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Die Kinder
des großen Königs

&

Die Melodie des Königs

Legenden und Weisheitsgeschichten von

Max Lucado

Tell me the Story.

Tell me the Secrets.

Originalausgaben: Crossway Books, a publishing ministry of
Good News Publishers, Wheaton, Illinois 60187, U.S.A.
Beide Ausgaben erscheinen aufgrund einer Vereinbarung mit
Good News Publishers. Alle Rechte vorbehalten.

Die Geschichte Die Wemmicks ist unter dem Titel

Bibelzitate erfolgen i.d.R. nach der Übersetzung: Hoffnung für alle.

Übersetzung aus dem Englischen: Gabriele Herling
Lektorat: Renate Hübsch

3. Gesamtauflage 2015

Inhalt

DIE KINDER DES GROßEN KÖNIGS

Vorwort: Wenn Mäuse brüllen

Am Anfang

Der Fall

Auferstehungsmorgen

Die Kinder des großen Königs

Der Verlorene

Ehe es zu spät ist

DIE MELODIE DES KÖNIGS

Wenn Sie dieses Buch mit Ihren Kindern lesen

Das Schattenhaus

Das Geheimnis der Vergebung

Das Geheimnis des Sieges

Das Geheimnis des Wachsens

Das Geheimnis der Liebe

Das Geheimnis der Größe

Das Geheimnis des Lebens

Die Kinder
des großen Königs

und andere Geschichten

Für Zachary und Jared

Meinen Freunden und Mitarbeitern Bryan und
Becky Gibbs und ihren vier Söhnen Bryan, Lucas,
Benjamin und Samuel in Dankbarkeit für zehn Jahre
hingebungsvollen Einsatz für Brasilien.

MAX LUCADO

»So handelt Gott! So machtvoll greift er ein!«

PSALM 64, I0

VORWORT

Wenn Mäuse brüllen

Die zweijährige Sara sitzt auf meinem Schoß. Wir sehen im Fernsehen einen lustigen Film über einen Mann, der eine Maus in seinem Zimmer hat. Er schläft. Dann öffnet er ein Auge und blinzelt genau in das Gesicht des Nagetiers. Die Kamera geht auf Augenhöhe mit der Maus, und plötzlich ist der gesamte Bildschirm ausgefüllt von zwei blanken Augen, langen Barthaaren und einer zuckenden Nase. Ich lache. Aber Sara hat Angst. Sie wendet sich vom Fernseher weg und vergräbt ihren Kopf an meiner Schulter, klammert sich ganz fest an meinen Hals, und ihr kleiner Körper wird ganz starr. Sie glaubt, dass die Maus sie fangen wird.

»Es ist alles in Ordnung, Sara«, versichere ich ihr.

Sie klammert sich weiter an mich. »Es ist doch nur ein Film.«

Sie blinzelt mit einem Auge zu mir hoch und vergräbt ihr Näschen wieder in meinem Hemd.

»Maus kriegt mich«, wimmert sie.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sage ich. »Es ist keine echte Maus.«

Ich spreche in bestimmtem Ton, weil ich da ganz sicher bin. Es ist nichts da, wovor man sich fürchten müsste. Ich weiß es. Ich habe schon früher Riesenmäuse auf dem Bildschirm gesehen. Ich weiß, dass sie wieder verschwinden.

Sara weiß es nicht. Zweijährige verstehen noch nicht, was Fernsehen ist. Nach ihrem Wissensstand kann der Nager, den sie auf dem Bildschirm sieht, jederzeit aus dem Kasten entkommen und sie verschlingen. In ihrer Vorstellung wird diese Maus immer da sein, wenn sie diesen Raum betritt. In ihren Augen ist ein Fernseher ein Glaskasten, in dem Riesenmäuse wohnen. Es gibt Grund, sich zu fürchten.

Also hat sie Angst.

Aber mit der Zeit kann ich sie überzeugen. Mit der Zeit nimmt sie mir ab, dass die Maus nur ein Spielzeug ist und der Fernseher ausgeschaltet werden kann. Bald sitzt sie wieder entspannt auf meinem Schoß, und wir lachen zusammen über den Mann, dessen Wasserhahn kaputtgeht und dem das Wasser ins Gesicht spritzt. In wenigen Augenblicken hat sich Saras panische Angst in ein beruhigtes Glucksen verwandelt. Warum? Weil ihr Vater etwas gesagt hat und sie ihm glaubt.

