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UTE ALAND

DIE
PIANISTIN

Autobiografischer Roman

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Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.
Leben muss man es
vorwärts.

Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855),
dänischer Philosoph, Theologe und Schriftsteller

Wenn du betest,
sei gewiss,
dass der Allmächtige dein Flehen hört.

Er erhört dein Gebet um Demut.
Oder Gotteserkenntnis
oder ein reines Herz.

Aber dann erschrick nicht
über die Demütigungen,
die du erleiden wirst
um der Demut willen.

Und fürchte dich nicht davor,
in die Abgründe der Tiefe Gottes zu stürzen
um der Gotteserkenntnis willen.

Und harre aus im Glutofen Gottes
um der Reinheit willen.

Darum:
Wenn du um Frucht bittest,
hab keine Angst, wenn das Weizenkorn
seinen Schutz verliert.
Seine Substanz.
Und seine Gewissheiten.

Denn es wird aufgehen, dem Tode nahe.
Und wird seinen zerbrechlichen Keim in die
Finsternis hinausschieben.
Denn das entspricht der göttlichen Ordnung:
Es muss sterben,
damit es Frucht bringt.

1.

DER ABGRUND

Es gibt exakt vier Möglichkeiten, um zu erklären, was passiert ist.

Meine Freunde meinen, ich sollte mir keine derartigen Gedanken machen. „Hör auf, auf deinen Verstand zu zählen“, sagen sie mir. „Lass einfach dein Herz sprechen.“ Aber sie wissen ja auch nicht, was mein Herz mir sagt, seit jenem Tag. Würde ich allein auf mein Herz hören, wäre ich schon lange von einer Brücke gesprungen.

Überhaupt – wieso sollte das Herz besser sein als das Hirn? Das wäre ja so, als müsste ich mich entscheiden, welches Bein mir wichtiger ist: das rechte oder das linke.

Ich verstehe nicht, wieso manche Christen sich so viele Denkverbote auferlegen. Aber je länger meine Verzweiflung dauert, desto mehr erkenne ich, dass sie sich nicht nur Denkverbote auferlegen, sondern auch „Fühlverbote“. Es gibt Gefühle, die halten viele Christen für Sünde. Verzweiflung zum Beispiel. Traurigkeit, Wut. Oder Zorn. Ich aber kann diese Tabus nicht akzeptieren, denn alle Gefühle gehören zur Grundausstattung des Menschen und sogar zum Repertoire Gottes. Ein Glaube, bei dem ich große Teile meines Menschseins abschalten muss, um den Glauben selbst nicht in Gefahr zu bringen, so einem Glauben vertraue ich mein Leben nicht an. Ein Glaube, den ich vor Zweifeln schützen muss oder vor der Realität, so einen Glauben will ich nicht. Denn für mich ist Glauben kein Hobby, kein Wohlfühlsystem zur Abwehr des Unerklärlichen. Keine Trost spendende Herberge. Keine erregende Mystery-Erfahrung.

Ich finde, Glaube muss was abkönnen.

Und genau deshalb werde ich mein Denken nicht zum Schweigen verurteilen und auch meine Verzweiflung nicht. Ich werde mein Entsetzen sezieren wie ein Chirurg und diese schreckliche Wunde nicht zunähen, ohne das Geschwür entfernt zu haben: Und ich werde die Augen nicht verschließen vor dem, was ich zu sehen bekommen werde. Eine Operation am offenen Herzen. Patient und Chirurg in einem.

Schreckliches Experiment.

Ich setze mich auf, rücke mein gestärktes Kissen zurecht. Mein Rücken schmerzt. Bei jeder Bewegung quietscht das Krankenhausbett – armseliger Refrain in einem öden Lied. Und der Blick aus dem Fenster auf die fernen Baumwipfel ist mittlerweile nur ein bitterer Trost. Diesen Frühling, den neunundzwanzigsten meines Lebens, werde ich nur von ferne betrachten, er wird ohne mich stattfinden, mögen die Vögel noch so sehr singen. Ihre Lieder erfreuen mich nicht. Im Gegenteil: Sie führen mir schmerzlich vor Augen, dass mir diese naive Freude geraubt wurde, dass ich nichts mehr zu besingen habe. Mir bleiben nur Klagelieder. Aber Klagelieder will keiner hören.

Auch das Blau des Himmels an sich ist für mich kein Argument, sich zu freuen. Es ist schon lange nichts als eine willkürliche Wellenlänge, für die mein Hirn keine Übersetzung mehr findet. Kein Synonym mehr für Freude und Weite.

Ich öffne die Blechschublade des Nachtschränkchens, fische das lederne Notizbuch unter meiner Bibel hervor, ziehe den Kugelschreiber heraus und notiere:

Vier Möglichkeiten, um zu erklären, wieso geschehen konnte, was geschehen ist.

Erstens:

Es gibt keinen Gott.

Darf ein Christ diesen Gedanken zulassen? Oder ist das das eine Tabu, das man keinesfalls antasten sollte? Der einzige Pfad, den man nicht einschlagen darf, weil er ins Verderben führt? Weil es eben Grundsätzliches gibt, das anzuzweifeln den geistlichen Tod bedeutet? Ich weiß es nicht.

Setze mich im Bett auf, entwirre zum x-ten Mal den Schlauch, durch den die wässrige Flüssigkeit tropft. Vielleicht nehmen sie ihn morgen ab oder nächste Woche.

Ich will nicht am Tropf hängen. Ich will auch nicht im Krankenhaus liegen. Ich will nicht, dass das, was sie unter sorgsamem Verband verbergen, wahr ist. Und auch all das andere nicht. Denn wenn es wahr ist, ist das vielleicht der Beweis dafür, dass es Gott nicht gibt.

