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Martin Schmiedel | Michael Stahl

KEIN HERZ AUS STAHL

Außenseiter, Bodyguard, Herzenskämpfer

Zum Schutz von Persönlichkeitsrechten wurden einige Orts- und Personennamen geändert.

Psalm 73 zitiert in Anlehnung an die Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Psalm 91 zitiert nach der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

© 2016 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlagfoto: Vitali Benz, Benz Bildschmiede

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-7655-7393-4

Unseren Eltern

INHALT

Prolog

Bergstraße 94

Jesus schläft nie

Bestohlen

Am Bahndamm

Verraten

Zuckerballett

Gefrustet

Himmelslicht

Leben aus der Tüte

Kämpfernatur

Schneller, härter, Trainer

An der Tür

Bier auf dem Boden

Beschützer der Stars

Kuss der Ikone

Stille in Eggenfelden

Pleiten und ein Psalm

Mein Engel

Neuer Krach

Zimmer Nr. 5

Frieden für Manuel

Botschafter der Liebe

Zerstörung

Vor Gericht

Für Papa

Nachwort

PROLOG

Ich bin früher aufgewacht als sonst und will am liebsten sofort aus dem Bett. Heute ist mein achter Geburtstag. Was ich wohl bekommen werde? Neue Schuhe? Einen Fußball? Wird Vater heute mit mir Autoskooter fahren? Oder gibt es doch endlich das Fahrrad, das ich mir schon so lange wünsche?

Aufgeregt huschen meine Augen über die Zimmerdecke. Zwei Tapetenbahnen überlappen sich dort und bilden eine schmale, gut sichtbare Linie, die über die gesamte Decke läuft. Sie beginnt genau über mir. In der Mitte verschwindet sie kurz unter der tellergroßen Deckenleuchte aus Milchglas und setzt dahinter ihren Weg fort. Über dem Bett meiner Eltern kreuzt sie einen ausgefransten Wasserfleck. Mit seiner blassbraunen Farbe sieht er aus wie das Gesicht eines Indianerhäuptlings oder wie ein Hase auf dem Sprung.

Ich richte mich ein wenig auf. Auf die Ellenbogen gestützt, gucke ich vorsichtig zum großen Bett hinüber. Im dämmrigen Licht erkenne ich von Vater nicht mehr als ein wirres Haarbüschel in den weißen Kissen. Er atmet laut und gleichmäßig.

Leise schlage ich die Decke zurück und schleiche auf Zehenspitzen zur Zimmertür. Vater soll nicht meinetwegen aufwachen. Da bekommt er nur schlechte Laune. Langsam drücke ich die Klinke herunter und schlüpfe in den dunklen Flur hinaus.

In der Küche finde ich den Tisch gedeckt. Auf der rot-weiß karierten Wachstuchtischdecke stehen Butter, ein Glas Erdbeermarmelade, eine Flasche Milch und eine runde Kabadose. Bevor Mutter aus dem Haus gegangen ist, hat sie vier Scheiben Weißbrot abgeschnitten und in den geflochtenen Brotkorb gelegt.

Nachdem ich zwei der Schnitten mit Butter und einer dicken Schicht Marmelade beschmiert und gegessen habe, trinke ich den zweiten Becher mit einer Extraportion Kakao.

Von Vater ist noch immer nichts zu hören. Es ist Samstag. Bloß gut. Da muss ich heute nicht zur Schule. Unschlüssig gehe ich ins Wohnzimmer und schalte unser altes Röhrenradio ein. Nach und nach werden die brummenden und pfeifenden Geräusche aus dem mit Stoff überspannten Lautsprecher deutlicher. Schließlich mischt sich Schlagermusik mit dem kaum hörbaren Rauschen des Regens, der vor dem Fenster in schmalen Fäden vom Himmel hängt. Ich sehe die nasse Straße hinab und beobachte die Tropfen, die der Wind an unsere Scheibe getrieben hat. Mit aller Kraft versuchen sie, an ihrem Platz zu bleiben. Doch einer nach dem anderen wird in die Tiefe gezogen. Es ist wie mit den Lerchen, die im Sommer über den Feldern hinter der Siedlung aufsteigen. Man muss sie nur lang genug beobachten, dann sieht man sie schließlich zur Erde stürzen.

Das ist wirklich kein schönes Wetter für einen Geburtstag. Bei diesem Regen werden wir bestimmt keinen Ausflug machen. Ich muss wieder an die Schuhe und den Fußball denken. Und wo könnte Vater das Fahrrad versteckt haben?

