten findet man im Wesentlichen zwei „Denkschulen“. Die meisten Autoren betrachten das Gebet vor allem als Mittel, um die Liebe Gottes zu erfahren und Gemeinschaft mit ihm zu erleben und sie verheißen dem konsequenten Beter ein Leben des Friedens und der Ruhe in Gott. Viele von ihnen beschreiben ganz begeistert, wie sie immer wieder die Gegenwart Gottes spüren, die sie wie ein Mantel einhüllt. Doch es gibt auch Bücher, die das Wesen des Gebets nicht im inneren Ruhen in Gott sehen, sondern in der beharrlichen Bitte, sein Reich anbrechen zu lassen. Sie sehen im Gebet eine Art geistlichen Ringkampf, der oft oder sogar meistens ohne die konkrete Erfahrung der Nähe Gottes auskommen muss. Ein Beispiel ist Beten ohne Echo? von Austin Phelps.2 Phelps beginnt mit der Beobachtung, dass das Gefühl, dass Gott fern ist, die Norm für den betenden Christen ist und dass die meisten Menschen sich schwer damit tun, Gottes Gegenwart zu erfahren.

Den gleichen Ansatz verfolgt das Buch The Struggle of Prayer [„Der Kampf des Gebets“] von Donald G. Bloesch. Er kritisiert den von ihm so genannten „christlichen Mystizismus“3 und verneint, dass das Ziel des Betens die persönliche Gemeinschaft mit Gott sei; er findet, dass dergleichen Vorstellungen das Gebet zu einem egoistischen „Selbstzweck“ machen.4 Für Bloesch ist das höchste Ziel des Betens nicht das stille Nachsinnen, sondern das leidenschaftliche Flehen um das Kommen des Reiches Gottes in der Welt und in unserem Leben. Was das Gebet letztlich erstrebt, ist „der Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes und nicht das kontemplative Nachdenken über sein Wesen“5. Beim Beten geht es nicht in erster Linie um das Erreichen eines bestimmten inneren Zustands, sondern um die Bejahung des Willens Gottes.

Wie kommt es zu diesen beiden Sichtweisen – dem, wie wir es nennen könnten, „gemeinschaftsorientierten“ und dem „gottesreichorientierten“ Gebet? Eine Erklärung ist, dass sie beide auf das konkrete Erleben von Betern zurückgehen. Der eine Beter macht die Erfahrung, dass er sich gegenüber Gott gefühlsmäßig schwertut und dass es bereits Schwerarbeit ist, sich mehr als ein paar Minuten lang auf ihn zu konzentrieren. Der andere erlebt regelmäßig Gottes Gegenwart. Dieser Unterschied spielt sicherlich eine Rolle, aber es gibt auch theologische Unterschiede. Bloesch schreibt, dass das mystische Beten mehr mit der katholischen Sicht harmoniert, dass wir die Gnade Gottes direkt durch die Taufe und die Messe erfahren, als mit der protestantischen Position, dass wir durch den Glauben an das im Wort Gottes verheißene Evangelium erlöst werden.6

Welche Sicht vom Gebet ist die bessere? Ist das stille Anbeten oder die leidenschaftliche Bitte die ultimative Gebetsform? Diese Frage geht davon aus, dass wir hier vor einem schroffen „Entweder-oder“ stehen, was eher unwahrscheinlich ist.

Gemeinschaft und Reich Gottes

Um zu einer Antwort zu kommen, sollten wir uns als Erstes die Psalmen anschauen, das von Gottes Geist inspirierte Gebetbuch der Bibel. Hier finden wir reichlich Beispiele für beide Gebetstypen. Es gibt Psalmen (wie Psalm 27, 63, 84, 131 und das „lange Halleluja“ von Psalm 146–150), die die anbetende Gemeinschaft mit Gott thematisieren. In Psalm 27,4 nennt David als sein größtes Gebetsanliegen, „die Freundlichkeit des Herrn zu sehen“ (NGÜ). David hat auch um andere Dinge gebeten, aber nichts ist für ihn besser als das Erfahren der Gegenwart Gottes. Darum kann er sagen: „Gott … Es dürstet meine Seele nach dir … So schaue ich aus nach dir in deinem Heiligtum, wollte gerne sehen deine Macht und Herrlichkeit. Denn deine Güte ist besser als Leben …“ (Psalm 63,2-4). Und er fährt fort: „Deine Nähe sättigt den Hunger meiner Seele wie ein Festmahl …“ (Psalm 63,6 NGÜ). Wenn dies nicht Gemeinschaft mit Gott ist, was dann?

