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Sebastian Baer-Henney

Fresh X – live erlebt

Wie Kirche auch sein kann

cover

Die Bibelzitate sind i.d.R. entnommen der Lutherbibel,
revidierter Text 1984, © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Ansonsten gilt folgende Kennzeichnung:
HfaHoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica,
Inc.® Verwendet mit freundlicher Genehmigung von ’fontis – Brunnen Basel.

© 2015 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlagfoto: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Yellow Tree, Jenny Alloway
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Gesetzt in der Sabon
ISBN 978-3-7655-2042-6
eISBN 978-3-7655-7339-2

Inhalt

Vorwort von Michael Moynagh

1. Annäherungen

England

All Souls, Langham Place

Fresh Expressions of Church – neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens

Fresh Expressions und ihre Eigenschaften

2. Begegnungen

St. Gabriel’s Cricklewood (London): Chris Hill

St. Luke’s in the Highstreet (London): Frances Shoesmith

Moot & Host Café (London): Ian Mobsby & Vanessa Elston

St. Andrew’s Fulham Fields (London): Guy Wilkinson

All Hallows Bow (London): Cris Rogers

St. Mellitus College (London): Graham Tomlin

TANGO (Haydock): Christine Kay

St. Simon Zelotes (London): Mike Neville

Earlsfield Friary (London): Jonathan Sertin

Cornerstone Church (Cranbrook): Mark Gilborson

Church@Five (London): Helen Shannon

The Mighty Shed (Uplyme Church): Irve Davis-Griffiths

Kahaila (London): Paul Unsworth

Greenwich Peninsula Chaplaincy (London): Malcolm Torry

Exeter Network Church (Exeter): Jon Soper

Sanctus 1 (Manchester): Alistair Lowe

St. Paul’s Shadwell (London): Ric Thorpe

Nachhilfestunde (Oxford): Michael Moynagh

St. Paul’s Hounslow (London): Libby Etherington

Contemplative Fire (White Waltham): Philip Roderick

Wolverhampton Pioneer Ministries (Wolverhampton): Deborah Walton

Swiss Church London (London): Carla Maurer

River in the City (Liverpool): Keith Hitchman

Simply (Exeter): Steve Jones

Sanctuary (Birmingham): Pall Singh

Tubestation (Polzeath): David Matthews

Regenerate Rise (London): Mo Smith

Zone 2 (Liverpool): Richard White

Eden Project und Messy Church (Launceston): Doreen Sparey-Delacassa

King’s Cross Church (London): Pete Hughes

3. Was in England anders läuft

Kontextkirche

Pioneer-Kirche

Kirche mit Auftrag

Kirche auf den Knien

Gemischtwirtschaft

Kirche mit Geschichte

Kirche mit Anspruch

Spendenkirche

Marathonkirche

Kirche ohne Angst

Nachwort

Dank

Vorwort

Unter den Christen unserer Zeit vollzieht sich etwas Bemerkenswertes. Die Kirche findet neue Wege, Gottes Großherzigkeit zu ihrer Sache zu machen und zu einer Gabe für die Welt zu werden. Gemeinschaften, die vom Evangelium leben, sprießen plötzlich mitten im Alltagsleben aus dem Boden – in Cafés, Fitnesscentern, Pubs, Sportklubs und unter Leuten, die ein gemeinsames Interesse verbindet wie Fahrräder reparieren, schneidern oder kochen.

England spielt bei der Integration dieser neuen Gemeindeformen in die etablierten Kirchen eine Vorreiterrolle. Das war nicht immer ein einfacher Prozess, aber mittlerweile gibt es schätzungsweise an die 4000 Fresh-X-Gemeinden in einem größeren kirchlichen Kontext. Das Institut für Gemeindewachstum („Church Army Research Unit“) der Church of England geht davon aus, dass es in 13 % der Gemeinden der Church of England einen Fresh-X-Zweig gibt; zu deren Hauptveranstaltungen kommen im Schnitt 44 Teilnehmer. Drei Viertel davon hatten zuvor keinen Kontakt zu irgendeiner Gemeinde.

Fresh-X-Gemeinden weisen vier entscheidende Merkmale auf. Sie

setzen sich für Menschen ein, die keiner Gemeinde angehören,

passen sich an den Kontext an,

schulen Menschen in der Nachfolge,

bringen die Kirche dorthin, wo sich das Leben abspielt.

Sie wollen weniger eine Brücke zu bereits bestehenden Gemeinden darstellen, sondern vielmehr Gemeinde für die Menschen sein, die nur sie erreichen. Viele folgen dabei einer einfachen Strategie, die das Liebesgebot (Gott und die Menschen lieben) mit dem Missionsbefehl (Menschen zu Nachfolgern von Jesus machen) verbindet.

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auf der Basis von Gebet, anhaltendem Hören auf Gott und aufeinander und Anbindung an die größere kirchliche Gemeinschaft

Eine Handvoll Christen findet zusammen und hört auf Gott, auf die Menschen, für die sie sich einsetzen, und aufeinander. Sie finden einfache Wege, Menschen, mit denen sie leben, zu lieben, indem sie etwas für sie tun. Dadurch entsteht eine enge Gemeinschaft untereinander. Mit geeigneten Worten wird Jesus zur Sprache gebracht. Einzelne kommen zum Glauben, und es entsteht eine Art Gemeinde. Im Idealfall (und so geschieht es tatsächlich) werden die neu zum Glauben Gekommenen ermutigt, einen ebensolchen Prozess zu beginnen.