Das Knacken der Wohnzimmertür holt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich um und sehe Vater erwartungsvoll in die Augen. Er lächelt nicht. Er steht nur da, groß und entschlossen, und starrt mich ausdruckslos an. Warum schweigt er? Wieso sagt er nichts? Hat er etwa vergessen, dass heute mein Geburtstag ist? Eine halbe Ewigkeit stehen wir uns wortlos gegenüber. Schließlich platze ich heraus: „Papa! Was bekomme ich zum Geburtstag?“ Ich gehe einen Schritt auf ihn zu, aber Vater sagt noch immer nichts. Jetzt verdüstert sich der Ausdruck in seinem Gesicht unmerklich. Ein Fremder hätte die Veränderung wahrscheinlich gar nicht bemerkt, aber mir entgeht sie nicht. Mir entgeht keine Regung von ihm. Ich muss wachsam sein.

Mit finsterem Blick sieht Vater mich an. Wie die Klöppel einer seltsam stummen Glocke hängen seine Hände schwer herab. Am liebsten würde ich meine Frage zurücknehmen, aber dafür ist es zu spät. Ich weiß jetzt, wir werden nicht mit dem Autoskooter fahren. Und ich werde erst recht kein Fahrrad von ihm bekommen. Nun scheint Vater Luft zu holen. Will er doch endlich etwas sagen?

Als ich meine Augen wieder aufmache, spüre ich, wie sein warmer Speichel langsam mein Gesicht herabläuft.

„Reicht das?“, fragt er mich unwirsch. Seine Augen funkeln düster. „Oder willst du noch mehr?“ Es sind die ersten Worte, die ich heute von ihm höre. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Hoffentlich sieht er mein Zittern nicht. „Danke“, sage ich leise. Aber da ist er schon zur Tür hinaus.

Tränen steigen mir in die Augen. Ich sehe das Zimmer nur noch verschwommen. „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier. Vergiss mich nicht“, singt eine sanfte Frauenstimme im Radio. In dicken Tropfen rollen die Tränen über meine Wangen und mischen sich mit der Spucke meines Vaters. Sie abwischen kann ich nicht. Das wäre zu einfach. Das wäre, als sei nichts geschehen.

Ich trete ans Fenster und sehe zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Gott soll sehen, was Vater mir angetan hat.

BERGSTRASSE 94

Etwa drei Jahre vor meinem achten Geburtstag waren wir nach Flochberg gezogen. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten mir erklärt, warum wir ein neues Zuhause suchten. Als ich auf der Bergstraße zum ersten Mal vor dem Haus mit der Nummer 94 stand, war es mir schnell klar.

Inmitten der hell getünchten Häuser erkannte man unseres an seiner graubraunen Farblosigkeit. An einigen Stellen löste sich der Putz in Blasen von den Wänden. An anderen war er bereits großflächig abgeplatzt und entblößte das Mauerwerk darunter. Dass die Dachschindeln nicht dicht hielten, sah man nicht auf den ersten Blick. Aber wir bemerkten es, als der erste Regen den Flecken an den Zimmerdecken neue Kraft gab.

Wenn ich die zehn Stufen zur Haustür hinaufstieg und den schmalen dunklen Flur betrat, stach mir jedes Mal ein dumpfer Kellergeruch in die Nase. Gleich hinter dem Eingang führte links eine Tür ins Schlafzimmer. Hier stand das große Bett meiner Eltern und an der gegenüberliegenden Wand eine Couch, auf der ich schlief. Die Schimmelflecken an unseren Wänden waren so groß wie bei Onkel Heinz die gerahmten Bilder.

Ein Badezimmer hatten wir nicht. Die Toilette war von der Küche mit einer dünnen Wand abgetrennt, die Waschküche in einem kleinen Anbau untergebracht. Wenn Mutter unsere Sachen wusch, bereitete sie zuerst heißes Wasser in der Küche und ging dann damit in die Waschküche hinaus, um dort Hemden, Hosen und Pullover in einem Trog vom Dreck zu befreien. Wir selbst wuschen uns mit dem Wasser in einer Emailleschüssel, die mal im Flur stand und mal auf dem Wohnzimmertisch. Der kleine Holzofen im Wohnzimmer war die einzige Heizmöglichkeit im ganzen Haus. Wenn überhaupt, wurde es im Winter nur dort richtig warm.

Schlimmer war für mich aber, dass man dem Haus schon auf den ersten Blick ansah, wie verkommen es war. Wahrscheinlich hatte allein die Tatsache, dass wir eine billige Bleibe brauchten, es vor der Abrissbirne bewahrt. Ich setzte alles daran, dass keiner erfuhr, wo ich wohnte.