Aber ich kann nicht glauben, dass „Erstens“ zutrifft. Es muss einen Gott geben.

Denn wie sollte man die Fotosynthese erklären oder den Hormonhaushalt, das Paarungsverhalten der Libellen oder die Tatsache, dass die Bäume im Herbst vertrauensvoll ihr ganzes Kleid dem Wind übergeben?

Nein – es muss einen Gott geben.

Aber vielleicht – und damit bin ich bei zweitens – mischt Gott sich nicht ein. Schöpfung fertig, nächstes Thema.

Also zweitens:

Gott existiert, aber er kümmert sich nicht um uns.

Möglich wäre das.

Dann wäre ich all die Jahre meines Christseins einem Selbstbetrug aufgesessen. All das, worin ich Gottes Wirken und Reden zu erkennen geglaubt habe, wäre nichts als eine Lüge gewesen. Erlösung, Frieden, Gottes Gerechtigkeit, sein Reden, alles ein Lügensystem, dem ich meine Erfahrungen angepasst habe, um es durch geschickte Deutung mühsam aufrechtzuerhalten. Man findet immer eine Möglichkeit zu erklären, warum Dinge so laufen, wie sie laufen. Das menschliche Gehirn kennt diesen Reflex, sich ein Weltbild zu erschaffen und alles für dessen Erhalt zu opfern. Alle Menschen tun das.

Denn wer will schon den Boden unter den Füßen verlieren? Jeder findet sein Weltbild durch das, was er erlebt, bestätigt. Und alles, was dieses Bild gefährden könnte, wird verdrängt, verleugnet, verbannt, vergessen.

Dabei habe ich mein Leben lang die Wahrheit gesucht, mich nie mit leerer Poesie abspeisen lassen. Habe all die Zeit alle Erklärungen wieder und wieder abgestreift, bis endlich dieser innere Friede gekommen war, als ich die Wahrheit gefunden zu haben glaubte. Damals habe ich mich zu Gott bekehrt. Und zwar nicht, weil der Glaube an Gott tröstet oder einem Menschen hilft. Trost ist schön und gut, Hilfe auch, aber für mich kein Argument, schon gar kein Beweis. Andere finden Trost und Hilfe woanders. Ich will keinen Trost, ich will Wahrheit.

Wenn das Evangelium also den Fragen nicht standhält, dann will ich seinen Trost, seine Hoffnung, seinen Frieden nicht. Weil ich die Lüge als solche verabscheue, mag sie noch so köstlich schmecken.

Ich habe dem Evangelium geglaubt und mein Fürwahrhalten bestätigt gefunden bis zu dem Moment, wo es keinen doppelten Boden mehr gab, kein Ersatzerklärungsmodell, keinen Plan B.

Ich habe gegen jede menschliche Vernunft Gott vertraut. Ich habe das getan, was er mir gesagt hat. Ich habe mich voller Zuversicht in Gottes Arme fallen lassen.

Doch er hat seine Arme weggezogen.

Und ich bin ins Bodenlose gestürzt.

Der Moment, in dem mein Geschick, Dinge durch mein Glaubenssystem zu erklären, daran scheitert, dass ich alles auf eine Karte gesetzt habe.

Kein weiteres Ass im Ärmel.

Dann wäre das hier die Stunde der Wahrheit.

Doch wenn der Fels in der Brandung zerfällt, dann will ich lieber ertrinken, als weiterzuleben. Ich will nicht an eine Planke geklammert durch einen sinnlosen Ozean treiben und behaupten, ich hätte einen Kontinent entdeckt. Warum sollte ich denn leben wollen? Wofür? Wenn Gott meinem Leben keinen Sinn gibt, hat es keinen. Und wenn es keinen Sinn hat, wozu dann aufstehen, wozu einen einzigen Tag leben, wenn es nirgendwo hinführt? Wenn alles, was ich tue, beliebig ist und mit dem Tod willkürlich endet.

Ich drehe meinen Kopf Richtung Monitor, betrachte die eilige Linie, die immer die gleichen steilen Gipfel emporschießt, hinabstürzt, emporeilt, hinabstürzt. Verlogenes Protokoll meines Herzschlages, denn ich spüre nur das Abstürzen.

Ich bin froh, dass ich ein Einzelzimmer habe, denn wie sollte ich jemandem all die vielen Tränen erklären? Überhaupt: Wie könnte ich jemandem mein Problem begreiflich machen? Denn wenn es Gott nicht gebe und sein Versprechen an mich nicht, dann hätte ich kein Problem. Dann wäre es einfach Pech, was passiert ist – wahrlich kein Grund zu verzweifeln.

Mein Problem ist, dass ich mich an Gott gehängt und ihm vertraut, dass ich seinem Reden geglaubt habe. Ich kann das nicht denken, aber alles sieht danach aus, als habe er sein Versprechen nicht gehalten.

Ich bin an Gott zerbrochen.

Jetzt weinen meine Augen wieder. Sie sind die Einzigen, die diesen Verrat verkünden. Ich selber schweige. Wem sollte ich meine Gedanken denn auch mitteilen? Wer könnte ertragen, dass ich an dem rüttle, was das Fundament des Lebens ist?

Glaubensgeschwister? Sie versuchen mich zurückzuhalten. „So darfst du nicht reden! Du versündigst dich!“

Ich bin radikal. Von Radix, die Wurzel. Erst haben sie mich dafür bewundert, jetzt sind sie entsetzt. Denn wer die Wurzel rauszieht, tötet die ganze Pflanze. Und davor haben sie Angst, dass der Baum des Lebens verwelken könnte. Deshalb schweige ich.