Fresh-X-Gruppen begegnen Menschen in ihrem normalen Alltagsleben, lieben sie durch konkretes Handeln und bringen ihnen die Geschichten von Jesus nah. Damit verringern sie die Kluft zwischen der heutigen Gesellschaft und der Kirche. Sie ermöglichen der Kirche, in der Welt präsent und als positive Kraft in ihr wirksam zu sein.

Die theologische Begründung für diese neuen Gemeindeformen liegt im Wesen Gottes selbst. Der Gott, dem wir in der Bibel begegnen, ist ein missionarischer Gott. Das ist ein Wesenszug, der sich durch die ganze Bibel zieht. Fast jede Seite offenbart uns einen Gott, der in Liebe auf diese Welt zugeht. Gott „ist und bleibt derselbe, gestern, heute und für immer“ (Hebräer 13,8; Hfa). Es ist daher nicht vorstellbar, dass er sich in seinem Wesen verändern könnte. Wenn Gott heute missionarisch ist, muss er immer missionarisch sein. Das bedeutet: Mission ist für Gott nicht erst der zweite Schritt – deshalb kann sie das auch für die Kirche nicht sein. Fresh-X-Gemeinden zeigen, wie die Kirche Mission an erste Stelle setzen und so das Wesen Gottes spiegeln kann.

Gottes Mission ist im Wesentlichen Großherzigkeit. Ihm geht es immer darum, uns zu beschenken. Die Kirche macht sich diese Mission zu eigen, indem sie durch Gottes Geist ein Geschenk für die Welt wird. So wie Jesus sein Leben hingab, bietet auch die Gemeinde das, wovon sie entscheidend lebt, anderen an: Gemeinschaft mit Jesus. Und wie bei jedem Geschenk muss auch dieses auf diejenigen zugeschnitten sein, denen man es anbietet. Für manche Leute ist es das Richtige, sie in eine bereits bestehende Gemeinde einzuladen. Aber wenn eine Gemeinde sich zu einer unpassenden Zeit oder an einem unpassenden Ort trifft oder Ausdrucksformen hat, die Außenstehenden schwer verständlich sind, muss das Geschenk eine neue Art von Gemeinschaft mit Jesus sein. Und genau darum geht es den Fresh-X-Gemeinden.

Die Kirche wird dann zu einem Geschenk für andere, wenn sie missionarisch ist, und zwar als Gemeinschaft. Gott will nicht, dass jeder sein eigenes Programm fährt. Gott, der Vater, der Sohn und der Geist, handeln gemeinsam, nicht jeder für sich. Sie sind in ihrem missionarischen Handeln verbunden. Dementsprechend sollen auch Christen, wo immer möglich, gemeinsam missionarisch aktiv sein – und zwar mitten im alltäglichen Leben. Als Jesus seine Jünger darin schulte, Boten für das Evangelium zu sein, und sie zu zweit losgehen ließ, schickte er sie nicht in die Synagogen. Er schickte sie in die Dörfer und Städte, dorthin, wo das Leben stattfand. Fresh-X-Gemeinden folgen diesem Beispiel. Sie sind Missionsgemeinschaften mitten in unserer Welt.

Diese neuen Gemeindeformen ergänzen die bestehenden Kirchen. Sie sind nicht besser als traditionellere Gemeinschaften; sie sind anders. Sie sind ein Geschenk für Menschen, die andere Gemeinden nicht erreichen. Sie strecken Menschen, die kaum Berührung mit der Kirche haben, die liebenden Arme von Jesus entgegen, und tragen so zu einer größeren Vielfalt im Reich Gottes bei. Sie nehmen eine Zeit vorweg, in der Jesus „mit seiner ganzen Fülle“ in der Kirche lebt und Gott „in allem wirkt“ (Epheser 1,23; 1. Korinther 15,28; Hfa).

Die Kirche macht sich auf, verlässt ihre wohnliche Insel und kommt mitten im Alltag in Kontakt mit den Menschen. Das kann jeder.

Suchen Sie sich einen oder zwei andere Christen.

Fangen Sie gemeinsam an, etwas für die Menschen in Ihrem Umfeld zu tun.

Bauen Sie Beziehungen auf.

Bringen Sie Jesus ins Spiel.

Fragen Sie gemeinsam danach, was es bedeutet, Jesus zu folgen.

Es ist wirklich so einfach wie das ABC.

Sebastian Baer-Henneys Buch ist für dieses Unternehmen sehr lesenswert. Lassen Sie sich durch die Geschichten, die er erzählt, inspirieren. Bitten Sie darum, dass Gottes Geist Sie leitet. Und dann tun Sie etwas Ähnliches in einem Bereich, der für Sie stimmig ist.

Reverend Dr. Michael Moynagh

Fachberater für UK Fresh Expressions und Autor mehrerer Bücher. Sein Grundlagenwerk „Church for Every Context“ erscheint auf Deutsch unter dem Titel: „Fresh Expressions of Church. Eine Einführung in Theorie und Praxis“.

1. Annäherungen

England

England ist für mich das Land der Teetrinker und eines etwas altmodischen Lebenswandels mit karierten Sakkos und Hüten beim Pferderennen. England ist Höflichkeit und Linksverkehr. Viele weitere Klischees drehen sich in meinem Kopf, wenn ich an die Insel denke.