Als wir einmal bei einem Schulausflug an dem gepflegten Häuschen vorbeikamen, in dem mein Klassenkamerad und Freund Marc mit seinen Eltern wohnte, sagte der Lehrer: „Schaut mal, wie schön manche Schüler wohnen. Wäre es nicht spannend, auf unseren Ausflügen nach und nach die Häuser aller Schüler zu besuchen?“

Allein die Vorstellung jagte mir einen Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre ich sofort im Boden versunken. Mein Zuhause war mir einfach nur peinlich. Manchen Klassenkameraden erzählte ich, ich würde in dem kleinen weißen Haus unterhalb des Schlossbergs wohnen, wo ich meinen Onkel Heinz oft besuchte.

In der Grundschule war Marc mein bester Freund. Obwohl er viel bessere Schulnoten als ich hatte und seine Eltern im Vergleich zu meinen steinreich waren, verstanden wir uns bestens. Am liebsten spielten wir im Garten seiner Eltern Fußball. Marc war ein toller Freund. Weil ich kein Geld hatte, um mir in der großen Pause eine Milch zu kaufen, ließ er mir regelmäßig von seiner etwas übrig.

Marc lud mich auch zu seiner Geburtstagsfeier ein. Nachdem wir im großen und hellen Wohnzimmer eine Unmenge leckeren Streuselkuchen und Obsttorte gegessen hatten, spielten wir im Garten Räuber und Gendarm. Außerdem hatte Marcs Mutter ein Quiz vorbereitet, bei dem es Preise zu gewinnen gab. Und natürlich spielten wir Fußball. Ohne Fußball wäre es gar kein richtiger Geburtstag gewesen.

Als ich gerade ein super Zuspiel von Marc verwandelt hatte, kam seine Mutter aus dem Haus gelaufen. „Es ist schon spät“, rief sie. „Nach dem nächsten Tor ist Schluss. Dann fahre ich euch alle nach Hause.“

Mir war gar nicht aufgefallen, dass es schon dämmrig wurde. Nachdem Marc das heiß umkämpfte Tor geschossen hatte, rannte ich verschwitzt zu seiner Mutter. „Danke für das Angebot“, sagte ich außer Atem und so leise, dass es die anderen nicht mitbekamen, „aber ich bin allein hergekommen, da kann ich auch wieder allein zurück.“ Wenn Marcs Mutter unser Haus sah oder gar erfuhr, dass ich der Sohn eines arbeitslosen Trinkers war, würde ich sicher nie wieder zum Geburtstag eingeladen. Vielleicht würde sie mir sogar verbieten, mit Marc Fußball zu spielen.

„Kommt nicht infrage.“ Sie wuschelte mir lachend durch die Haare und duldete keine Widerrede. Also quetschten wir vier mit Grasflecken übersäten Jungs uns auf die Rückbank ihres roten Golfs. Marc durfte auch mitkommen und thronte als Geburtstagskind auf dem Beifahrersitz.

Nachdem wir die drei anderen Klassenkameraden abgeliefert hatten, saß ich allein auf der Rückbank. Schließlich bogen wir in die Bergstraße ein. Je näher wir dem schäbigen Haus mit der Nummer 94 kamen, umso unruhiger wurde ich. Um jeden Preis musste ich verhindern, dass Marcs Mutter die Wahrheit erfuhr. Gleich waren wir da.

„Da! Dort wohne ich.“ Mit dem ausgestreckten Finger zeigte ich auf das weiß abgeputzte Haus unserer Nachbarin Frau Lehmann.

„Hier also“, sagte Marcs Mutter.

Doch statt auf der Straße zu halten, um mich aussteigen zu lassen, bog sie jetzt in den Hof ein. Mein Herz hämmerte. Ich bedankte mich so freundlich ich konnte und hoffte inständig, dass Frau Lehmann nicht gerade jetzt aus dem Fenster guckte. Als ich die Wagentür geöffnet hatte und von der Rückbank gerutscht war, winkte ich Marc und seiner Mutter zum Abschied. Aber sie fuhren nicht los.

„Ich warte noch, bis du im Haus bist“, rief Marcs Mutter durchs offene Autofenster.

„Das muss nicht sein“, versuchte ich sie loszuwerden.

„Doch, ich warte“, blieb sie hartnäckig.

Wenn der Schwindel nicht in letzter Minute auffliegen sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als jetzt bei Frau Lehmann zu klingeln. Ich drückte auf den blanken Knopf. Es dauerte einen Augenblick, dann hörte ich Frau Lehmanns zu tiefe Stimme aus den vielen kleinen Löchern in der Messingplatte links neben der Tür.