Doch es gibt noch mehr Psalmen, die Klagen und Hilferufe sind, Schreie zu Gott, er möge doch eingreifen und seine Macht erweisen. Wir erleben den einsamen Beter, der sich verzweifelt fragt, wo Gott ist, und für den das Gebet in der Tat zu einem Ringen mit Gott wird. Die Psalmen 10, 13, 39, 42, 43 und 88 sind nur ein paar Beispiele. Psalm 10 beginnt mit der Frage: „Herr, warum stehst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not?“ (Vers 1) und in Vers 12 ruft der Beter aus: „Steh auf, Herr! Gott, erhebe deine Hand! Vergiss die Elenden nicht!“. Doch dann fährt er fort (und man hat den Eindruck, dass er die Worte auch an sich selber richtet): „Du siehst es doch, denn du schaust das Elend und den Jammer; es steht in deinen Händen … du bist der Waisen Helfer“ (Vers 14). Das Gebet endet damit, dass der Psalmist sich in Gottes Weisheit ergibt, die zur rechten Zeit handeln wird, und ihn gleichzeitig anfleht, Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. Dies ist das Ringen des Gebets, das Gottes Reich sucht. Der Psalter kennt also beides: das gemeinschaftsorientierte und das gottesreichorientierte Gebet.

Doch wir sollten uns nicht nur die Gebete in der Bibel anschauen, sondern auch die biblische Gebetstheologie – die Gründe (in Gott und in unserer Geschöpflichkeit), die sie uns dafür nennt, dass Menschen beten können. Sie sagt uns z. B., dass Jesus Christus unser großer Mittler ist, der uns an sich völlig Unwürdigen den Weg zu Gottes Thron öffnet, sodass wir vor ihn treten und ihn um seine Hilfe bitten können (Hebräer 4,14-16; 7,25). Doch nicht nur dies, sondern Gott selber wohnt durch seinen Geist in uns (Römer 8,9-11) und hilft uns zu beten (Römer 8,26-27), sodass wir bereits auf dieser Erde im Glauben die Herrlichkeit Christi anbetend anschauen können (2. Korinther 3,17-18). Die Bibel gibt uns also eine theologische Untermauerung sowohl des gemeinschaftsorientierten als auch des reichgottesorientierten Gebets.

Mit etwas Überlegen erkennen wir, dass diese beiden Arten des Betens weder Gegensätze noch auch nur klar voneinander abgegrenzt sind. In die Gottesanbetung mischt sich immer wieder das Bitten und Flehen. Gott preisen heißt beten: „Geheiligt werde dein Name.“ Es heißt Gott bitten, der Welt seine Herrlichkeit zu zeigen, sodass alle ihn als Gott ehren. Und so wie zur Anbetung immer die Bitte gehört, so muss der Beter, der Gottes Reich sucht, auch Gott selber suchen. Der kleine Westminster Katechismus erklärt, dass der Sinn unseres Lebens darin besteht, „Gott zu verherrlichen und uns ewig an ihm zu freuen“. Dieser berühmte Satz enthält beides: das Gebet um das Reich Gottes und das Gebet als Gemeinschaft mit Gott. Diese beiden Dinge – Gott verherrlichen und sich an ihm freuen – gehen in diesem Leben nicht immer parallel, aber am Ende laufen sie auf ein und dasselbe hinaus. Wenn wir um das Kommen des Reiches Gottes bitten, uns aber nicht mit jeder Faser unseres Wesens an Gott freuen, ehren wir ihn nicht wirklich als unseren Herrn.7