England ist aber noch etwas anderes: England ist Aufbruch. In Deutschland gab es in den letzten Jahren immer wieder Diskussionen, als es um den Umbau des Bildungssystems ging. Und brachte wer auch immer dabei das „skandinavische Modell“ ins Gespräch, so war dies ein Totschlagargument, mit dem man nur punkten konnte. In der Öffentlichkeit weniger prominent, aber mit demselben Effekt kann man in eine Debatte um kirchliche Veränderungsprozesse das Wort „England“ einbringen. England ist das Gelobte Land, das die Antworten auf sämtliche Fragen und Probleme der Kirche zu bieten scheint. Natürlich ist das übertrieben. Aber es hat einen wahren Kern.

Tatsächlich sind in den letzten Jahren von dort zahlreiche Impulse nach Deutschland gekommen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe interessanter Veröffentlichungen darüber, was in der Kirche drüben in letzter Zeit alles passiert ist, welche Veränderungsprozesse angestoßen wurden und warum es auf einmal wieder bergauf zu gehen scheint mit der Kirche dort. Ein deutscher Pfarrer meinte mal zu mir, dass die Entwicklung in England der in Deutschland um sieben Jahre voraus sei. Ich bin nicht sicher, woher er diese Zahl nahm, habe aber den Eindruck, dass er tendenziell recht hat.

Ob sich in England Antworten auf die Fragen finden lassen würden, die mich und viele andere umtrieben, mit denen ich im Vikariat zu tun hatte? Wie kann man Menschen ansprechen, die die Kirche nicht mehr erreicht? Wie begeistert man innerhalb der Kirche Menschen für Veränderungen? Was muss verändert werden? Und was nicht?

Um der Sache näher auf den Grund zu gehen, bewarb ich mich für ein Auslandsvikariat in einer großen und florierenden anglikanischen Gemeinde in London. Meine Landeskirche war hierfür offen, und so war relativ schnell klar, dass ich ab Sommer 2013 in „All Souls“ am Langham Place arbeiten würde. Hier sollte meine Expedition starten, denn hier hoffte ich, Antworten zu finden und dem Aufbruch zu begegnen. Und so wurde All Souls ein Jahr lang Ausgangsbasis für meine Erkundungen auf der Insel.

All Souls, Langham Place

All Souls ist spannend, ohne Frage. So bin ich anfangs überwältigt von dem, was hier läuft. Dass die Gemeinde mir in meiner Suche nach Antworten nicht substanziell weiterhelfen kann, wird erst mit der Zeit klar. Am Anfang steht das Staunen, denn die bloßen Zahlen beeindrucken: fast sechzig Angestellte, davon sechzehn minister, also Pfarrerinnen und Pfarrer im weitesten Sinne. Zweitausend Menschen jeden Sonntag im Gottesdienst. Zwölftausend Pfund Kollekte – pro Woche. Bei der letzten Zählung waren Menschen aus siebenundsechzig Ländern Mitglied der Church Family, der Familie, als die sich die Gemeinde versteht. Und all das im Zentrum von London.

Wenn man sich London wie eine Schallplatte vorstellt, dann sollte ich fortan dort arbeiten, wo das Loch ist: direkt am Oxford Circus, zehn Meter Luftlinie zur BBC, dem Zentrum der englischen Mediengesellschaft. Ich muss zugeben, dass mich diese Dinge beeindrucken, als ich meine Stelle hier antrete. Nun bin ich Mitglied des ministry teams dieser riesigen Gemeinde, mit dem Ziel herauszufinden, wie man zukunftsorientiert Innenstadtgemeinde sein kann. Was genau ich denn sei, werde ich oft gefragt. Pfarrer? Besucher? Spion? Oder alles zusammen? Anfangs weiß ich es selber nicht. Schließlich bin ich ja nicht bei All Souls angestellt, sondern bei der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Ich bekomme schnell einen Schlüssel für die Kirche und ein DienstiPhone. Jeder hier hat eines, denn es gibt kaum feste Büros. Platz ist ein Problem im Londoner Zentrum, deswegen arbeiten die meisten Geistlichen von zu Hause oder in der Bibliothek, aber größtenteils sind sie eh unterwegs. London ist schnell, schneller als ich es anfangs bin. Wenn ich aus der U-Bahn steige, dann ziehen die Menschen an mir vorbei. Eiligen Schrittes überholen sie mich rechts und links, als wäre ich ein Pausenzeichen im Rhythmus dieser Stadt. Die ersten Wochen sind unglaublich anstrengend. Und sie vergehen schnell.

Nach einigen Wochen bemerke ich, dass ich an Tempo gewonnen habe. Getrieben werde ich von dem ständigen Versuch, die Übersicht zu gewinnen und zu behalten. Gar nicht so einfach in einer Gemeinde, in der es unzählige strikt voneinander getrennte Arbeitsbereiche gibt, in der jeder Pfarrer seine Zuständigkeit hat und es kaum Zeit zur Abstimmung gibt. Die für die Berufstätigen zuständige Pfarrerin weiß rudimentär, was in der Studierendenarbeit passiert; die beiden Musikpastoren haben eine grobe Ahnung davon, was Kinder- und Jugendpfarrer gerade machen; es gibt Evangelisten, eine Seelsorgerin, Pfarrer, die für Fortbildungen und Ausbildung innerhalb der Gemeinde zuständig sind – und es gibt den Rektor, Hugh Palmer. Er ist von der Queen persönlich ernannt und somit einer ihrer Hofgeistlichen. Hugh hat die Übersicht, denn bei ihm laufen die Fäden zusammen. Wie ein Kapitän steuert er dieses riesige Schiff mittels unzähliger Gespräche, disziplinierter Teambesprechungen und durch geschicktes Verteilen von Zuständigkeiten.