Und die anderen, die, die nicht an Gott glauben? Sie würden sich selbstzufrieden zurücklehnen: Siehst du, sagten wir’s dir nicht schon immer, dass Glauben nichts ist als Opium?

Wenn Glauben Opium ist, hatte ich eine Überdosis. Vielleicht werde ich an dieser Überdosis sterben. Aber noch, noch kämpfe ich. Ich kämpfe dafür, Gottes Ruf wiederherzustellen. Ich weiß, das ist Unsinn, aber …

Also drittens:

Wenn es Gott gibt und wenn er zu uns redet, vielleicht habe ich ihn dann einfach falsch verstanden.

Das wäre allerdings schlimm, denn wenn es mir nicht gelingt, Gott zu folgen, obwohl ich es von ganzem Herzen begehre, wie soll ich dann leben? Überhaupt: Was wäre das für ein Gott, der sich nicht verständlich machen kann denen, die ihn hören wollen?

Bleibt also viertens:

Gott existiert. Und er redet. Und ich habe ihn richtig verstanden.

Und trotzdem ist nicht passiert, was Gott mir zugesagt hat.

Und genau das ist mein Problem.

Mein Kopf schmerzt. Ich lasse mich unter die Decke rutschen, stelle mich schlafend, als die Schwester kommt und fröhlich verkündet: „Oh, der Tropf ist ja schon durchgelaufen.“

2.

GANZ VON ANFANG

Aber ich denke, ich sollte ganz von Anfang erzählen.

Mein Name ist Joelle. Ich habe eine behütete Kindheit in Moers im Rheinland verbracht, wo ich mit meiner Familie eine wunderschöne Gründerzeitvilla mit Türmchen und Erkern bewohnte. Ich liebte das verwinkelte Haus mit seinen Gerüchen und all den Geräuschen – den Duft von Papas Bibliothek, dieses Gemisch aus alten Büchern, Holzvertäfelung und kaltem Kamin. Oft strich ich über die schweren Vorhänge aus Samt, die in kalten Wintern zugezogen waren, weil der Wind durch die einfach verglasten Fenster pfiff.

Vor allem aber liebte ich die vielen Klänge, mit denen das alte Haus mir seine Geschichten erzählte.

Manchmal versteckte ich mich im ehemaligen Rauchersalon, den wir als Gästezimmer nutzten. Als kleines Mädchen legte ich mich dann auf einen dieser weichen Teppiche, die alle Klänge einsammeln, als wollten sie sie für immer archivieren. Ich drückte mein Ohr in den dicken Flausch, um dem Nachhall der gelehrten Gespräche zu folgen, die in der Abgeschiedenheit dieses ehrwürdigen Gemäuers geführt worden sein mochten.

Oder ich saß viele Stunden auf der Fensterbank meines Turmzimmers, lauschte dem beredten Ächzen der Dielen, die meine nimmermüde Mutter unten im Erdgeschoss zum Knarren brachte, und betrachtete den riesengroßen Park mit den alten Rosskastanien, deren Äste sich im Wind manchmal wiehernd aneinanderrieben.

Unser Haus war umgeben von einem weiten Rasen, den im Frühling Herden von Blausternchen überzogen und über den im Herbst mit raschelndem Geflüster Armeen gelbbrauner Blätter jagten.

Als kleines Mädchen gab es für mich nichts Schöneres, als im Sommer mit meiner Familie unter dem Gewölbe der Bäume zu sitzen und dem vielstimmigen Konzert der Vögel zu lauschen. Bis ich aufs Gymnasium wechselte, war ich regelrecht dafür gefürchtet, zu den unmöglichsten Zeiten mit gepacktem Picknickkorb im Arbeitszimmer meines Vaters oder hinter Mamas Staffelei zu erscheinen, was stets als eine Einladung zu einem opulenten Mahl zu verstehen war. In diesem Korb befanden sich geschnitzte Obstfiguren, übergewichtige Sandwiches und allerlei Knabberkram aus Mamas verbotener Schublade.

Ich bin meinen Eltern heute noch dankbar, dass sie diesen Einladungen so oft gefolgt sind und sich mit mir und meinen beiden großen Brüdern auf der bestickten Decke niederließen.

Ich saß dann überglücklich zwischen Alex und Sebastian und bewunderte das wechselnde Licht, das durch das Kastanienlaub auf die rotblonden Haare meiner Mutter sickerte. Ich lauschte dem Klang von Papas dunkler, ruhiger Stimme, wenn er uns seine Träume von einer besseren Welt erzählte.

Papa war ein stiller, ehrbarer Mann, Bankdirektor von Beruf. Zurückhaltend und in allem, was er tat, von einem tiefen Ernst. Ich bin sicher, er hat meine Mutter geheiratet, weil sie das hatte, was ihm fehlte. Sie war nämlich völlig anders als er: wild und leidenschaftlich. Sie liebte es zu lachen und ständig sprudelte sie über vor Ideen. Sie hatte Kunst studiert und zog sich zum Malen oft in das kleine Atelier mit den türkisfarbenen, ewig klappernden Fensterläden zurück, das Papa im Park für sie hatte bauen lassen.

Mama hatte ein sehr feines Gespür für alles, was um sie herum geschah. Vor allem witterte sie jede Form von falschem Schein und konnte Heuchelei auf den Tod nicht ausstehen.