„Wer ist da?“

„Hallo, Frau Lehmann“, sagte ich leise. „Hier ist der Micha. Kann ich mal bei Ihnen aufs Klo?“

„Ja, habt ihr denn keine Toilette?“, fragte Frau Lehmann erstaunt.

„Schon“, murmelte ich und überlegte. „Es ist nur … die ist kaputt.“

„Ja, wirklich?“, sagte Frau Lehmann. Da summte endlich der Schnapper.

Entschlossen drückte ich die Tür auf und schlüpfte ins Haus, ohne mich umzusehen. Ich lauschte die Treppe hinauf. Frau Lehmann rührte sich nicht. Endlich hörte ich, wie der Golf gestartet wurde und rückwärts auf die Bergstraße einbog. Hastig zählte ich bis fünf, öffnete die Haustür und ließ Frau Lehmann mit ihrem Klo allein zurück. So schnell ich konnte, huschte ich zu unserem Haus hinüber, nahm meinen Schlüssel aus der Hosentasche und verschwand im dunklen Flur. Glück gehabt!

Doch so glimpflich ging es nicht immer aus. Am Wandertag unserer Schule spazierte unsere Klasse mit zwei anderen zur Ruine auf den nahe gelegenen Schlossberg. Wir interessierten uns kaum für das, was die Lehrerin über die Geschichte der mittelalterlichen Burg erzählte. Vom Ort aus sahen wir sie ja jeden Tag. Viel spannender fanden wir es, uns hinter den Mauerresten zu verstecken oder hinaufzuklettern.

Auf dem Rückweg bemerkte ich plötzlich, dass wir geradewegs auf unser Haus zusteuerten. Mein Mund wurde trocken. Wenn jetzt irgendeiner herausposaunte, dass die Stahls in der Bruchbude Nummer 94 zur Miete wohnten, war es aus mit mir. Einige Schüler waren schon am Haus vorbei. Ich lief hinter ihnen, den Blick starr geradeaus. Vor Aufregung wagte ich kaum zu atmen. Gleich war es geschafft.

„Da, in dem Haus wohnt der Micha“, rief Manfred in diesem Moment. Ich erstarrte. Woher kannte ausgerechnet der große, dunkelhaarige Manfred, der mich sowieso auf dem Kieker hatte, meine Anschrift? Als wäre es das Signal, auf das alle gewartet hatten, rannten sämtliche Kinder in unseren kleinen Hof. Sie lachten und kreischten. „Da wohnt der Micha.“ „Da wohnt der Michael.“ Stumm stand ich auf dem Gehweg und fühlte mich, als hätten sie mir alle Kleider vom Leib gerissen.

Noch mehr als für unser Haus schämte ich mich für meinen Vater. Wenn er morgens aus dem Haus ging, hatte er keine Aktentasche unterm Arm und trug auch keinen Blaumann. Beides brauchte er nicht. Was er brauchte, war das Kleingeld in seiner Hosentasche, damit er im Gasthof Zum Lamm das Bier bezahlen konnte, das er dort regelmäßig trank. Er war 29 Jahre alt gewesen, als er beschlossen hatte, fürs Arbeiten zu krank zu sein. Damals tauschte er die Werkbank gegen den Ausschank und blieb sein Leben lang dabei.

Meist kam er erst am Nachmittag aus dem Lamm zurück und verbrachte den Rest des Tages auf der Wohnzimmercouch mit Schlafen oder Fernsehen. Manchmal ging er am Abend noch einmal in die Kneipe. Kam er von dort nicht zur gewohnten Zeit zurück, schickte Mutter mich, ihn zu holen. Ich hasste diese Botengänge. Hätte Vater nach Hause gewollt, wäre er doch von allein gekommen. Stattdessen musste ich ihn vor seinen schwermütig über die halb leeren Gläser stierenden oder ausgelassen frotzelnden Kumpanen überreden, mit mir nach Hause zu gehen, was jedes Mal ein Kampf war.

Wenn ich aus der Schule kam, wusste ich nie, in welcher Stimmung ich ihn antreffen würde. War etwas nicht nach seinen Vorstellungen verlaufen, musste ich mich in Acht nehmen. Hatte er beim Kartenspiel gewonnen oder spuckte der Spielautomat ihm unverhofft ein paar Mark aus, war er gut gelaunt. Dann spielten wir gemeinsam Mensch ärgere dich nicht oder sahen uns Serien wie Die Straßen von San Francisco oder Die Profis an.

Manchmal spielten wir in unserem langen und schmalen Flur sogar Fußball. Dann war die Eingangstür mein Tor und der Durchgang zur Küche seins. Wenn wir den kleinen Gummiball mit Karacho durch den Gang trieben, waren weder Tapete noch Lampe sicher. Deswegen erlaubten wir uns diesen Spaß auch nur, wenn Mutter unterwegs war.