Nach und nach werde ich den einzelnen Mitarbeitern persönlich vorgestellt. Dabei werde ich von mehreren Seiten gefragt, was denn genau meine Aufgabe sei. Ich sage, dass es in erster Linie darum gehe zu erfassen, wie man eine solche Gemeinde leite, ich wolle die Strukturen verstehen. Als die erste Person witzelt, dass es dann wenigstens einen gebe, der das verstünde, lache ich herzlich. Als eine zweite denselben Witz macht, lächle ich höflich. Doch als der Witz zum dritten Mal innerhalb einer halben Stunde kommt, fange ich an nachzudenken. Durchschauen die Mitarbeitenden am Ende vielleicht wirklich nicht, wie ihre Gemeinde läuft?

Die Antwort liegt zwischen Ja und Nein. Tatsächlich haben alle eine sehr genaue Vorstellung davon, was ihr Aufgabenbereich ist, und genießen auch viele Freiheiten. So wird während meiner Anwesenheit beispielsweise die Studierendenarbeit grundlegend modernisiert, ohne das in der Gemeindeleitung besonders zu diskutieren. Die Gemeinde ist schlicht zu groß und zu diffus, um alle Dinge zentral zu besprechen. In einem Unternehmen dieser Größe muss wohl auf Effizienz geachtet werden, was die einzelnen Arbeitsbereiche auch tun. Jeder kennt die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, keiner darf auf Dauer defizitär arbeiten, alle berichten regelmäßig dem Rektor, der wiederum dem Gemeindekirchenrat. Und dennoch fehlt es an vielen Stellen an Professionalität.

Mit der Zeit weicht meine erste Euphorie einer immer stärkeren Ernüchterung. So wird mir zunehmend deutlich, dass es keine wirkliche übergeordnete Strategie gibt, keine stringente Konzeption und erst recht kein Forum, in dem ein Austausch über den inhaltlichen Kurs stattfinden könnte. Diese Feststellung überrascht mich zunächst. In meiner Landeskirche hat fast jede Gemeinde eine eigene Konzeption, anhand derer sich die Verantwortlichen überlegen können, was denn eigentlich das Ziel der Gemeindearbeit ist, wie man daran arbeiten möchte – und was dann vielleicht auch nicht in die Zuständigkeit der Gemeinde fällt.

In All Souls bekomme ich davon allenfalls Ansätze zu spüren, so in dem Slogan der Gemeindearbeit: Growing an international community to reach a multicultural society for Christ – eine internationale Gemeinschaft werden, um eine multikulturelle Gesellschaft für Christus zu erreichen. Auf der schick gestalteten Homepage der Gemeinde gibt es einige Leitsätze, aber ich habe nicht den Eindruck, dass diese bei strategischen Überlegungen innerhalb der Pfarrerschaft relevant wären.

War ich mit der Erwartung hierhergekommen, dass ich eine moderne Gemeinde treffen würde, professionell geleitet wie ein Unternehmen, so wird diese Erwartung enttäuscht. In dieser Hinsicht sind viele deutsche Gemeinden besser aufgestellt. Ich spreche in All Souls mit vielen Leuten und versuche zu ergründen, woran das liegt. Letztlich glaube ich, dass es wohl einfach nicht nötig ist. Die Gemeinde funktioniert. Fünfhundert Ehrenamtliche machen hier jede Woche bei der Arbeit mit; am hausgemachten Glaubenskurs Christianity Explored nehmen immer mindestens siebzig Menschen teil, an der einjährigen Ehrenamtlichenausbildung Springboard rund einhundert. Engagement wird von den Gemeindegliedern gefordert – und es wird geliefert. Wer sich nicht einbringt, ist kein richtiger Christ, so lautet die Botschaft, die nicht immer nur unterschwellig vertreten wird.

In Deutschland wie in England sind viele Modernisierungsprozesse der vergangenen Jahre aber gerade aufgrund von zunehmender Not in den Gemeinden entstanden. Never change a winning team, hat einmal ein Engländer gesagt. Wenn es doch läuft, warum soll man dann etwas an der Strategie ändern? Übrigens gilt das in ähnlicher Form wohl auch für die anderen großen evangelikalen Kirchen in London: „Holy Trinity Brompton“ und „St. Helen’s Bishop’s Gate“. Und trotzdem habe ich den Eindruck, dass die Probleme, die kleinere Gemeinden in London haben, auch hier spürbar werden. So ist es heute mühsamer als noch vor ein paar Jahren, für Veranstaltungen genug Ehrenamtliche zu gewinnen, und nach einer aufwendig gestalteten Missionswoche konnten weniger Menschen als erwartet an die Gemeinde gebunden werden. Es sind nur kleine Anzeichen, aber auch bei All Souls tauchen langsam Probleme auf, die sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich verstärken werden. Probleme, die woanders schon brennen, schwelen hier noch unter der Erde.