Mit ihrer schonungslosen Ehrlichkeit machte sie sich allerdings nicht nur Freunde. Sie war diesbezüglich unkalkulierbar und wir alle waren uns ständig der Gefahr bewusst, dass sie in nur wenigen Sekunden die harmonischste Runde in ein Schlachtfeld voller aufgeregt gestikulierender und beteuernder Menschen verwandeln konnte. Ich habe einige unauslöschliche Erinnerungen an derartige Vorfälle.

Zu den peinlichsten Momenten meines Lebens zählt jener Sonntagmorgen, an dem Mama beinahe die Konfirmation meiner Cousine Charlotte gesprengt hätte.

Es war das erste und zugleich letzte Mal, dass wir einen Gottesdienst besuchten. Als die hübsch gekleideten Jungen und Mädchen, aufgereiht vor dem Altar, nervös dem Lauf der Dinge entgegenlächelten, ahnte noch niemand, dass die Versammlung sich wenige Minuten später in heller Aufregung und kurz vor der Auflösung befinden würde. Ich spürte bereits, dass etwas vor sich ging, als meine Mutter neben mir unvermittelt vom Zustand unbeteiligter Gleichgültigkeit in höchste Wachsamkeit wechselte. Und zwar genau in dem Moment, als Wolfgang von Hellershausen, ein angesehener Geschäftsmann und einflussreiches Mitglied der Kirchengemeinde, die Szene betrat und anhob, vor der verträumt nickenden Gemeindeschar mit salbungsvollen Worten die Schönheit eines christlich-tugendhaften Lebenswandels zu loben. Ich war zehn und hatte keine Ahnung, dass der vornehme dauerlächelnde Mann da vorne, der so schöne Worte fand, seit Jahren seine Frau betrog und in Geschäftskreisen als äußerst gewissenlos galt. Dass etwas mit ihm nicht stimmen konnte, ahnte ich erst, als meine Mutter plötzlich aufstand und ihn lächelnd mit den Worten unterbrach:

„Es freut mich zu hören, dass auch Sie weder Ihre diversen Liebschaften noch Ihren zweifelhaften Umgang mit Geschäftspartnern für moralisch halten, sehr geehrter Herr von Hellershausen. Und es bereitet mir äußerstes Vergnügen, dass man ausgerechnet Ihnen hier das Wort erteilt, da es mir beweist, dass man in der Kirche Sinn für Skurriles hat.“

Der dann folgende Abgang unserer Familie verlief reibungslos – wir hatten immerhin Übung darin. Und obwohl alle wussten, dass meine Mutter recht hatte, lud man uns nie wieder zu derartigen Familienfesten ein.

Mit derselben Vehemenz setzte sich meine Mutter allerdings auch für die Benachteiligten ein, engagierte sich gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung, für Frauenrechte, Flüchtlinge und gegen Menschenhandel.

„Dafür brauche ich weder einen Pastor noch eine Bibel“, fasste sie ihre Einstellung Religion und Kirche gegenüber zusammen. Eine Meinung, die wahrscheinlich auch mein Vater teilte, auch wenn er sich nie dazu äußerte.

Trotz solcher Vorfälle war meine Familie für mich wie ein Land, in dem ich sicher wohnte und das ich am liebsten niemals verlassen hätte, denn jenseits seiner Grenzen fühlte ich mich verkehrt.

Ich verstand nicht, wie die Welt da draußen funktionierte, gerade weil meine Mutter mir immer wieder vor Augen führte, dass die Dinge nicht so waren, wie sie zu sein schienen. Und je älter ich wurde und je mehr ich die Welt um mich herum wahrnahm, desto scheuer wurde ich. Es irritierte mich, Menschen zu beobachten, die scheinbar ausgelassen lachten, und gleichzeitig zu spüren, dass sie ihre schweren Lasten voreinander versteckten. Es verwirrte mich, wenn Menschen sich in offensichtlicher Leichtigkeit über Belangloses zu amüsieren schienen, ich hingegen übermächtig ihr gegenseitiges Misstrauen spürte.

Ich sah durch ihre Masken hindurch und merkte, dass sie versuchten, jemand anderes zu sein, und ich wusste nicht, wem von beiden – dem Trugbild oder der Wirklichkeit – ich begegnen sollte. Das machte mich unsicher, denn ich spürte ihre Angst und ich sah nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: Mein Verstand sollte mir helfen, den Weg durch den Dschungel der Widersprüchlichkeiten zu finden. Ich analysierte alles in der Hoffnung, die Welt zu verstehen, aber es erging mir wie dem Chirurgen, der auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens den Körper in immer kleinere Teile zerlegt: Je mehr ich zu verstehen versuchte, desto weniger verstand ich. Ich ahnte nur, dass es etwas geben musste, das alles in sich vereinte. Etwas, das in allem war und die vielen Widersprüche miteinander versöhnte.

Ich suchte nach dem Zusammenhang zwischen den Dingen und nannte es später der Einfachheit halber „Sinn des Lebens“.

Kurzum: Ich war im Grunde unfähig, mich in dieser Welt zu Hause zu fühlen, ich war und blieb in ihr ein recht ungeschickter Gast, bemüht, möglichst unauffällig zu bleiben.

Der Verdacht, ich sei versehentlich im falschen Sonnensystem abgesetzt worden, verstärkte sich während der Pubertät sogar noch.

Ich schätze, ich habe den Ernst und die Nachdenklichkeit meines Vaters und das feine Gespür meiner Mutter geerbt. Ein schweres Erbe, wie ich fand, denn oft beneidete ich meine Schulkameraden darum, dass es ihnen so leichtfiel, sich zu amüsieren, sich Urteile zu bilden, sich zu verlieben. Ich war nicht in der Lage, die Dinge einfach so hinzunehmen, wie sie zu sein vorgaben. Für mich war all das immer kompliziert. Ich hatte hohe moralische Standards, verabscheute die Lüge, konnte Ungerechtigkeit nicht ertragen – ich weiß, das klingt furchtbar verkrampft, aber ich konnte nichts dagegen tun.