Schauen wir uns schließlich viele der größten älteren Autoren zum Thema „Beten“ an – Namen wie Augustinus, Martin Luther und Johannes Calvin –, so entdecken wir, dass wir sie nicht säuberlich einem der beiden „Lager“ zuordnen können.8 Selbst der bekannte katholische Theologe Hans Urs von Balthasar bemüht sich um Ausgewogenheit in der mystischen, kontemplativen Gebetstradition. Er warnt vor spiritueller Nabelschau: „Das betrachtende Gebet … kann und sollte nicht Selbstbetrachtung sein, sondern … ein ehrfürchtiges Achten und Hören auf … das, was nicht Ich ist, nämlich das Wort Gottes.“9

Durch die Pflicht zur Freude

Was heißt das für uns? Dass wir nicht künstlich trennen sollten zwischen der Suche nach persönlicher Gemeinschaft mit Gott und dem Wunsch, sein Reich in den Herzen der Menschen und in der Welt voranzubringen. Wenn wir diese beiden Dinge zusammenhalten, dann wird unsere Gemeinschaft mit Gott mehr sein als ein bloßes mystisches Gefühl ohne Worte und unsere Bitten an ihn mehr als ein Versuch, Gott mit „leeren Worten“ herumzukriegen (Matthäus 6,7).

In diesem Buch versuche ich zu zeigen, dass Beten beides ist: Gespräch und Begegnung mit Gott. Diese beiden Begriffe geben uns eine Definition des Gebets und gleichzeitig die nötigen Werkzeuge, um unser Gebetsleben zu vertiefen. Die traditionellen Grundformen des Gebets – Anbetung, Bekenntnis, Dank und Bitte – sind konkrete Praktiken und tiefe Erfahrungen. Die ehrfürchtige Scheu, wenn wir Gottes Herrlichkeit rühmen, die Innigkeit des Findens seiner Gnade und der Kampf, wenn wir ihn um seine Hilfe bitten – alle drei müssen wir erfahren, alle drei sind Türen zur spirituellen Realität der Gegenwart Gottes. Beten ist immer beides: Ehrfurcht und Intimität, Kampf und Realität. Wir werden diese Dinge nicht jedes Mal erleben, wenn wir beten, aber alle sollten sie im Laufe unseres Christenlebens zu Grundbestandteilen unseres Gebets werden. J. I. Packer und Carolyn Nystrom haben ein Buch über das Beten geschrieben, dessen Untertitel eine gute Zusammenfassung des gerade Gesagten ist: Beten ist eine Reise, die uns „durch die Pflicht zur Freude“ führt.

TEIL I

Ich möchte so gerne beten!

Kapitel 1
Warum wir beten müssen

„Ohne Beten schaffen wir das nicht!“

Beten lernte ich erst in der zweiten Hälfte meines Erwachsenenlebens. Ich lernte es, weil ich musste.

Im Herbst 1999 hielt ich eine Bibelarbeit über die Psalmen. Ich merkte bald, dass ich nur die Oberfläche von dem ankratzte, was die Bibel uns zum Thema „Beten“ gebietet und verheißt. Dann kamen die dunklen Wochen in New York nach den Anschlägen vom 11. September 2001, als die ganze Stadt, obwohl das Leben weiterging, in einer Art kollektiver Depression versank. In meiner Familie wurden die Wolken noch dunkler durch den Kampf meiner Frau, Kathy, mit ihrem Morbus Crohn. Und dann kam meine Diagnose: Schilddrüsenkrebs.

Irgendwann in diesen Monaten bat meine Frau mich dringend, etwas mit ihr zu machen, zu dessen regelmäßiger Praxis wir uns bisher noch nie hatten aufraffen können. Sie bat mich, jeden Abend mit ihr zu beten. Jeden Abend. Sie benutzte dabei ein Bild, das das, was sie meinte, gut zum Ausdruck brachte. Wenn wir uns recht erinnern, sagte sie etwa Folgendes:

Stell dir vor, dein Arzt macht dir klar, dass du eine Krankheit hast, die so gefährlich ist, dass du nur noch ein paar Stunden zu leben hast, wenn du nicht ein ganz bestimmtes Medikament einnimmst – eine Tablette jeden Abend vor dem Einschlafen. Wenn du sie auch nur ein Mal vergisst, bist du ein toter Mann. Wirst du sie vergessen? Wirst du manchmal sagen: „Nein, nicht heute, heute Abend hab ich keinen Bock“? Nein, du würdest sie kein einziges Mal vergessen, weil du weißt, wie wichtig sie ist. Wenn wir nicht jeden Abend gemeinsam vor Gott treten, schaffen wir’s nicht, mit all unseren Problemen. Also, ich bestimmt nicht. Wir müssen beten, wir können es uns nicht erlauben, es zu vergessen.