Wenn wir das nur auch tun würden. Haben Sie irgendwelche Riesenmäuse auf Ihrem Bildschirm? Ängste, die nicht verschwinden wollen? Gibt es da irgendwelche bärtigen Monster, die Sie anstarren?

Ich wünschte, unsere Ängste wären nichts als Fernsehbilder. Aber sie sind es nicht. Sie lauern in Krankenhauszimmern und in den Häusern, wo man um einen Menschen trauert. Von Scheidungsdokumenten und Zwangsräumungsbefehlen starren sie uns entgegen. Sie funkeln uns an aus den Augen grausamer Eltern oder gewalttätiger Partner.

Und genau wie Sara bekommen wir Angst. Aber anders als Sara wissen wir nicht, wohin wir uns wenden sollen. Warum kam Sara zu mir, ihrem Vater, um sich trösten zu lassen? Ganz einfach. Sie kennt mich. Ihre Welt besteht nur aus einer Handvoll Menschen, und ich bin einer davon. Und momentan bin ich der Größte in dieser Welt.

Sie glaubt, ich bin stark. (Schließlich kann ich sie hochheben.)

Sie glaubt, ich bin kompetent. (Schließlich kann ich ein Auto fahren.)

Und sie glaubt, ich bin weise. (Bitte sagen Sie ihr nicht die Wahrheit.)

Und weil sie mich kennt, vertraut sie mir. Instinktiv ist ihr bewusst, dass ich mehr weiß als sie. Wenn ich ihr also sage, dass sie sich nicht fürchten muss, tut sie es auch nicht.

Instinktiv sollten wir wissen, dass Gott mehr weiß als wir. Unser gesunder Menschenverstand sollte uns sagen, dass er keine Angst vor den Mäusen hat, die in unserer Welt brüllen.

Wir winden uns beim Thema Tod. (Er nicht.)

Wir haben Angst vor morgen. (Er nicht.)

Wir werden nervös, wenn sich die Zeiten ändern. (Gott nicht.)

Er hat das alles schon durchgemacht. Er weiß, wie der Film zu Ende geht. Er weiß, dass die größte Angst, die der Feind uns entgegenwerfen kann, nur eine Illusion ist. Er will, dass wir auf seine Stimme hören und ihm vertrauen – so wie Sara mir vertraut. Um das zu tun, müssen wir genau das tun, was Sara tat. Wir müssen unseren Vater kennen. Und das ist meine Absicht mit diesem Buch: Ich möchte Ihnen helfen, Ihren Vater kennenzulernen.

Ihren Vater. Den,

der in seiner hohlen Hand die Ozeane hielt,

der mit seinen Fingern die Himmel ausmaß,

der das Gewicht von Gebirgen auf einer

Waage bestimmte.

Den Vater, der »sein Volk führt wie ein guter Hirt« und »der die Lämmer auf seinen Arm nimmt und an seiner Brust trägt.«

Die Geschichten in diesem Buch sind für Kinder – für Kinder von sechs bis sechzig, die sich wünschen, Gott zu sehen.

Es gibt Zeiten, in denen Mäuse brüllen. Es gibt Zeiten, in denen wir ein Paar starke Arme brauchen. Gottes Arme sind da – für jeden von uns.

Wir brauchen uns ihm nur zuzuwenden.

Am Anfang

… schuf Gott Himmel und Erde.

1. MOSE 1,1

Der Vater träumte. Ich konnte es in seinen Augen sehen – da war wieder dieses Funkeln, dieser Glanz. »Was siehst du, mein König?«

Er drehte sich nicht um, sondern hielt seinen Blick auf die große Leere gerichtet. Diesen massiven, grenzenlosen, unendlichen Raum. Je intensiver er schaute, desto mehr tanzten seine Augen. Ich wusste, er sah irgendetwas.

Ich schaute in dieselbe Richtung. Ich beugte mich nach vorn und starrte angestrengt. Alles, was ich sah, war Leere. Ich sah immer nur die Leere.