Manchmal wünschte ich mir, die ständige Frage nach dem Sinn des Lebens hätte mich nicht dauernd verfolgt wie eine hartnäckige Gouvernante. Dann hätte ich sicher ausgelassen mit meinen Schulkameradinnen über allerlei dummes Zeug kichern können, angetrieben von Eierlikör und Schmetterlingen im Bauch.

Stattdessen quälte ich mich als Jugendliche auf der Suche nach Antworten durch philosophische Werke, obwohl ich manchmal nicht einmal die Hälfte davon verstand. Auch Kant und Konsorten suchten offensichtlich nach jenem allgemeinen Prinzip, dem „Gesamtsinn der Wirklichkeit“, und nannten es vornehm „Logos“. Ich las Hesse, Goethe und Heine und spürte, dass auch sie nicht viel mehr wussten als ich, sondern lediglich die Begabung hatten, jene entscheidende Frage sehr bewegend zu formulieren. Ihre Antworten aber ließen mich enttäuscht zurück.

Wenn ich gekonnt hätte – ich weiß nicht, vielleicht hätte ich getauscht, wäre lieber die quirlige, freche Mariella gewesen oder die souveräne Nicole. Aber ich war nur ich: ein nachdenkliches, scheues Mädchen, nett, aber seltsam. Dabei war mein einziges Problem, dass ich den Weg durch das Dickicht der Dinge nicht fand und keine angemessene Sprache, die all das hätte ausdrücken können, was in einem einzigen winzigen Moment steckte.

Eine Sprache aber fand sich doch, die mir weniger trügerisch erschien. Eine Sprache, die den Weg fand in meine gut behütete Seele und auch wieder aus ihr heraus: die Musik.

Ich mochte damals wohl nicht älter als vier, fünf Jahre gewesen sein, als meine Eltern mit mir ein Konzert des Thomaner-Chores besuchten. Für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich war überwältigt und es schien mir beim Klang der Musik, als gebe es keine Grenzen mehr, kein Oben und kein Unten, kein Drinnen und kein Draußen. Natürlich verstand ich das als Fünfjährige nicht, aber etwas hatte mich dort berührt, wo sonst nichts hineindrang.

Später erzählten meine Eltern oft lachend, wie ihr kleines, sonst so genügsames, braves Töchterchen mit in die Hüften gestemmten Händen unter allen Umständen zu den Thomanern gewollt hatte und die Erklärungen, Mädchen seien da nicht erlaubt, keinesfalls hatte akzeptieren wollen. Meine Mutter hatte in dem Augenblick gewusst, dass ihre Kleine für die Musik bestimmt war. Nie zuvor und nie danach habe sie in meinem Gesicht eine solche Entschlossenheit gesehen.

Sie war es dann auch, die mich jahrelang zum Kinderchor und später zum Gesangsunterricht fuhr.

Das Klavierspielen begann ich im Alter von acht Jahren. Stunden über Stunden verbrachte ich am Flügel in unserem Wintergarten und wurde in der Familie bald als „Wunderkind“ gehandelt. Mein Vater war ungeheuer stolz auf mich und jede noch so entfernte Verwandtschaft wurde dazu verdonnert, meinem Spiel zu lauschen. Ich gab brav diese Konzerte, um Papa die Freude zu machen, obwohl ich viel lieber spielte, wenn ich alleine war.

Nur Opa Joschka, Papas väterlicher Freund, durfte mir gerne zuhören. Er war Bildhauer mit riesigen Bildhauerhänden, und wenn ich spielte, setzte er sich stets auf den Schemel, der Mama als Tritt diente, wenn sie die vielen Blumen im Wintergarten goss. Er hockte immer rechts neben dem Flügel zwischen den Orchideen, und wenn Opa Joschka lauschte, konnte ich auf seinem breiten, sanften Gesicht die ganze Welt lesen. Mit geschlossenen Augen schien er die Bilder zu betrachten, die entstanden, wenn meine Finger auf der Tastatur die Innenräume meiner Seele nachzeichneten. In diesen Momenten spürte ich, dass ich für Opa Joschka nicht mehr unsichtbar war.

Immer wenn Opa Josch zu Besuch kam, gingen wir beide nach dem Kaffeetrinken in wortlosem Einverständnis in den Wintergarten. Er hat mir nie applaudiert, sondern mein Spiel immer mit langem Schweigen beantwortet. Je älter ich wurde, desto mehr verstand ich diese Art von Gespräch, das wir führten, von Seele zu Seele.

Ich erinnere mich an jenen Sommertag, als die Familie im Freundeskreis zu Tisch saß und die Rede irgendwann auf mich, die scheue Tochter des Hauses kam.