War es die Schlagkraft des Vergleichs mit der Tablette, war es einfach der richtige Augenblick, war es der Geist Gottes? Oder (das Wahrscheinlichste) war es der Geist Gottes, der den richtigen Augenblick und den überzeugenden Vergleich benutzte? Bei uns beiden fiel der berühmte Groschen, wir begriffen den Ernst der Lage und wir sahen: Wenn wir es tun mussten, dann konnten wir es auch. Das ist jetzt über zwölf Jahre her und Kathy und ich können uns an keinen Abend erinnern, wo wir nicht zusammen gebetet hätten, und wenn es am Telefon war, weil ich gerade auf Reisen am anderen Ende der Welt war.

Kathys Weckruf und die in mir immer stärker werdende Einsicht, dass ich das mit dem Beten nicht auf die Reihe bekam, waren der Anstoß zu einer Suche. Mein Gebetsleben musste besser werden! Viel besser. Ich fing an, Bücher über das Beten zu lesen und zu experimentieren. Und als ich mich so umschaute, merkte ich rasch, dass ich nicht allein war.

„Kann mir keiner zeigen, wie man betet?“

Flannery O’Connor (1925–1964) war eine bekannte amerikanische Schriftstellerin und tiefgläubige Katholikin. 1946, als sie 21 Jahre alt war und im Iowa Writers’ Workshop kreatives Schreiben studierte, merkte sie, dass sie ihr Gebetsleben vertiefen musste. Sie fing ein handgeschriebenes Gebetstagebuch an, in welchem sie schildert, wie sie versuchte, eine große Schriftstellerin zu werden. „Ich möchte so gerne in der Welt Erfolg haben mit dem, was ich machen möchte … Ich fühle mich so entmutigt … Wer nennt sich schon gerne ‚mittelmäßig‘? … Aber dieses Wort muss ich mir wohl um die Ohren hauen … Bis jetzt habe ich nichts, worauf ich stolz sein könnte. Ich bin gerade so dumm wie die Menschen, über die ich mich lustig mache.“ Dergleichen Sätze findet man in den Tagebüchern von vielen jungen Künstlern, aber O’Connor machte etwas Ungewöhnliches mit diesen Gefühlen: Sie betete sie. Und damit folgte sie einem sehr alten Weg, dem Weg der Psalmisten im Alten Testament, die ihre Gefühle nicht nur identifizierten, benannten und herausließen, sondern mit brutaler Ehrlichkeit vor Gott brachten. Hören wir O’Connor weiter:

Ich bemühe mich, eine Künstlerin zu sein, anstatt an Dich zu denken und von der Liebe inspiriert zu werden, von der ich nur wünschen kann, dass ich sie hätte. Lieber Gott, ich kann Dich nicht so lieben wie ich will. Du bist wie die schmale Sichel eines Mondes, die ich sehe, und mein Ich ist der Schatten der Erde, der es verhindert, dass ich den ganzen Mond sehe … Wovor ich Angst habe, lieber Gott, ist, dass mein Ich-Schatten so groß wird, dass er den ganzen Mond verdeckt und ich mich nach diesem nichtigen Schatten beurteile. Ich kenne Dich nicht, Gott, weil ich im Weg bin.1