Stand ein Boxkampf von Muhammad Ali an, gab es für uns nur einen Platz: den vor dem Fernsehapparat. Obwohl die Kämpfe für einen Jungen in meinem Alter viel zu spät ausgestrahlt wurden, war Vater hier großzügig. Diese spannenden Minuten waren ihm so wertvoll, dass er sie auch mir gönnte. So saßen wir nachts gemeinsam im Wohnzimmer und verfolgten gebannt Alis fliegende Fäuste. Vater machte es sich auf dem Sofa bequem. Ich kauerte auf dem Teppich davor. Den Rücken gegen die Armlehne gedrückt, verfolgte ich gespannt das Geschehen. Alis leichte Schritte, sein geschicktes Ausweichen und die kräftigen Schläge, die er in erbarmungslosen Salven auf seine Gegner niederprasseln ließ, hatten ihm auf der ganzen Welt Siege und Bewunderung eingebracht. Kaum einer, der ihn nicht kannte.

Beschrieben die Fernsehkommentatoren seine Gegner auch als noch so furchterregend oder berüchtigt, Ali schien keine Angst zu kennen. Mutig und vor Siegeswillen strotzend stieg er Mal um Mal in den Ring. Erwischte ihn ein Haken, schüttelte er energisch den Kopf, um den Kampfrichtern anzuzeigen, dass ihm dieser Schlag nichts hatte anhaben können.

Manchmal bat ich Gott, dass Ali gewinnen würde. Manchmal betete ich, diesen Kämpfer einmal treffen zu dürfen. Ali war mein Held. Er war stark. Er war klug. Er gab nie auf und kämpfte wie ein Löwe. Und er siegte.

Gern wäre ich gewesen wie er. Gern wäre ich Angriffen so geschickt ausgewichen wie er. Aber nicht, um danach wegzurennen. Sondern um im nächsten Moment mit umso größerer Wucht auf meinen Gegner zuzustürmen und ihm den einen, alles entscheidenden Schlag zu versetzen.

Wenn Alis dunkler Körper in heller Hose durch den Ring tänzelte und die Stimme des Kommentators die Spannung ins Unermessliche steigerte, hatte ich das Gefühl, erst beim nächsten Gongschlag weiteratmen zu können. Ali entführte mich in eine andere Welt. Ich war eins mit dem großen Mann, dem jeder Respekt entgegenbrachte, über den sich keiner lustig machen durfte und der sich von niemandem herumschubsen ließ. Dann vergaß ich meine eigenen Niederlagen und die Schläge, die ich eingesteckt hatte. Dann vergaß ich auch, dass sie oft von dem Mann kamen, der gerade hinter mir auf dem Sofa saß.

JESUS SCHLÄFT NIE

Der erste Tag im neuen Schuljahr war für mich immer der schlimmste. Wenn die Klassen neu zusammengestellt waren, musste sich jeder vorstellen. Meist saß ich in der letzten Reihe und hörte angespannt zu, was die anderen erzählten. „Ich bin der Alexander Schulz. Ich spiele gern Fußball. Und mein Papa ist Klempnermeister.“ „Ich bin die Susann Freitag. Meine Hobbys sind Malen und Pferde, mein Papa arbeitet in der Apotheke.“ So ging es von einem zum anderen. Mit jedem Namen kam die Reihe näher an mich. Was sollte ich sagen? Mein Vater ging nie zum Elternabend. Das übernahm Mutter immer. Aber sollte ich verleugnen, dass ich einen Vater hatte? „Ich bin der Michael Stahl“, fing ich zögerlich an. Klar, auch bei mir stand Fußball ganz oben auf der Liste. Aber so weit kam ich gar nicht. Da schrie schon einer: „Und dein Vater ist ein Säufer!“ So ging es Jahr um Jahr. Es war wie bei einem Spießrutenlauf. Ich wusste nicht, woher der nächste Hieb kommen würde. Dass er kam, war dafür sicher. Manchmal hatte ich schon im Herbst Angst, mich im nächsten Schuljahr wieder vorstellen zu müssen.

Auf dem Weg zur Schule machte ich oft einen kleinen Umweg vorbei an der Klausnerschen Scheune. Die Scheune war eigentlich ein großer Schuppen, eine robuste Holzkonstruktion aus alten Balken. Im vorderen Teil stand der Traktor des alten Klausner. Dort war morgens mein Platz. Weil ich zu Hause keinen Ort hatte, an dem ich ungestört war, erledigte ich meine Hausaufgaben hier. Viel Zeit blieb meist nicht und das Schreiben auf den Trittstufen zur Kabine war nicht ganz einfach. Aber es war schon besser, ich hatte etwas in meinem Heft stehen, wenn Lehrer Pregler mit ernster Stimme forderte, die erledigten Aufgaben auf den Tisch zu legen.