„Du solltest dich nicht so verkriechen“, ermahnte mich Julia, die Frau eines Kollegen meines Vaters. „Ein junges Mädchen sollte sich verabreden, ins Kino gehen, mit Jungs flirten; du bist so verschlossen, Joelle, das ist nicht gut.“

„Lasst sie, sie ist halt sehr introvertiert, da gibt man nicht so gerne etwas von sich preis“, verteidigte mich Papa. Ich aber musste sehr unglücklich dreingeschaut haben, denn als Opa Josch und ich uns in den Wintergarten zurückzogen und er zwischen den Orchideen Platz genommen hatte, flüsterte er: „Glaub ihnen nicht, Jo. Keiner von ihnen mit all ihren Worten hat je so viel von sich erzählt wie du in wenigen Takten deiner Musik.“

Ich liebte Opa Josch sehr und der Anblick des leeren Stuhles in der ersten Reihe schmerzte mich entsetzlich, als ich nach dem Abitur mein Aufnahmekonzert an der Musikhochschule Detmold gab. Da lag er schon ein halbes Jahr in seinem Sarg und trug wohl noch immer sein schönes Bildhauerlächeln. Seitdem hoffte ich, eines Tages wieder jemandem zu begegnen, der all das, was ich nur durch Musik sagen konnte, verstand.

Ich bestand die Aufnahmeprüfung in Detmold und zog in die dritte Etage des Studentenwohnheimes. Ich hätte zwar viel lieber eine eigene kleine Wohnung gehabt, aber meine Eltern fanden, es täte mir gut, mehr unter die Leute zu kommen.

„Du wirst sehen, das ist die richtige Entscheidung“, hatte mein Vater gesagt, „das Studentenleben verbringt man nicht hinter verschlossenen Türen.“

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sie recht gehabt hatten. Es war gut, dass ich im Stuwo wohnte, sonst hätte ich meine Flurgenossin Michaela und ihre Truppe sicher nicht kennengelernt. Eine ausgelassene Runde, die viel miteinander unternahm. Ich beobachtete sie aus sicherer Distanz. Dabei fiel mir auf, dass es etwas zu geben schien, das sie miteinander verband, etwas Unsichtbares, das ich mir nicht erklären konnte, und es war das erste Mal, dass ich nicht diesen unüberwindlichen Abgrund zwischen Menschen fühlte. Ich wusste damals nicht, dass das der Geist Gottes war, ihr „Leib-Christi-Sein“. Überhaupt wusste ich von all diesen Dingen noch nichts.

Ich sah sie lediglich jeden Montag und manchmal donnerstags in Michaelas Zimmerchen verschwinden. Ihr Lachen, ihr Singen und ihre angeregten Diskussionen konnte ich dumpf durch den Gipskarton hören.

„Möchtest du nicht auch mal kommen?“, hatte mich Michaela eines Tages beim Abwasch gefragt. „Wir reden über den Sinn des Lebens und so. Würde mich freuen.“

Ich hatte lächelnd genickt und schließlich saß auch ich jenseits des Gipskartons und lauschte gespannt, wie sie begeistert über uralte Geschichten aus der Bibel redeten. Ich verstand zwar nicht, weshalb sie das taten, aber mir gefiel der Eifer, mit dem sie bei der Sache waren.

Immer häufiger ging ich zu diesen Treffen und bekam im Laufe der Zeit mehr und mehr den Eindruck, dass diese Leute die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens tatsächlich gefunden hatten, auch wenn sie ihn mir nicht begreiflich machen konnten. Ihre Erklärung, Gott habe ihnen ewiges Leben geschenkt, schien mir doch reichlich vage.

Einmal erzählten sie mir, dass sie sich „zufällig“ – sie kratzten die Gänsefüßchen in die stickige Luft der überfüllten Studentenbude – alle auf dieser Etage des Studentenwohnheims angemeldet hatten, ohne einander zu kennen, ohne voneinander zu wissen und dann „zufällig“ entdeckt hatten, dass sie alle Christen waren. „So groß ist Gott“, hatten sie gemeint, aber ich fand, das bewies weniger die Existenz Gottes als die kindliche Naivität seiner Nachfolger.

Trotzdem lernte ich sehr viel von ihnen und ich mochte die gemeinsamen Unternehmungen. Aber auch hier blieb ich eine Fremde, denn sie glaubten an Gott und ich nicht. Genau das, was sie verband, schloss mich aus.

Oft wenn ich lange Stunden am Klavier verbrachte, dachte ich über diesen Jesus nach, von dem sie sagten, er sei der auferstandene Sohn Gottes. Ich erwischte mich, wie ich betete, er, dessen Existenz ich so vehement anzweifelte, möge sich mir doch zeigen, auch wenn ich keine Vorstellung hatte, wie man als Gott so ein Gebet wohl erhören sollte.

Ich stürzte mich wie eine Besessene in die Musik, als könnte ich dort die Wahrheit finden.

Und tatsächlich fand ich sie dort. Ich hatte wie so oft die ganze Nacht wach gelegen, mich unruhig in meinem Bett gewälzt und meine CDs durchgehört. Beim Messias von Händel, der Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, in dem Raum zwischen Wachen und Schlafen, verstand ich mit einem Mal. Ein Geistesblitz vielleicht. Ich begriff plötzlich, dass nur Gott selber die Unendlichkeit zwischen sich und seinen Geschöpfen überwinden konnte. Christus war der Zusammenhang, den ich immer schon gesucht hatte.

Zwei Tage später gab ich ihm mein Leben.

In dem Augenblick riss mein ganzes Leben herum wie die Nadel eines Kompasses, der endlich Norden gefunden hatte. Das lange Suchen meines Herzens hatte ein Ende. Nichts war mehr belanglos, denn jetzt wusste ich, dass es einen ewigen Gott gab und dass Christus der Urgrund, die Antwort, das Zentrum war. Alles begann und alles endete in ihm, er verband die auseinandergefallenen Dinge im Innersten. Er verwob die Menschen miteinander. Christus war das Logos, nach dem die Philosophen suchten: das eine fleischgewordene Wort, in dem alles gesagt ist.

Ich ließ mich taufen.