O’Connor erkennt hier das, was schon Augustinus in seinem eigenen Gebetstagebuch, den Bekenntnissen, sah: dass ein gelungenes Leben als Christ davon abhängt, was wir zum Liebsten in unserem Leben machen. Den Erfolg mehr zu lieben als Gott und unseren Nächsten macht unser Herz hart und legt eine Hornhaut über unsere Seele – was uns ironischerweise zu schlechteren Künstlern macht. Und weil O’Connor eine außerordentlich begabte Autorin war, die in Gefahr stand, hochmütig zu werden und sich nur noch um sich selber zu drehen, war ihre einzige Hoffnung die permanente Neuausrichtung der Seele im Gebet. „O Gott, bitte mach Du meinen Kopf klar. Bitte mach ihn rein … Bitte hilf mir, mich unter die Dinge zu stellen und Dich zu finden.“2

Sie denkt über die Übung nach, ihre Gebete in dem Tagebuch aufzuschreiben, und erkennt die Probleme mit der Form. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass [so ein Tagebuch] als direktes Gebetsmedium nicht viel taugt. Beten ist nicht halb so planmäßig. Es entspringt aus dem Augenblick und dies hier ist zu langsam für den Augenblick.“3 Dazu kam die Gefahr, dass das, was sie da niederschrieb, eigentlich kein Gebet war, sondern nur ein Dampfablassen. „Ich … will, dass das hier … etwas zur Ehre Gottes ist. Aber es ist wahrscheinlich eher etwas Therapeutisches … wo hinter den Gedanken dauernd das Ich steht.“4

Doch gleichzeitig findet sie, dass sie mit diesem Gebetstagebuch „eine neue Phase in meinem geistlichen Leben“ begonnen und „gewisse pubertäre Eigenheiten und Denkgewohnheiten“ abgelegt hat. „Es braucht nicht viel, um zu der Erkenntnis zu kommen, was für ein Narr man ist, aber dieses Bisschen dauert lange. Erst ganz allmählich geht mir die ganze Lächerlichkeit meines Ichs auf.“5 O’Connor lernte, dass Beten keine Nabelschau der Seele ist. Der Beter begegnet einem Gegenüber, das einzigartig ist. Gott ist die einzige Person im Universum, vor der ich nichts verbergen kann. Vor ihm sehe ich mich in einem neuen, unbestechlichen Licht. Beten führt zu einer Selbsterkenntnis, die wir auf keine andere Art bekommen können.

Der rote Faden in O’Connors Gebetstagebuch ist die schlichte Sehnsucht, recht beten zu lernen. Sie wusste instinktiv, dass das Gebet der Schlüssel war zu allem anderen, was sie in ihrem Leben tun und sein musste. Die oberflächliche Frömmigkeitspflege ihrer Vergangenheit reichte ihr nicht mehr. „Ich möchte die traditionellen Gebete, die ich mein ganzes Leben lang gesprochen habe, nicht schlechtmachen, aber ich habe sie nur gesprochen und nicht gefühlt. Meine Gedanken gehen immer auf Reisen. Aber so [wie jetzt] bin ich konzentriert. Wenn ich dies hier denke und Dir schreibe, spüre ich förmlich, wie eine warme Woge der Liebe mich überspült. Bitte lass nicht zu, dass die Erklärungen der Psychologen sie plötzlich kalt werden lassen.“6

Am Ende eines Eintrags ruft sie aus: „Kann mir keiner zeigen, wie man betet?“7 Millionen Menschen stellen heute dieselbe Frage. Irgendwie spüren wir, dass Beten ein Muss ist. Aber wie macht man das – Beten?

Markt der Möglichkeiten

In den westlichen Ländern gibt es seit etwa einer Generation ein wachsendes Interesse an Spiritualität, Meditation und Kontemplation. Begonnen hat dies, als sich die Beatles medienwirksam inszeniert für fernöstliche Meditationspraktiken zu interessieren begannen, und der Rückgang institutionalisierter kirchlicher Religiosität war das Wasser auf dieser Mühle. Immer weniger Menschen gehen regelmäßig zur Kirche, aber das innere Verlangen nach Spiritualität und Sinn ist geblieben. Wenn man heute in der New York Times liest, dass Robert Hammond, einer der Initiatoren des High Line Parks in Western Chelsea in Manhattan, demnächst auf einen dreimonatigen Meditationsurlaub nach Indien gehen wird, zuckt niemand auch nur mit den Achseln.8 Jedes Jahr strömen Scharen von Europäern und Amerikanern in Aschrams und andere religiöse Einkehrzentren in Asien.9 Vor nicht langer Zeit twitterte Medienmogul Rupert Murdoch, dass er angefangen hatte, Transzendentale Meditation zu lernen: „Von allen empfohlen. Einstieg schwer, aber soll gut für alles sein!“10