Vielleicht liegt es an der sehr engen, „bibeltreuen“ Theologie, dass es All Souls gelingt, nach wie vor viele Menschen an sich zu binden, sodass die gesellschaftlichen Veränderungen hier langsamer Raum greifen als in anderen Gemeinden. Mir selbst bleibt diese Theologie an vielen Stellen fremd, und doch habe ich großen Respekt vor dem Bemühen, den biblischen Texten so eingehend auf den Zahn zu fühlen, dass sie das komplette Leben nicht nur beeinflussen, sondern auch bestimmen.

Mark, einer der Pfarrer, sagt einmal in einer Predigt, dass die All-Souls-Gemeinde in ihrem Bibelverständnis fast schon „pharisäisch“ sei. Er meint dies im Sinne einer übermäßigen Gesetzlichkeit. Gesetzlichkeit sei eine Bedrohung, die an vielen Stellen schon konkret Gestalt annehme. In allem wird hier ein sehr wörtliches Bibelverständnis zum Maßstab – mit unbequemen Konsequenzen, die sich oft unserer Kultur entgegenstellen. Frauen predigen hier nicht in den Sonntagsgottesdiensten, Homosexualität wird strikt abgelehnt, und mehrfach werde ich ernsthaft mit der Frage konfrontiert, wie ich als Pfarrer denn die Existenz der Dinosaurier erklären könne, die doch im Schöpfungsbericht keinen Platz hätten. Für Menschen, die wie ich ein offeneres Bibelverständnis teilen, klingt das befremdlich. Doch diese Abgrenzung von der „Kultur“ verbindet, führt dazu, dass sich die Gemeinde zusammentut, um gemeinschaftlich eine „bessere Gesellschaft“ zu formen und möglichst viele Menschen aus ihrer diagnostizierten Gottlosigkeit zu befreien.

Ich stoße hier theologisch oft an Grenzen. Vor allem aber sehe ich, dass die Organisation einer solch erfolgreichen Gemeinde nicht unbedingt modern sein muss. Die Arbeit ist zwar größtenteils straff organisiert, im Endeffekt verlässt sie die Bahnen klasisscher Kirchlichkeit aber nicht. Und so stelle ich nach einigen Wochen des Blicks hinter die Fassade fest, dass in einer so großen evangelikalen Gemeinde nicht zwangsläufig die innovativen Konzepte zu finden sind, nach denen ich suche. Eine gegenkulturelle Abschottung, wie sie hier stattfindet, widerspricht nicht nur meinem Bild von Kirche; ich glaube auch, dass sie die Probleme der deutschen Kirche (wie auch der englischen) nicht lösen wird.

Und dennoch gibt es einige Elemente, die für uns in Deutschland interessant sind. Es finden Lunchtime-Gottesdienste statt, zu denen Berufstätige aus der Umgebung eingeladen werden: Um fünf nach eins gibt es eine halbe Stunde schmale Liturgie mit Predigt, im Anschluss Sandwiches und Gespräche in Kleingruppen – dann geht es zurück an die Arbeit.

Interessant ist auch die Studierendenarbeit, die eine offene Tür, ansprechende Atmosphäre, Frontalprogramm und individuelle Glaubenskurse in einer gelungenen Art kombiniert. Die Arbeit ist sehr profiliert und deutlich stärker an den Bedürfnissen der Zielgruppe ausgerichtet, als ich das sonst in All Souls erlebe.

Wichtig ist auch die intensive Spiritualität, die mir in dieser Gemeinde begegnet. Es gibt mehrmals pro Woche Gebetstreffen. Zweiwöchentlich kommen am Dienstagabend Hunderte Menschen zusammen. Es werden die verschiedenen Arbeitsfelder der Gemeinde mit ihren aktuellen Bedürfnissen vorgestellt, und dann wird in Kleingruppen dafür gebetet. Intensivere spirituelle Betätigung könnten wir in Deutschland an vielen Stellen gebrauchen, ganz abgesehen davon, dass so natürlich auch Identifikation mit den Angeboten der Gemeinde geschaffen wird, für welche die Betenden dann mit verantwortlich sind.

Der wichtigste Bereich, von dem wir lernen können, sind aber die Schulungen. Es gibt Kurse für Glaubensneulinge, außerdem Bibelkurse für Fortgeschrittene, in denen großer Wert auf praktische Anwendung des Erarbeiteten gelegt wird. Es gibt ein Ausbildungsschema für Apprentices, Menschen, die hier ein Jahr lang arbeiten und sich dabei theologisch und organisatorisch fortbilden. Sie müssen sich durch Fundraising selber finanzieren und tragen viele der Arbeitsbereiche wesentlich mit – nach einem Jahr sind viele von ihnen so fit, dass sie von All Souls übernommen werden. Es gibt Bibelwochenenden, und geplant ist auch ein Fortbildungsprogramm für Menschen in Leitungspositionen in der Wirtschaft, die ihren Glauben stärker in ihre Arbeitswelt einfließen lassen wollen. Sonntags werden fuderweise Bücher zu theologischen Themen verkauft.

All das führt dazu, dass die Gemeinde – bei allen Anfragen an die theologische Ausrichtung – biblisch fit und interessiert ist. Die Gemeindeglieder sind eingebunden in die Gestaltung der Kurse, und es gibt nicht wenige in der Gemeinde, die einem aus dem Stegreif erzählen können, wann die Israeliten im Babylonischen Exil waren. Wo findet bei uns in den Gemeinden eine derart intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten unseres Glaubens statt? Wäre es nicht für viele Gemeinden wünschenswert, in diese Richtung mehr zu unternehmen?