Mit demselben Eifer, mit dem ich die Wahrheit gesucht hatte, las ich die Bibel. Ich wollte alles über meinen neuen Herrn wissen. Je besser ich ihn kennenlernte, desto rückhaltloser vertraute ich ihm. Ich wusste: Wenn es etwas gab, auf das Verlass war, dann war es Gott. Er ist treu, sein Wort gilt, denn es ist das Wort, das alles geschaffen hat und erhält. Was Gott verspricht, das hält er gewiss. Gottes Wort ist ein schöpferisches Wort. Gott sprach zu dem Nichts und das Universum wurde. Gottes Wort geschah zu einem jungen hebräischen Mädchen und das Mädchen wurde mit dem Messias schwanger.

Ich erlebte eine aufregende Zeit. Die Bibel wurde immer wesentlicher für mich. Ich wollte in allem Christus nacheifern und auch meine eigenen Worte sollten mehr denn je wahr und verlässlich sein.

Auch meine Musik veränderte sich. Sie wurde zu einer zärtlichen Sprache zwischen dem Schöpfer und mir, seinem Geschöpf. Egal was ich spielte, sie wurde in Klang gekleidetes Gebet, Lobpreis. Musik war wie eine Tür, hinter der Gott wohnte.

Natürlich war ich nicht mit einem Mal eine ganz andere. Ich war noch immer sehr zurückgezogen, und wenn ich gerade nicht studierte, Klavier oder Geige spielte oder in der Bibel las, verbrachte ich meine Zeit mit meinen Glaubensgeschwistern aus dem Stuwo. Zu meinen anderen Kommilitonen hingegen hatte ich wenig Kontakt.

Trotzdem lernte ich im vierten Semester Felix kennen. Am Schwarzen Brett, jenem Ort, an dem Musikstudenten die Gesuche kulturaffiner Bürger nach Jobs abgrasen. Musikstudenten werden nämlich gerne für Hochzeiten, Geburtstage oder Jubiläen engagiert. Die Tatsache, dass man lächerlich wenig Geld dafür bekommt, wird mit dem Versprechen von „Bühnenerfahrung“ wortreich entschuldigt.

Genau vor diesem überfüllten Brett stand ich, entschlossen, mir mein erstes Geld als Musikerin zu verdienen. Zettel über Zettel drängten sich dort:

Tastenfrau/Tastenmann gesucht für Smooth,
Chill Out &Lounge Musik
Suche soliden Pianisten à la Nicky Hopkins
Pianist für gehobenes Ambiente bei Firmenfeier gesucht

Mir wurde mulmig. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, bei einer dieser Veranstaltungen hinter einem Klavier zu sitzen. Schmerzlich sehnte ich mich nach den Konzerten mit Opa Josch im Wintergarten zurück.

„Gehobenes Ambiente bei Firmenfeier“. Ich wollte nicht. Noch nicht. Später vielleicht.

Im Weggehen rannte ich mit voller Wucht in einen türkisfarbenen Pulli, in dem ein langhaariger Saxofonist steckte, wie ich zweifelsfrei am Saxofongurt um seinen Hals erkannte.

„Holla!“, rief er, „nicht so stürmisch!“, und verstellte mir den Weg. Dabei lächelte er mich fragend an und ich lächelte unsicher zurück. „Du scheinst es aber eilig zu haben“, meinte er, während ich versuchte, mich wortlos an ihm vorbeizudrängen. Ich wollte schnellstmöglich weg.

„Es ist also doch wahr“, sagte der Saxofonist. Seine tiefe, warme Stimme passte gar nicht zu dem jungenhaften Lächeln.

„Was ist wahr?“, fragte ich unwillig und beobachtete die hellbraune Locke, die ihm über die Stirn fiel. Sie war schulterlang wie der Rest, wollte aber wohl nicht zu den anderen Locken ins Haargummi.

„Ein scheues Reh, erzählt man sich. Es soll schwierig sein, mit dir ins Gespräch zu kommen.“

„Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, worüber wir uns unterhalten sollten“, wehrte ich spitz ab, was zugegebenermaßen deutlich mehr nach zänkischer Ziege klang als nach Reh.

„Na, mal sehen, was uns so einfällt“, erwiderte der Saxofonist kess, von meiner kratzbürstigen Art offensichtlich unbeeindruckt.

„Wetter nimmt man in solchen Fällen gerne“, konterte ich und versuchte wenigstens nach Lamm zu klingen. Der Saxofonist hatte mir ja schließlich nichts getan, abgesehen von dem Versuch, mir ein Gespräch aufzudrängen.

„Wetter können wir recht schnell erledigen, denke ich, und dann meinetwegen über Musik reden – liegt ja nahe“, gab er zurück und dozierte: „Also: Die Warmluftfront über Nordeuropa hält sich seit Tagen stabil und wird wohl erst am Mittwoch durch ein atlantisches Tief verdrängt.“ Er machte dabei eine bedeutsame Miene und ausschweifende Armbewegungen. „Willst du noch weitere meteorologische Details hinzufügen oder sollen wir lieber über das Klima zwischen uns beiden reden?“

Hilfe!, dachte ich, was ist das denn für ein Gespräch?, und fing an, nach Worten zu suchen, was sich jedoch als überflüssig herausstellte, weil der Saxofonist ohnehin weiterredete: „Ich dachte, wir plaudern ein wenig, ich lasse das eine oder andere Detail über meine Person fallen, damit du mich am Ende für einen tollen Hecht hältst, und dann lade ich dich im Anschluss zum Kaffee ein. Wäre dir dieses Gesprächsmodell recht?“

„Na ja, es hat sich wohl vielfach bewährt, aber die Gefahr besteht, dass ich dich für einen Angeber halte und du den Kaffee am Ende alleine trinken musst“, gab ich zurück.