Innerhalb der christlichen Kirche ist es zu einer ähnlichen Explosion des Interesses am Gebet gekommen. Es gibt einen starken Trend hin zu alten Praktiken der Meditation und Kontemplation. Mittlerweile gibt es ein kleines Imperium an Institutionen, Organisationen, Netzwerken und Experten, die die Gläubigen in solche Dinge wie das Gebet der Sammlung, das kontemplative Beten, das „hörende“ Beten, die lectio divina und viele andere sogenannte „geistliche Übungen“ einführen.11

Eine neue „Welle“ also? Eher ein Mix aus den verschiedensten Strömungen, die für den Suchenden leicht zu einem gefährlichen Strudel werden können. Es mangelt denn auch – im katholischen wie im protestantischen Lager – nicht an Kritik an dieser neuen Betonung kontemplativer Spiritualität.12 Als ich anfing, nach Hilfen und Anleitung für mein persönliches Gebetsleben und das Gebetsleben von Christen allgemein zu suchen, merkte ich, was für ein Labyrinth die Szene war.

„Ein intelligenter Mystizismus“

Für mich begann der Weg nach vorne mit der Rückbesinnung auf meine eigenen geistlichen Wurzeln. Auf meiner ersten Pastorenstelle in Virginia wie auch später in New York City hielt ich eine Predigtserie über den Römerbrief. In der Mitte des 8. Kapitels schreibt Paulus:

Denn der Geist, den ihr empfangen habt, macht euch nicht zu Sklaven, sodass ihr von neuem in Angst und Furcht leben müsstet; er hat euch zu Söhnen und Töchtern gemacht, und durch ihn rufen wir, wenn wir beten: „Abba, Vater!“ Ja, der Geist selbst bezeugt es uns in unserem Innersten, dass wir Gottes Kinder sind. (Römer 8,15-16 NGÜ)

Der Geist Gottes versichert uns der Liebe Gottes. Wie macht er das? Erstens befähigt er uns, uns dem großen Gott als unserem lieben Vater zu nähern und zu ihm zu rufen. Und dann spricht er direkt in unser Herz hinein. Erstmals verstanden habe ich diese Verse, als ich die Predigten von D. Martyn Lloyd-Jones las, einem britischen Prediger und Autor aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er behauptet, dass Paulus hier eine tiefe persönliche Erfahrung der Realität Gottes beschreibt.13 Meine weitere Lektüre ergab, dass die meisten modernen Bibelausleger in diesen Versen ein, wie ein Neutestamentler es formuliert, „religiöses Erlebnis“ sehen, das „man nicht mit Worten beschreiben kann“, weil die Vergewisserung der Liebe Gottes, die es mit sich bringt, „mystisch im besten Sinne des Wortes“ ist. Thomas Schreiner fügt hinzu, dass wir „die emotionale Basis“ dieses Erlebnisses nicht kleinreden sollten. „Manche schrecken vor der Subjektivität dieses Gedankens zurück, aber der Missbrauch des Subjektiven in manchen Kreisen bedeutet nicht, dass es die ‚mystische‘ und emotionale Dimension im Leben des Christen nicht gibt.“14

Lloyd-Jones’ Auslegung führte mich auch zurück zu Theologen, die ich während meines Studiums gelesen hatte, z. B. Martin Luther, Johannes Calvin, John Owen (England, 17. Jahrhundert) und Jonathan Edwards (amerikanischer Philosoph und Theologe aus dem 18. Jahrhundert). Für sie hatte der Christ nicht die Wahl zwischen Wahrheit oder Geist, Lehre oder Erfahrung. John Owen, einer der fundiertesten dieser älteren Theologen, war mir hier besonders hilfreich. In einer Predigt über das Evangelium stellt Owen mit aller Sorgfalt das lehrmäßige Fundament der Erlösung des Christen klar, nur um sodann seine Leser aufzufordern: „Bemüht euch um die Erfahrung der Kraft des Evangeliums … in und an euren Herzen, oder all euer Bekennen ist leer und nichtig.“15 Diese Herzenserfahrung der Kraft des Evangeliums ist nur über das Gebet möglich – sowohl das „öffentliche“ Gebet im Gottesdienst der Gemeinde als auch das persönliche Gebet im stillen Kämmerlein.