Ich nehme also durchaus wichtige Impulse aus All Souls mit und finde die Arbeit hier insofern schon bereichernd. Dennoch soll es im Folgenden nicht mehr um diese Gemeinde gehen. Die Innovationen, für welche die anglikanische Kirche in Deutschland berühmt ist, finden woanders statt. So fasse ich den Beschluss, fortan stärker nach rechts und links zu gucken, was mir an interessanten neuen Projekten begegnet, an kirchlichen Start-ups, wenn man so will. Aber wo soll ich anfangen?

Entscheidende Tipps für den Verlauf des Jahres kommen von zwei Seiten: Der erste Wegweiser ist Paul Williams, der (damalige) Bischof von Kensington. Da London eine sehr große Diözese ist, sind dem Bischof von London verschiedene Regionalbischöfe untergeordnet. Bischof Paul ist einer von ihnen, und ich darf ihn mehrfach in seiner Residenz im südlich von London gelegenen Twickenham besuchen. Er erzählt mir von der Capital Vision 2020, die der Bischof von London gestartet hat. Bis zum Jahr 2020 will man in der Hauptstadt nicht nur die Möglichkeiten neuer Medien intensiver nutzen, es sollen darüber hinaus einhunderttausend Botschafter für Christus ausgebildet werden, auskunftsfähige Christen, die in ihrem täglichen Leben Substanzielles über ihren Glauben erzählen können. Gemeinden sollen gepflanzt werden. Und die Zahl der Ordinanden soll um fünfzig Prozent wachsen. Das klingt für mich nach Aufbruch. Ich spüre, dass ich hier am richtigen Ort bin, und tatsächlich verlasse ich schon nach unserem ersten Treffen die Bischofsresidenz mit einer Liste von interessanten Projekten. Viele von ihnen werde ich im folgenden Jahr besuchen.

Der zweite entscheidende Impuls für die Gestaltung meines Jahres kommt von einer Konferenz, über die ich kurz nach meiner Ankunft in London stolpere: die international conference on fresh expressions of church in Cambridge. Ich habe schon in Deutschland vom Konzept dieser neuen Ausdrucksformen kirchlichen Lebens gehört, kann aber bislang nicht wirklich sagen, was sich konkret dahinter verbirgt. So fahre ich, von meiner Landeskirche unterstützt, für eine Woche in die wunderbare Studentenstadt, um mich intensiv mit den Akteuren dieser neuen Form von Gemeinde auseinanderzusetzen. Hier treffen sich all jene, die das Phänomen von Anfang an mitgeprägt haben, und sie begegnen denen, die gerne tiefer einsteigen wollen. Hinzu kommen wichtige Entscheidungsträger der anglikanischen Kirche, Bischöfe und Berater. Ich verlasse die mittelalterliche Stadt nach einer Woche nicht nur gut informiert und wohlinspiriert, ich habe darüber hinaus noch eine weitere Liste von Gemeinden zusammengetragen, die ich gerne besuchen will.

So werden im Folgenden ganz verschiedene Typen von Gemeinden und Projekten vorgestellt. Es gibt zahlreiche Kirchenpflanzungen, Church Plants, von großen Kirchen: Dieses Konzept gibt es schon länger als das der Fresh Expressions, die Wurzeln der Bewegung liegen in den Siebzigerjahren. Gezielt werden Teams in schlecht laufende oder sogar schon geschlossene Gemeinden „gepflanzt“, also ausgesandt, um dort wieder neue Lebensgeister zu wecken. Manche Kirchen schaffen dies aber auch ohne fremde Hilfe. Sie gehen systematisch Veränderungsprozesse an. So gelingt es ihnen, eine am Boden liegende Arbeit wieder aufzurichten, oft durch starke Zielgruppenorientierung. Während sich diese Konzepte relativ leicht selbst erschließen, bedarf die Idee der Fresh Expressions einer kurzen Einführung.

Fresh Expressions of Church – neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens

Das Bewusstsein, dass sich in der Kirche etwas ändern muss, ist in England über Jahrzehnte gewachsen. Die anglikanische Kirche merkte, dass sie die Menschen nicht mehr wirklich erreichte. Gottesdienstbesuche brachen ein, Kirchen mussten geschlossen werden, es gab zu wenige Pfarrerinnen und Pfarrer. Die englische Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert, und die Kirche begann nun, sich diesen Umwälzungen zu stellen. Sie setzte mehrere Arbeitsgruppen ein. Eine entscheidende Zäsur stellte der Bericht Mission-shaped Church dar, der 2004 veröffentlicht wurde und die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte genau analysierte.

Die kirchlichen Probleme, so der Bericht, rühren vor allem daher, dass die kirchliche und die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit immer weiter auseinanderdriften.