Also hob ich meinen Ranzen vom Rücken und nahm die Hefte heraus. Wie lang braucht ein Rasenmäherfahrer, um einen Fußballplatz von bestimmter Größe zu mähen?, lautete die Hausaufgabe für Mathe. In Geografie würden heute die europäischen Hauptstädte abgefragt. Für die Rechenaufgabe fand ich schnell eine Lösung, und was die Hauptstädte anging, war ich mir sicher, Paris, Wien, Berlin und London richtig zuordnen zu können.

Zur Leistungskontrolle musste Marc nach vorne gehen. Er wusste nicht nur, dass Bern die Hauptstadt der Schweiz ist und Madrid zu Spanien gehört, sondern konnte auch die letzte Frage beantworten, die Herr Pregler mit leicht gerunzelter Stirn gestellt hatte. Belfast, erklärte Marc, sei die Hauptstadt keines Landes, sondern die von Nordirland, das wiederum zu Großbritannien gehöre, genau wie Schottland und Wales.

„Streber“, murmelte Manfred halblaut, der drei Plätze neben mir ebenfalls in der letzten Reihe saß. Er war einen Kopf größer als ich und warf mir einen Blick zu, als hätte nicht Marc eine Eins, sondern er eine Vier bekommen und als sei das allein meine Schuld. Ich wich seinem Blick aus und sah wieder nach vorn. Während Marc zu seinem Platz in der zweiten Reihe schlenderte, vermerkte Pregler seine Note. Marc war wirklich ein schlauer Bursche. Das musste ich neidlos anerkennen.

„Hast du heute Lust auf Fußball?“, fragte ich ihn in der großen Pause nach der Geografiestunde.

„Ja“, sagte Marc, „komm einfach vorbei.“

Kaum hatte ich meinen Ranzen zu Hause abgelegt und den kalten Kartoffelbrei mit gerösteten Zwiebeln gegessen, machte ich mich auch schon auf den Weg. Rasch lief ich den Berg hinauf zur Siedlung mit den kleinen weißen Häusern und dunklen Dächern. Im vorletzten Haus, fast am Ende der Straße, wohnte Marc. Von hier konnte man den halben Ort überblicken.

Ich klingelte, aber niemand öffnete die Tür. Ich schaute in den Garten, konnte Marc jedoch vom Zaun aus nicht entdecken. Also schlenderte ich ein wenig die Straße entlang und setzte mich auf den Bordstein. Vielleicht würde Marc bald nach Hause kommen. Stattdessen bog auf einmal Manfred auf seinem Fahrrad aus einer Seitenstraße. Als er mich bemerkte, fuhr er dicht heran.

„Na, willst du zu Mama-Marc? Der schreibt dir wohl die Hausaufgaben, was?“

Ich sah zu Manfred hoch. Er guckte mich mit seinem stumpfen Grinsen an, das ich so wenig ausstehen konnte. Ich stand auf, um mich außer Reichweite seines Fußes zu bringen. „Hau ab“, sagte ich. „Du hast doch keine Ahnung.“

„Ach“, sagte Manfred und äffte mich nach, „ich hab ja keine Ahnung. Das musst gerade du sagen. Weißt du was …“

„Hau ab“, sagte ich noch einmal, ging ein paar Schritte zur Seite und hob drei kleine Steine auf. Manfred schien es nicht bemerkt zu haben. Er hatte das Interesse an mir schon wieder verloren und rollte langsam den Berg hinab. Mehr trotzig als mutig warf ich ihm einen Stein hinterher. Klong machte es auf dem Schutzblech seines Hinterrades. Verdutzt sah sich Manfred um, bremste abrupt und stieg vom Rad. Ich war selbst überrascht, dass ich getroffen hatte.

Ich stand auf der Mitte der Straße. Zwei Steine hatte ich in der Hand. Jetzt suchte sich auch Manfred Munition. Kurz darauf flogen seine Geschosse sirrend an mir vorüber. Eine Art Schneeballschlacht mit Kieseln begann. Ich versuchte immer dann zu zielen, wenn Manfred gerade neue Steine suchte und sich schlecht wegducken konnte. Aber auch ich musste mich immer wieder neu mit Munition versorgen. Zuletzt hatte ich wieder Manfreds Rad getroffen, was ihn offensichtlich wütend machte. Als ich eben einige gute Geschosse aufgehoben hatte und mich nach Manfred umsah, bemerkte ich einen kleinen Schatten über mir. Kurz darauf krachte ein großer, eckiger Stein an meine Stirn. Erst spürte ich nichts, dann kam der Schmerz und mit dem Schmerz das Blut. Es rann über meine Braue, tropfte von dort auf die Wange und war verdächtig schnell auch auf meinem T-Shirt angekommen. Als Manfred sah, was passiert war, warf er schnell seine restlichen Steine weg, sprang aufs Rad und raste davon.