Bei meiner Suche nach einem tieferen Gebetsleben tat ich bewusst nicht das, was wohl für viele das Naheliegende gewesen wäre: Ich las nicht die neuesten Bücher über das Gebet, sondern ich vertiefte mich neu in die klassischen theologischen Werke, die mich geprägt hatten, und zwar im Licht spezifischer Fragen über das Gebet und die persönliche Erfahrung Gottes – Fragen, die mir Jahrzehnte zuvor, als ich diese Texte während meines Graduiertenstudiums las, noch kaum bewusst gewesen waren. Und siehe da, ich entdeckte viele Dinge, die mir damals komplett entgangen waren – Wegweiser für das innere Gebets- und Frömmigkeitsleben, die mich herausführten aus den gefährlichen Strömungen und Strudeln der aktuellen Diskussionen und Bewegungen auf dem Gebiet der Spiritualität. Einer jener Klassiker war der schottische Theologe John Murray, bei dem ich einen der allerhilfreichsten Gedanken fand:

Wir müssen erkennen, dass es im Leben des Glaubens einen intelligenten Mystizismus … der lebendigen Verbindung und Gemeinschaft mit dem erhöhten und stets gegenwärtigen Erlöser gibt … Er verkehrt mit seinem Volk und sein Volk mit ihm in bewusster gegenseitiger Liebe … Das Leben des wahren Glaubens kann nicht eines des metallisch-kalten Für-wahr-Haltens sein, sondern es braucht die Leidenschaft und Wärme liebender Gemeinschaft, denn die Gemeinschaft mit Gott ist die Krone wahrer Religion.16

Murray war kein großer Lyriker, aber wenn er von „Mystizismus“ spricht und von der „Gemeinschaft“ mit dem, der für uns starb und jetzt für immer für uns lebt, geht er davon aus, dass Christen eine konkrete Liebesbeziehung zu Christus haben und ein Potenzial der persönlichen Gotteserkenntnis und -erfahrung, das unsere kühnsten Vorstellungen übersteigt. Gemeint ist natürlich das Beten – aber was für ein Beten! Mitten in diesem Abschnitt zitiert Murray aus dem 1. Petrusbrief: „Bisher habt ihr Jesus nicht mit eigenen Augen gesehen, und trotzdem liebt ihr ihn; ihr vertraut ihm, auch wenn ihr ihn vorläufig noch nicht sehen könnt. Daher erfüllt euch schon jetzt eine überwältigende, jubelnde Freude …“ (1. Petrus 1,8 NGÜ). Luther übersetzt hier: „… ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude.“17

Als ich über diesen Vers nachdachte, staunte ich, dass Petrus hier zu allen seinen Lesern in den Gemeinden spricht. Er sagt nicht: „Einige von euch, die geistlich schon fortgeschrittener sind, haben angefangen, beim Beten den ganz besonderen Kick zu erleben; ich hoffe, dass die Übrigen irgendwann auch so weit sind.“ Nein, er geht ganz offenbar davon aus, dass es etwas völlig Normales für jeden Christen ist, beim Beten Augenblicke überwältigender Freude zu erleben. Ich war platt.

Was mich bei Murray besonders packte, war, dass er von einem intelligenten Mystizismus spricht, also von einer Begegnung mit Gott, bei der es nicht nur um meine Gefühle und mein Herz geht, sondern auch um meine Überzeugungen und meinen Verstand. Wir müssen uns nicht zwischen einem geistlichen Leben der Wahrheit und der rechten Lehre und einem der Kraft des Heiligen Geistes entscheiden, sondern beides gehört zusammen. Meine Aufgabe war es nicht, meine Theologenstube zu verlassen und endlich jemand zu werden, der Erlebnisse mit Gott hatte, sondern den Heiligen Geist zu bitten, mir zu helfen, meine Theologie zu erleben.