Veränderungen am Arbeitsmarkt und in der Familienstruktur haben dazu geführt, dass die Wochenenden verstärkt für die Familie eingesetzt werden, als Zeit, in der man sich was gönnt, außerdem um das zu erledigen, was während der Woche liegen geblieben ist. Zudem hat sich die Mobilität der Gesellschaft verändert. Hat man früher die Dinge vor der Haustür besorgt, so ist man heute flexibler. Wer früher einen Fernseher brauchte, ging zum kleinen Elektrohändler vor Ort und suchte sich eines von zwei vorhandenen Modellen aus. Heute hingegen fährt man zu großen Handelsketten und hat eine Riesenauswahl – wenn man überhaupt noch fährt und nicht nach Hause bestellt. Dies gilt auch für Freizeitangebote. Die Kirche ist nicht mehr eine der wenigen Institutionen vor Ort, die etwas anbieten.

Hinzu kommt, dass sich die Menschen verstärkt in Netzwerken bewegen. Sie tun sich mit ihresgleichen zusammen und bilden so homogene Gruppen, die sich individuelle Angebote suchen oder selber welche schaffen. Etwas für „junge Erwachsene“ anzubieten ist heute nicht mehr ausreichend ausdifferenziert. Es gibt nicht eine homogene Gruppe dieser Altersklasse, sondern zahlreiche Netzwerke mit verschiedenen Interessen und Vorlieben, z.B. hinsichtlich des Musikgeschmacks, der Ästhetik, des Konsumverhaltens oder auch der Freizeitbeschäftigung. Auch bleiben Menschen nicht mehr von der Wiege bis zur Bahre am selben Ort wohnen, die Verbundenheit zu bestimmten Orten und Gemeinden hat abgenommen.

Kurzum hat sich das gesellschaftliche Gefüge grundlegend verändert. Die traditionellen kirchlichen Angebote erreichen nur noch sehr wenige gesellschaftliche Gruppen. Die Kirchen haben heute einfach mehr Konkurrenz, und die Menschen suchen sich das aus, was ihnen am meisten zusagt. – Das kirchliche Programm ist das im seltensten Fall.

Der Bericht hat aber auch herausgearbeitet, dass die Menschen heute nicht weniger religiös sind als früher. Die Zahl an Kirchengemeinden in England ist heute genauso hoch wie vor hundert Jahren, insgesamt sind die Gemeinschaften aber stärker ausdifferenziert. Freie Gemeinden und Minderheitenkirchen, z.B. von Migrantinnen und Migranten, üben eine hohe Attraktivität aus. Daneben gibt es allerlei nicht kirchliche spirituelle Angebote. – Die traditionelle Kirchengemeinde hat hier das Nachsehen.

Viele dieser Veränderungen treffen auf uns in Deutschland auch zu und sind in den letzten Jahren stärker ins Bewusstsein gerückt. Die anglikanische Kirche hat sich allerdings wesentlich früher daran gemacht, Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Arbeit der Kommission hat nämlich dazu geführt, dass sich die Einstellung gegenüber kirchlichen Reformen verändert hat. Über die vergangenen Jahrzehnte hatte sich allmählich die Erkenntnis durchgesetzt, dass England ein Missionsland ist: Es genügt nicht mehr, sonntags die Kirche aufzuschließen und zu warten, dass jemand kommt. Auch wenn es über Jahrhunderte gut funktioniert hat, dass die Menschen sich abholen, was sie brauchen, gilt das heute nicht mehr. Vielmehr hat die Kirche den missionarischen Auftrag, zu den Menschen hinzugehen und ihnen zu dienen. Theologisch entspricht dies nicht nur dem Sendungsauftrag, den Jesus seinen Jüngern gegeben hat: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern …“ (Matthäus 28,19). Diese Erkenntnis bezieht sich auch auf die Sendung Jesu selber. Gott ist in die Welt gekommen in einer dienenden Haltung, er „nahm Knechtgestalt an“, wie es der Philipperbrief schreibt. So ist er zu den Menschen gegangen und ist ihnen in ihrer Lebenswirklichkeit begegnet.

Schon seit den Achtzigerjahren waren in der anglikanischen Kirche Church Plants, also Pflanzungen neuer Gemeinden, verstärkt unterstützt worden. Tatsächlich stellte man fest, dass dadurch viele neue Magnete entstanden, die anziehend auf neue Zielgruppen wirkten. Ernüchtert merkte man aber auch, dass Magnete bei nichtmetallischen Gegenständen wirkungslos sind: Die Mehrheit der Menschen wurde auch von diesen Gemeinden nicht angezogen.

So kamen kleine Gruppierungen in den Blick, die schon früh angefangen hatten, ganz neue Wege zu gehen, die eben gezielt all jene ansprechen wollten, die kein Interesse mehr an der Kirche hatten, falls es überhaupt je dagewesen war. Man fand heraus, dass es im ganzen Land kleine Grüppchen gab, die recht erfolgreich neue Ausdrucksformen kirchlichen Lebens gefunden hatten, die unkonventionell und kreativ genau die entkirchlichten und unkirchlichen Menschen ansprachen, von denen sich der Rest der Kirche in den letzten Jahrzehnten zunehmend entfernt hatte.

Solche Projekte genossen nun große Aufmerksamkeit. Rowan Williams, der damalige Erzbischof von Canterbury, maß diesen fresh expressions of church genannten Initiativen eine derart hohe Bedeutung bei, dass er sie zu einem von zwei Schwerpunkten seiner Amtszeit ernannte. Entsprechend wurde nun viel unternommen, um diese kleinen Gruppen zu fördern und andere Menschen zu motivieren, ebenfalls solch einen Weg einzuschlagen. Ein Netzwerk wurde gegründet, ein Bischof für die Aufsicht darüber eingesetzt, rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen. Mit der Zeit kamen immer mehr Projekte dazu, und inzwischen gibt es über 1000 dieser neuen Gemeinden mit – nach eigenen Angaben – 30 000 monatlich teilnehmenden Menschen, die in keine andere Kirche gehen.