Erst freute ich mich, als Sieger aus dieser Schlacht hervorgegangen zu sein. Doch dann fiel mir das Blut wieder ein, das inzwischen schon auf den Asphalt tropfte. Ich musste etwas unternehmen.

Weil ich keine andere Idee hatte, lief ich wieder zu Marcs Haus und drückte heftig auf die Klingel. Tatsächlich öffnete mein Freund diesmal die Tür. Er sah mich mit großen Augen an. Seine Eltern waren nicht zu Hause. Allein wussten wir uns nicht zu helfen und rannten schnell zum Nachbarn. Auch hier war niemand da. Wir versuchten es beim nächsten und übernächsten Haus. Überall klingelten wir vergebens.

Endlich, beim vierten Haus, der rote Fleck auf meinem T-Shirt leuchtete inzwischen unübersehbar, öffnete sich eine Tür. Marc und ich zuckten zurück. Im Rahmen stand Herr Hampel und sah uns mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wie alle Kinder in der Siedlung wussten wir, dass hier der Deutschlehrer wohnte. Aber im Eifer des Gefechts hatten wir nicht mit ihm gerechnet.

Da die Not offensichtlich war, ließ er uns an der Schwelle warten und kam mit zwei Binden zurück. Die erste rutschte mir blutverschmiert wieder vom Kopf wie eine zu kleine Mütze. Doch die zweite hielt und wir bedankten uns sehr höflich für seine Hilfe.

Zu Hause kam mir Vater im Flur entgegen. Er sah mich fragend an. „Manfred hat mit Steinen nach mir geworfen“, erklärte ich meine verbundene Stirn. Hoffentlich fragte er jetzt nicht danach, wie der Streit in Gang gekommen war. Doch meine Sorge war unbegründet. „Hättest du halt besser aufgepasst“, sagte er und schlurfte in die Küche.

Leise weinend verdrückte ich mich ins Schlafzimmer. Denn obwohl mir unser verfallenes Haus vor anderen so peinlich war, gab es hier einen Ort, den ich liebte. Dorthin flüchtete ich mich, wenn ich wieder einmal das Gefühl hatte, dass sich die ganze Welt gegen mich verschworen hatte.

Ich entdeckte ihn an einem Nachmittag, der so nebelig und feucht war, dass ich nicht einmal Lust auf Fußball hatte. Auch Lesen oder Fernsehen wollte ich nicht. Gelangweilt ging ich in dem menschenleeren Haus von einem Zimmer ins andere. Es war, als suchte ich etwas, ohne zu wissen, was es war. Da fiel mein Blick im Schlafzimmer auf ein Bild an der Wand. Es war ein einfacher Kunstdruck, der mit vier kleinen Nägeln in Höhe des oberen Scharniers links neben der Tür befestigt war. Ich hatte das Gefühl, dass das Bild schon länger dort hing. Und doch bemerkte ich es an jenem denkwürdigen Tag zum ersten Mal bewusst. Ich blieb stehen und sah es mir genau an. Es zeigte einen Mann, der liebevoll und gütig zu mir herabsah. Ich wusste, dass es Jesus war. Sein friedliches Gesicht wurde von einem Bart und braunen, schulterlangen Haaren sanft umrahmt. Einladend streckte er seine Hände nach mir aus.

Ich stand lange unter dem Bild und betrachtete es. Ich sah Jesus an. Je länger ich so dastand, umso größer wurde in mir das Gefühl, dass er meinen Blick erwiderte. Er schien mir direkt in die Augen zu sehen. Und irgendwie war mir klar, dass er mich länger kannte als ich ihn. Das fühlte sich gut an und auch ein bisschen unheimlich. Ohne meinen Blick abzuwenden, ging ich ein Stück nach rechts. Jesus sah mich immer noch an. Jetzt machte ich vier Schritte nach links. Auch hier blickte er liebevoll auf mich. Erstaunt lief ich im Schlafzimmer hin und her. Egal wohin ich ging, schaute ich zum Bild, sah Jesus mich an.