Ich hatte die Kugel nicht gesehen, die er aus dem Himmel gepflückt hatte. »Wo war die denn?«, fragte ich, als er begann, sie mit seinen Händen zu formen.

»Sie war dort«, erwiderte er, während er nach draußen blickte. Ich sah wieder nichts. Als ich mich umdrehte, lächelte er. Er wusste, dass die Vorstellungskraft eines Seraphen begrenzt war.

Dasselbe passierte beim Wasser. »Wo kommt das denn her?«, fragte ich und berührte die seltsame Substanz.

»Ich sah es, Michael.« Er lachte leise, während er mit seiner Hand einen Ozean füllte. »Und als ich es sah, erschuf ich es. Ich sah es bei den Sternen.«

»Bei den was?«

»Den Sternen.« Und er streckte seine Hand in die Leere aus. Als er sie zurückzog, hielt er sie fest geschlossen, als ob er mich dazu verlocken wollte, mich nach vorn zu beugen. Ich tat es. Und als ich mit meinem Gesicht ganz nahe war, öffnete er seine Hand. Ein Lichtstrahl entwich, und ich blickte gerade noch rechtzeitig genug hoch, um zu sehen, wie auch sein Gesicht davon erhellt wurde. Und wieder lächelte er.

»Sieh doch, wie sie funkeln!«, rief er begeistert. Und mit einer leichten Drehung seines Handgelenks warf er die Hand voll Diamanten in die schwarze Tiefe hinaus, wo sie ihren Bestimmungsort fanden, an dem sie haften blieben.

»Meinst du nicht, die Kinder werden sie lieben?«, sagte der Schöpfer, während wir zusammen das Glitzern und Blinken betrachteten.

Ich wusste nicht genau, wer diese »Kinder« waren, aber ich wusste, dass sie in dem Traum einen ganz besonderen Platz hatten. Seit der Traum begann, redete der Vater oft von diesen Kindern – was ihnen gefallen würde, wie sie reagieren würden.

Einmal rief er mich zu sich, als er die Kugel in der Hand hielt. »Komm her. Sieh dir an, was die Kinder zu sehen bekommen werden.« Dann legte er die Finger an die Lippen und blies leicht. Von seinen Fingerspitzen tanzte etwas wie ein Lufthauch aus weicher, duftiger Baumwolle herunter.

»Wofür sind die da?«, fragte ich, als die Reihe der kleinen Bäusche auf die Kugel zusegelte.

»Ach, Michael!« Er glühte vor Begeisterung. »Sie sind zu allem da. Sie geben Schatten. Sie geben Regen. Aber vor allem können meine Kinder sie beobachten, wenn sie am Himmel vorbeiziehen. Und wenn sie ganz genau hinschauen, können sie mich sehen.«

So dachte er über alles. Der ganze Traum war für die Kinder. Und überall in dem Traum war der Vater. Als er einen Wasserfall formte, sagte er: »Ich mache ihn so, dass sie hinein- und wieder herauslaufen können.« Beim Löwenzahn: »Er hat gerade die richtige Größe, damit die Kinder ihn wegpusten können.« Und bei einem Fluss in einem Felstal: »Sie können sich genau hierher setzen und zusehen, wie das Wasser durch das Tal strömt.«

»Aber wo sind denn die Kinder?«, fragte ich eines Tages und schaute in den leeren Raum, aus dem all die anderen Dinge aus dem Traum hergekommen waren.

»Oh nein, nicht dort draußen«, antwortete der Künstler. Es lag etwas Nachdrückliches in seiner Stimme, als er wiederholte: »Nicht da draußen.«

Das war alles, was er sagte. Und ich fragte auch nicht weiter.

Als dann die Tiere kamen, vergaß ich meine Frage fast. Wir lachten so viel, während er sie schuf. Jedes war etwas Besonderes. Winzige Flügelchen für die Mücke. Ein unvergleichliches Schnattern für die Gans. Der Panzer für die Schildkröte. Durchdringende Augen für die Eule.

Ich durfte sogar auch einige verzieren. Ich machte die Schmetterlingsflügel lila und meine Idee, den Elefanten die Nase lang zu ziehen, gefiel ihm gut.

