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Für Ernst-Werner,
bei dem meine Seele das Blühen lernte

© 2005 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Lektorat: Petra Hahn-Lütjen

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Die Feder GmbH, Wetzlar

ISBN 978-3-7655-3798-1

eISBN 978-3-7655-7365-1

INHALT

Wer immer nur gibt …

1. Der Baum – ein Beispiel der Balance von Geben und Nehmen

2. Die Rollen, die wir spielen

3. Was treibt uns? – Die inneren Antreiber und ihre Entstehung

4. Maria und Marta – zwei ungleiche Schwestern

5. Wurzelpflege – die Kunst des Nehmens und Annehmens

6. Jesus von Nazareth – ein Mensch, der zu geben und zu nehmen wusste

7. Vom Getriebensein zum Getragensein

Anmerkungen

Beate M. Weingardt

Wer immer nur gibt …

Die eigene Balance finden

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WER IMMER NUR GIBT

Vorwort

Wer kennt ihn nicht, den Moment, wo man am liebsten alles stehen und liegen lassen und flüchten möchte … ins Bett, in die Badewanne, in die Ferne, egal. Hauptsache weg. Man hat das Gefühl „Ich lebe nicht mehr, ich werde gelebt!“. Alle Freiheit, Spontaneität und Lebensfreude scheinen begraben unter einem Berg an Aufgaben, Verpflichtungen, Terminen und Erwartungen, die an uns gestellt werden und die wir nicht einfach abschütteln können. „Wo bleibe ich?“, fragen wir uns immer häufiger.

Was tun in so einer Situation?

Einfach tief durchatmen und dann weitermachen wie bisher? –Dann wird über kurz oder lang irgendeine Form des Zusammenbruchs oder der Krise die Folge sein.

Einfach öfter nein sagen? –Gar nicht so einfach, wenn man es jahrelang nicht geübt hat!

Sie merken es, „einfache“ Auswege gibt es aus dieser Lage nicht. Das vorliegende Büchlein soll Ihnen helfen, das Grundgesetz des Lebens – das Gleichgewicht von Geben und Nehmen – auch in Ihrem persönlichen Leben zu entdecken, Schritt für Schritt einzuführen und in die Praxis umzusetzen. Wie gesagt: Es handelt sich um einen Weg; für manche wird er lang sein, für manche eher kürzer.

Doch ein jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt, und der heißt: innehalten, nachdenken, wo man hin möchte. Dann: Wegweiser oder Karte zu Rate ziehen.

Ein solcher Wegweiser, eine Orientierungshilfe auf der spannenden Reise zu einem Leben im Gleichgewicht und in innerer und äußerer Harmonie soll dieses Buch sein.

1. DER BAUM – EIN BEISPIEL DER BALANCE VON GEBEN UND NEHMEN

„Wer könnte leben
ohne den Trost der Bäume?“
Günter Eich
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Bäume haben die Menschen immer schon fasziniert.Nicht nur, weil sie groß und mächtig, schön und anmutig, langlebig und zäh sind, sondern auch, weil der Mensch in ihnen vieles von dem wiederfindet – oder zu finden glaubt –, wonach er sich oft im tiefsten Herzen sehnt: feste Verwurzelung und gleichzeitig ein beharrliches Streben nach oben, himmelwärts. Robuste Standhaftigkeit und dennoch elastisches Mitschwingen mit dem Wind. Eine Art Gelassenheit, verbunden mit Lebendigkeit. Zuverlässigkeit, aber auch Verletzlichkeit.

„Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.
Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden
und tauscht bei ihnen seine Seele um.“

So dichtete Erich Kästner2. Alte Bäume strahlen Weisheit aus – kein Wunder, dass der Mensch sich zu ihnen hingezogen fühlt und dass es Menschen gibt, die nach ihrem Tod zu Füßen eines Baumes, sozusagen im schlichten Waldesgrund, begraben sein möchten. Zur Weisheit der Bäume im Wechsel der Jahreszeiten gehört auch das perfekte Gleichgewicht von Geben und Nehmen. In ihrer stillen und unaufdringlichen Weise sind sie für uns Menschen ein lebendiges Gleichnis, von dem wir vieles für uns selbst lernen können. Dies wussten auch schon die Menschen im alten Israel. Für sie hatten Bäume wegen des heißen und trockenen Wüstenklimas, das in weiten Teilen des Landes herrschte, noch einmal eine ganz besondere Bedeutung. Besonders eingehend hat sich der Verfasser des ersten Psalms mit Bäumen beschäftigt. Hier die ersten Verse in leicht gekürzter Form:

„Wohl dem Menschen, der nicht im Kreis der
Gottfernen weilt
und die Wege der Sünder nicht beschreitet,
sondern Freude an der Weisung Gottes hat
und Tag und Nacht über sie nachdenkt.
Der wird sein wie ein Baum,
an Wasserbächen gepflanzt,
der seine Frucht bringt zu seiner Zeit
und seine Blätter verwelken nicht;
und was immer er macht: Es gerät wohl . . .“

Die Weisheit der Bäume – welche ihrer Eigenschaften und Wesensmerkmale sind es, von denen wir Menschen im Betrachten und Nachdenken etwas für die Gesetze unseres eigenen Lebens lernen können? Einige, die mir wesentlich sind, möchte ich – in vereinfachter Darstellung – aufzeigen:

1. Ohne Nährstoffaufnahme entwickelt ein Baum keine Blätter, keine Blüte und keine Frucht.

Was immer ein Baum hervorbringt – er muss zuerst selbst ein „Nehmender“ sein. Deshalb sind die Wurzeln für ihn lebenswichtig. Diese Wurzeln geben ihm nicht nur Halt und Stabilität, sondern sie führen ihm auch durch das Wasser, das sie aufnehmen, all jene Stoffe zu, die der Baum zu Wachstum und Gedeihen braucht. Ein gesunder Baum wächst immer in zwei Richtungen: in die Tiefe (wo es niemand sieht) und in die Höhe – und Breite. Denn er kann nichts „geben“, was er zuvor nicht empfangen hätte. Dies gilt auch für uns Menschen.

2. Entscheidend für die Entwicklung und Gesundheit des Baumes ist der „Untergrund“, in dem er verankert ist.

Ein Baum kann sich seinen Standort nicht aussuchen. Er wächst dort, wo sein Samen hinfiel oder wo er von Menschenhand gepflanzt wurde. Auch für unsere menschliche Entwicklung und Lebensqualität ist entscheidend, wo wir verwurzelt sind – in welchen Beziehungen und Werthaltungen, aber auch in welchem Glauben (oder Nichtglauben).

Als Kinder ist uns dies alles – wie dem Baum – durch unser Hineingeborensein in eine bestimmte Familie weitgehend vorgegeben. Doch je älter und erwachsener wir werden, desto mehr haben wir die Aufgabe, uns selbst auf den Weg zu machen und unseren eigenen, für uns geeigneten „Wurzelgrund“ zu suchen. Dies setzt voraus, dass wir uns bewusst die Frage stellen, ob der Ort, an dem wir uns gerade befinden, für unser Gedeihen, unsere Entwicklung und Fruchtbarkeit wirklich geeignet und hilfreich ist. Denn im Gegensatz zum Baum können wir auch den Standort wechseln – wir können uns aufmachen zu neuen, gesünderen Wurzelgründen.

3. In Krisen und Belastungszeiten zeigt sich besonders klar die Qualität des Untergrundes, in dem ein Baum oder ein Mensch seinen Halt hat, der ihm Kraft und Beharrungsvermögen gibt. Dies wird in einem anderen Baum-Vergleich deutlich, der im Buch des Propheten Jeremia (Kapitel 17, Vers 8) zu finden ist:

„Gesegnet ist der Mensch, der sich auf Gott verlässt und dessen Zuversicht Gott ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hinstreckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, sondern seine Blätter bleiben grün; und er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.“

Hier kommt auch die Zeit der Krise („Hitze/dürres Jahr“) zur Sprache. Die Zeit, wo es am Lebensnotwendigen fehlt, wo akuter Mangel herrscht. Die Verse sagen uns: Der Mensch, der seinen „Lebensstandort“ sorgfältig gewählt und intensiv gepflegt hat, wird auch in solchen Belastungszeiten über genügend Ressourcen und Kraftquellen verfügen, die ihm Durchhaltevermögen und Hoffnung geben.

Viele Menschen in heutiger Zeit gestalten ihr Leben jedoch so, als ob es für sie persönlich ausgeschlossen wäre, in eine körperliche, geistige oder seelische Notlage zu geraten. Sie leben, kurz gesagt, in der Hoffnung „Mich wird es schon nicht erwischen“. Deshalb versäumen sie es, auf die Qualität ihres Lebensfundamentes zu achten. In Notzeiten rächt sich dieses Versäumnis, denn eine geistig-spirituelle Verankerung lässt sich nicht im Schnellverfahren nachholen. „Instant“-Wurzeln gibt es noch nicht, ebenso wenig wie Instant-Freunde oder Instant-Glaube.

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