Vielleicht konnte ich ihn mit einem kleinen Täuschungsmanöver überraschen? Ich kroch unter das Bett meiner Eltern und blieb dort eine Weile regungslos liegen. Blitzschnell streckte ich dann meinen Kopf hervor. Ich wollte Jesus dabei ertappen, wenn er gerade nicht aufpasste und woanders hinschaute.

Doch wieder sah er mich an. Er meinte wirklich mich.

Draußen waberte der Nebel immer dichter. Aber ich hatte den Eindruck, dass es im Zimmer heller wurde, je länger ich das Bild ansah. Zufriedenheit breitete sich in mir aus. Und ohne dass ich hätte sagen können, warum, wuchs in mir die feste Gewissheit, dass Jesus mich nicht nur kannte, sondern auch für mich war und mein Bestes wollte.

Von da an ging ich immer wieder zu ihm hin. Wenn ich enttäuscht oder niedergeschlagen war, stellte ich mich vor Jesus und klagte ihm mein Leid. Noch näher konnte ich ihm sein, wenn ich auf das Bett der Eltern stieg und meine Wange an seine legte. Dann strömten Frieden und Hoffnung in mein Herz.

Vater und Mutter erzählte ich davon nichts. Sie schienen den Jesus in ihrem Schlafzimmer kaum zu beachten und zu kennen. Vater hatte mir zwar ein paar Kirchenlieder und Gebete beigebracht. Aber eigentlich nutzte er Gott lieber als Rutenersatz, wenn er für seine Wut gerade keinen Schuh zur Hand hatte oder zu müde war, nach mir zu treten. Hatte ich keine Lust, mit ihm durch die umliegenden Dörfer zu ziehen und die Bauern um Lebensmittel anzubetteln, drohte er, Gott würde mir eine Krankheit schicken, wenn ich nicht mitkäme. Plagten ihn seine Bauchschmerzen wieder einmal so heftig, dass er nicht wusste, wohin mit seiner Hilflosigkeit, beschimpfte er mich: „Ich bin so krank, weil du so böse zu mir warst. Dafür wird Gott dich bestrafen!“

Den liebevollen Jesus, der die Menschen einlädt, mit allen Lasten und Problemen zu ihm zu kommen, um bei ihm zur Ruhe zu kommen, kannte ich nur von meiner Oma oder aus Filmen wie Jesus von Nazareth oder König der Könige. Und aus der 200 Meter von unserem Haus entfernt stehenden Flochberger Dorfkirche Maria Heimsuchung.

Dorthin ging ich fast jeden Sonntag, meine Mutter und mein Vater nur selten, meistens zu Beerdigungen. Aber auch wenn sie zu Hause blieben, besuchte ich den Gottesdienst. Auch um der peinlichen Befragung des Religionslehrers aus dem Weg zu gehen, wo ich mich am vergangenen Sonntag herumgetrieben hätte. Also zog ich Sonntag für Sonntag das weiße Hemd an und setzte mich zu den anderen Kindern in den ersten drei Reihen ins Gestühl.

Gespannt sah ich den Pfarrer an. Ich hörte ihm aufmerksam zu und beobachtete, ob die anderen es auch taten. Wenn er uns den Rücken zuwandte und mit ausgebreiteten Armen betete, zählte ich die Falten in seinem Talar. Ich sah gern zum Heiligen Joseph in seiner Mauernische hinauf oder zum Gekreuzigten. Immer wieder ging mir die Frage durch den Kopf, warum der gewaltige Glasleuchter mit seinen drei mal fünfzehn Kerzen nicht in den Gang zwischen die Bänke fiel und wie es wohl scheppern und splittern würde, wenn es einmal doch geschah.

Lieber als am Sonntag kam ich in der Woche in die Kirche. Dann hatte ich den hellen Raum oft ganz für mich allein. Sobald ich die braune Seitentür aufgedrückt und hinter mir geschlossen hatte, umfing mich eine angenehme Stille.

Manchmal stand ich minutenlang unter dem Kruzifix an der Wand und sah zum leidenden Jesus hinauf. Wir beide hatten etwas gemeinsam. Auch er war verlacht, geschlagen und getreten worden. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn einem fremder Speichel übers Gesicht lief. Er war der Einzige, der mich wirklich verstand und nachempfinden konnte, was ich fühlte. Der Jesus am Kreuz war mein Verbündeter und mein Freund.

Wenn ich ganz dicht unter ihm stand und meine Stirn an die Wand legte, an der das Kreuz angebracht war, dann konnte ich ihm nahe sein. Oder wenn ich zum Eingangsportal hinüberging, wo er in einer Nische vom Kreuz genommen lag. Dort streichelte ich seine Wunden so lange, bis sich das lackierte Holz ganz warm anfühlte. Dann waren wir vereint.