„Das Risiko gehe ich ein“, grinste er.

Dann standen wir einige Sekunden sprachlos da, ganz komisch fühlte ich mich, dann fragte der Saxofonist schließlich: „Was ist mit dem Kaffee?“

„Wolltest du mich nicht erst davon überzeugen, dass du ein toller Hecht bist?“, sagte ich seltsam aufgekratzt und wieder standen wir unschlüssig voreinander, bis der Saxofonist mir unsicher lächelnd seine Hand entgegenstreckte.

„Ich bin Felix.“ Seine Saxofontasche rutschte von der Schulter.

„Mhm“, murmelte ich. „Joelle.“

„Ich weiß“, erwiderte Felix, beugte sich vor und flüsterte: „Ich lasse dich nämlich schon länger beobachten.“

Meine sowieso schon nicht allzu freundliche Miene verfinsterte sich schlagartig. Damit war er definitiv zu weit gegangen!

Das merkte Felix auch sofort und begann herumzudrucksen: „Äh, hast du denn was gefunden?“, versuchte er die Situation herumzureißen, während er zum Aushang hinübernickte. „Ich meine, eine Party, auf der du spielen willst?“

„Ich will auf keiner Party spielen“, antwortete ich kurz angebunden und schickte mich an, im grummelnden Crescendo des in diesem Moment aus dem Audimax quellenden Studentenstromes unterzugehen, aber Felix hielt mich am Arm fest.

„Tut mir leid, das mit dem Beobachten, ich wollte nur …“ Dann trat er einen Schritt zur Seite und ließ mich gehen. Ich schenkte ihm noch ein schiefes Lächeln und tauchte ab.

In den folgenden Tagen ging mir dieser Felix nicht aus dem Kopf, obwohl oder gerade weil ich versuchte, unser seltsames Gespräch und seine lächelnden Augen zu vergessen. Es hatte mir doch irgendwie Spaß gemacht. „Ich lasse dich beobachten.“ Komisch, dass ich ihm unter all den extrovertierten Paradiesvögeln, die an der Hochschule herumliefen, überhaupt aufgefallen war.

Ein paar Tage später setzte Felix sich in der Mensa neben mich.

„Ich soll übernächste Woche auf einer Hochzeit spielen und suche noch eine Pianistin“, begann er grußlos das Gespräch und schaute mir direkt in die Augen.

Irritiert wich ich seinem Blick aus.

„Am liebsten hätte ich dich“, ergänzte er und ich spürte die Verlegenheit, die er hinter seiner Forschheit zu verbergen suchte.

„Du weißt doch gar nicht, wie ich spiele“, konterte ich unsicher.

„Ich vermute, du spielst fantastisch“, sagte er. „So jemand wie du kann nur fantastisch spielen“, und prostete mir mit der Flasche Apfelschorle zu, in der ein Strohhalm aufgeregt auf und ab wippte.

Ich schüttelte stumm den Kopf.

„Ach, komm schon. Ich kenne das Brautpaar. Nette Leute. Sag Ja!“, bettelte er.

„Ich weiß nicht …“

Auf der einen Seite wollte ich sein Angebot annehmen, auf der anderen auch wieder nicht. Dieser Mensch brachte mich ganz schön aus der Ruhe. Aber mir fiel einfach kein stichfestes Argument ein abzulehnen, also sagte ich zu und wir verabredeten uns zum Üben in einem der Hochschulräume.

Ich saß bereits am Flügel, als Felix kam. „Spiel erst mal irgendwas“, meinte er und schraubte das Mundstück auf sein Instrument, „ich falle dann irgendwann ein.“

Aber dazu sollte es nicht kommen. Statt zu spielen, ließ er das Saxofon in seinen Schoß sinken und hörte so gebannt zu, wie nur Opa Josch zugehört hatte, und genau wie Opa Josch schwieg Felix lange, nachdem ich geendet hatte.

„Danke“, sagte er schließlich. „Danke für dein Vertrauen.“

Ich glaube, an jenem Nachmittag verliebte ich mich in ihn.

Unser gemeinsamer Auftritt bei der Hochzeit war toll, hinter der kleinen Bühne alberten wir herum und ich fühlte mich, als hätte ich der Hochzeitsgesellschaft den gesamten Sekt ausgetrunken.

Das ganze Semester über musizierten Felix und ich oft miteinander und redeten viel über Gott und die Bibel.

Im Wintersemester bekehrte Felix sich. Sein Taufspruch war Johannes 14,13+14: „Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht werde im Sohn. Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun.“

Vier Monate danach schlenderten Felix und ich über die Detmolder Kirmes. So ein Rummel mit seinem gehetzten Lärm ist naturgemäß nicht mein Ding, aber bekanntermaßen vermag die Liebe aus einem Hänfling einen Titanen und aus einer Ansammlung von Schießbuden das Vorzimmer des Paradieses zu machen. Wir waren aufgedreht, Felix spendierte mir Karussellfahrten und Zuckerwatte. Als wir vor einem knallbunten Wagen voller Lebkuchenherzen stehen blieben, blickte Felix mich unsicher lächelnd an.

„Wag es ja nicht, mir jemals so ein Lebkuchenherz zu schenken, wenn du es dir mit mir nicht verderben willst“, warnte ich ihn und boxte ihm sanft gegen die Schulter. „Dann ist es aus zwischen uns.“

„Oh!“, rief Felix grinsend. „Und warum?“