Was für ein Spaß das war, als der Himmel Vögel und Fische, Kriechtiere und Nager hervorbrachte. Die kleinen Winzlinge waren kaum von seiner Hand heruntergekrabbelt, als auch schon die gewaltigen Geschöpfe erschienen. Er griff sich die Giraffe und streckte ihr den Hals. Und dem Wal machte er ein Loch in den Kopf (»Dann müssen sie zum Luftholen nach oben kommen, und die Kinder werden sie sehen«).

»Wie werden wir sie nennen?«, fragte ich.

»Das überlasse ich den Kindern.«

Die Kinder – das hatte ich fast vergessen. Aber er nicht. Als das letzte geflügelte Wesen seine Hand verlassen hatte, wandte er sich mir zu und sah mich an. Da wusste ich es.

»Ist es jetzt so weit?«

»Ja, jetzt ist es so weit.«

Ich erwartete, dass seine Augen wieder tanzten. Aber sie taten es nicht. Ich hatte auch ungestümen Eifer erwartet. Aber er fing nicht an. Er sah eine lange Zeit einfach in die Leere – länger als sonst.

»Siehst du die Kinder?«

»Nein. Sie sind dort draußen nicht zu finden.«

»Was siehst du denn dann?«

»Ich sehe, was sie tun werden.«

Er sprach leise. Die Freude war aus seiner Stimme verschwunden.

»Was ist es? Was siehst du?«

Vielleicht dachte er, dass ich es wissen sollte. Oder vielleicht war es für ihn wichtig, dass es noch jemand wusste. Ich weiß nicht, warum er tat, was er noch nie zuvor getan hatte. Er ließ mich alles sehen. Als wäre der Himmel ein Vorhang, zog er ihn zur Seite.

Bevor ich es sah, roch ich es schon. Der Gestank brannte in meinen Augen. »Es ist Gier, die du da riechst«, erklärte er. »Eine Liebe zu törichten, unnützen Dingen.«

Ich begann mich abzuwenden. Aber mein König tat es nicht, und so hielt ich inne. Ich sah noch einmal hin.

Es war so dunkel, dunkler als ein sternenloser Himmel, noch dunkler als die Leere. Diese Dunkelheit bewegte sich. Sie kroch voran. Sie warf Schatten und waberte hin und her. Sie war wie lebender Ruß. Er kannte meine Gedanken und fing an zu reden.

Seine Worte kamen langsam. »Sie werden es auslöschen.«

»Was denn?«

»Sie werden zerstören, was sie zu meinen Kindern macht.«

Da sah ich es zum ersten Mal. Er reichte in sich hinein, tief hinein und zog etwas heraus. Eine Flamme. Einen leuchtenden Kreis.

Strahlend hell glühte er in seiner Hand. Viel heller als die Sternenbilder, die er an den Himmel gesetzt, oder die Sonne, die er angezündet hatte.

»Das ist …«, setzte ich an.

»Das ist ein Teil von mir«, führte er meinen Satz auf eine Weise zu Ende, die ich mir nicht hatte vorstellen können.

»Und aus diesem Teil meiner selbst werde ich meine Kinder machen.«

Jetzt verstand ich es zum ersten Mal. Ich verstand, warum ihm die Kinder so kostbar waren. Ich sah die Einzigartigkeit in ihnen. Sie trugen sein Licht: das Universum, das er erschuf, die Kinder, denen er ein Vater war.

»Aber die Dunkelheit?« Ich musste es einfach fragen. »Warum gibt es sie?«

»So wie ich wähle, müssen auch sie wählen. Sonst gehören sie nicht zu mir.«

Da hob er sein Gesicht, und seine Augen erhellten sich wieder. »Aber nicht alle werden mich vergessen. Sieh hin.«

Ich sah in das Morgen. Zuerst sah ich nichts. Nur die wogende, tiefe Finsternis. Doch als ich weitersuchte, sah ich es schließlich. Erst nur eins, dann eine kleine Gruppe, dann noch mehr … Lichter. Flackernde Kerzen, schwach und doch nicht in der Dunkelheit verloren. Wie die Sterne, die er an den dunklen Himmel geworfen hatte, flackerten diese Flammen auf einer tiefschwarzen See.

»Es sind meine Kinder.« In seiner Stimme klang Stolz mit. »Sie erinnern sich.«