Beten lernen

Wie Flannery O’Connor so kläglich fragte: Wie lernen wir es zu beten?

In dem Sommer nach der erfolgreichen Behandlung meines Schilddrüsenkrebses nahm ich an meinem persönlichen Andachtsleben vier Veränderungen vor. Erstens ging ich in mehreren Monaten das gesamte Buch der Psalmen durch und schrieb über jeden Psalm eine Zusammenfassung. Damit konnte ich die Psalmen regelmäßig „durchbeten“, sodass ich mehrere Male pro Jahr den gesamten Psalter schaffte.18 Zweitens schob ich zwischen Bibellese und Gebet als Übergang ein Stück Meditation ein. Drittens versuchte ich nach Kräften, nicht nur jeden Morgen zu beten, sondern auch jeden Abend. Und viertens begann ich, mit größeren Erwartungen zu beten.

Es dauerte etwas, bis diese Veränderungen Früchte trugen, aber nach vielleicht zwei Jahren erlebte ich einige geistliche Durchbrüche. Seitdem ist es mal auf, mal ab gegangen, aber alles in allem habe ich eine neue Freude in Christus gefunden. Und einen neuen Schmerz, denn in dem neuen Licht des vertieften Gebets konnte ich auch mein Herz deutlicher sehen. Mit anderen Worten: Ich habe erlebt, wie ich mehr in der Liebe Gottes ruhe, aber auch mehr um den Sieg Gottes über das Böse in meinem Herzen und in der ganzen Welt ringe. Diese beiden Gebetserfahrungen, die ich schon oben in der Einleitung vorgestellt habe, wuchsen wie zwei Zwillingsbäume hoch, und heute finde ich, dass es genau so richtig ist. Die eine Erfahrung befruchtete die andere und das Ergebnis war eine geistliche Vitalität und Kraft, die ich trotz all meiner schönen Predigten bisher nicht gehabt hatte. Der Rest dieses Buches ist ein Bericht über das, was ich gelernt habe.

Trotz alledem: Es ist äußerst schwierig, über das Gebet zu schreiben – nicht in erster Linie, weil es so schwer zu definieren ist, sondern weil wir uns vor diesem Thema so klein und hilflos vorkommen. Lloyd-Jones sagte einmal, dass er nie ein Buch über das Beten geschrieben hatte, weil er so ein jämmerlicher Beter war.19 Ich bezweifle, ob auch nur einer der allerbesten Autoren, die über das Gebet geschrieben haben, sich kompetenter vorkam als Lloyd-Jones. Der britische Autor P. T. Forsyth (frühes 20. Jahrhundert) hat das, was ich bei diesem Thema fühle und hoffe, besser ausgedrückt, als ich es selber kann:

Es ist ein schwieriges, ja gewaltiges Unterfangen, über das Beten zu schreiben; man hat Angst, die Bundeslade zu berühren … Aber wer weiß? Vielleicht ist der ehrliche Versuch … in den Gnadenaugen Dessen, der ständig Fürbitte für uns tut, selber ein Gebet – eine Bitte darum, zu lernen, wie man besser betet.20

Das Gebet ist die einzige Tür zu echter Selbsterkenntnis. Es ist auch der hauptsächliche Weg zu tief greifenden Veränderungen in unserem Leben – zur Neuordnung unserer Prioritäten. Durch das Gebet gibt Gott uns so viele der unvorstellbaren Schätze, die er für uns bereithält, ja das Gebet ermöglicht es ihm, viele unserer tiefsten Sehnsüchte zu erfüllen. Wenn wir beten, lernen wir Gott kennen, lernen wir es, ihn endlich als Gott zu behandeln. Das Gebet ist der Schlüssel zu allem, was wir in unserem Leben tun müssen und sein müssen.

Wir müssen Beten lernen. Wir haben keine Wahl.