Fresh Expressions und ihre Eigenschaften

Der Begriff fresh lehnt sich an das Versprechen an, das alle anglikanischen Geistlichen ablegen, wenn sie ihren Dienst antreten. Sie geloben, das Evangelium jeder Generation von Neuem (afresh), also in zeitgemäßer Form zu verkündigen.

Die Menschen, die anfingen, neue Wege zu beschreiten, beabsichtigten genau dies. Als Kundschafter gingen sie zu den Leuten und schauten, was diese brauchten, inwieweit sie also bedürftig waren und inwiefern die Kirche diesen Bedürfnissen begegnen und Hilfe leisten konnte. So sind sie zu Vorreitern einer neuen Form der Kirchlichkeit geworden. Im Englischen heißen sie pioneers, weil sie kirchliche Pionierarbeit leisten. Sie sind keine Einzelkämpfer, sondern bilden ein sorgfältig ausgewähltes Team, mit dem sie nach einer langen Beobachtungsphase zielgruppenorientierte Angebote entwickeln. Das Team muss nicht einer einzelnen Konfession angehören, denn die meisten Pioneers sehen ihre Arbeit als konfessionsübergreifend oder sogar postkonfessionell.

Da die Ergebnisse dieser Pionierarbeiten oft sehr unterschiedlich sind, versuchte man in England, Gemeinsamkeiten dieser Projekte festzumachen, um so zu definieren, was eigentlich eine Fresh Expression ausmacht. Vier Eigenschaften wurden so entdeckt, die sich, mal mehr, mal weniger ausgeprägt, bei allen Fresh Expressions finden lassen:

Zunächst sind diese kontextuell geprägt (contextual). Sie hören auf die Kontexte und suchen die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit auf. Das bedeutet auch, dass sie nicht klonbar sind, denn Kontexte sind immer anders und erfordern maßgeschneiderte Antworten.

Die zweite Eigenschaft ist, dass sie missional (missional) sind: Sie zielen darauf ab, Gottes Wirken in der Welt und seine Botschaft für die Menschen relevant werden zu lassen, ihr Leben mit dem christlichen Glauben in Bezug zu setzen. Die verschiedenen Fresh Expressions, die in diesem Buch beschrieben werden, formen diese Beziehung ganz unterschiedlich aus. Sie füllen den Missionsauftrag individuell, irgendwie ist er aber immer erkennbar.

Damit das Ganze nachhaltig ist und nicht mit dem ersten Pioneer und seinem Team steht und fällt, wird großer Wert darauf gelegt, dass Fresh Expressions Menschen in der Nachfolge schulen (formational): Sie bilden neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus und formen Menschen und ihren Glauben nachhaltig. So bald wie möglich soll das Pionierteam Kompetenzen abgeben, um die Gemeinschaft eigenständig und erwachsen werden zu lassen. So wachsen immer neue Menschen ins Team hinein, und irgendwann kann die Gruppe dann auf eigenen Beinen stehen. Die zweite Dimension des Begriffes ist, dass die Gemeinschaften auch das Umfeld prägen, in dem sie arbeiten. Fresh Expressions wollen einen Einfluss auf ihre Umwelt ausüben.

Das letzte Attribut bezeichnet sie als kirchlich (ecclesial). Sie werden für die Menschen in ihrem Kontext zur Gemeinde, zur Kirche für diejenigen, die mit klassischer Kirchlichkeit nichts anfangen können.

Die Erzählungen werden zeigen, dass mir diese Eigenschaften in den Projekten nicht immer in Reinform begegnet sind; manchmal musste ich schon sehr genau hinschauen. Als Faustregel sind sie aber dienlich, um kritisch zu fragen, ob etwas nun wirklich eine neue Ausdrucksform kirchlichen Lebens ist oder sich bloß ein modernes Label anheften möchte.

Die Ausrichtung auf eine andere Zielgruppe ist der Grund, warum sich klassische Gemeinden und Fresh Expressions nicht ins Gehege kommen. Es ist eine Ergänzung, die stattfindet. Denn während die einen klassisches Kirchenpublikum ansprechen, fischen die anderen in Gewässern, die die herkömmlichen Gemeinden nie erreichen könnten. Im Englischen wird dies unter dem Begriff der mixed economy verbucht, einer gesunden Gemischtwirtschaft mit sich gegenseitig stärkenden und unterstützenden Zweigen.

So dienlich diese Typisierungen auch sind, wird dieses Buch doch zeigen, dass die Unterscheidung von Fresh Expressions und anderen Formen des Neustarts nicht immer trennscharf ist. Auch wenn es nämlich klare Definitionen für Church Plants und Fresh Expressions gibt, sieht sich so manche Gemeindepflanzung eher als eine Fresh Expression. Manches, was den Kriterien nach eine solche wäre, will sich dafür eher als Gemeindepflanzung verstanden wissen. Und manche Projekte, die vom Fresh-Expressions-Netzwerk als Teil der Bewegung bezeichnet werden, haben, wenn man nachfragt, eigentlich nicht wirklich etwas damit zu tun.