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Claudia Filker

10 ½ GUTE GRÜNDE,
ES NICHT
MEHR ALLEN RECHT
ZU MACHEN

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© 2004 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Lektorat: Petra Hahn-Lütjen

Umschlagfoto: PhotoDisc, Hamburg

Umschlaggestaltung: Ralf Simon

Satz: DTP Brunnen

Herstellung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-7655-3768-4

eISBN 978-3-7655-7120-6

INHALT

Vielleicht kommt es Ihnen bekannt vor …

1. Grund:

„Weil ich es ja doch nicht allen recht machen kann“

2. Grund:

„Weil ich Abschied nehmen will von der Superfrau“

3. Grund:

„Weil ich endlich aufhören will, mich ständig mit andern zu vergleichen“

4. Grund:

„Weil ich endlich meine Möglichkeiten entdecken und leben will“

5. Grund:

„Weil ich noch so viel erwarten darf!“

6. Grund:

„Weil Grenzen helfen“

7. Grund:

„Weil ich mir mein schlechtes Gewissen für passendere Gelegenheiten aufheben will“

8. Grund:

„Weil ich endlich sage, was ich denke …“

9. Grund:

„Weil ich mich entscheiden muss und das auch will“

10. Grund:

„Weil wir alle erwartete Frauen sind“

… und noch ein ½ guter Grund:

„Weil der, der etwas wagt, viel gewinnen kann“

VIELLEICHT KOMMT ES IHNEN BEKANNT VOR

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Ein persönliches Wort zu Beginn

Heute Abend hat es sich Ute vor dem Fernsehgerät so richtig gemütlich gemacht. Einfach abhängen vor einem Film, der sie innerlich in eine andere Welt entführen soll. Wenn da nicht an den spannendsten Stellen diese nervtötenden Werbeunterbrechungen wären: Eine schöne Frau springt Ute aus dem Werbefernsehen an und hüpft ihr geradewegs auf die innere Couch. Wenig Stoff lässt eine mehr als tadellose Figur erahnen, pfirsichsamtene Haut strahlt, lockeres wunderbar dichtes Haar streicht sie mit leichter Hand aus ihrem Gesicht, und eine betörende Stimme dringt aus dem Fernsehgerät nicht nur in Utes, sondern in Hunderttausende andere Frauenherzen: „Was soll eine Frau von ihrem Leben erwarten?“, haucht die Schönheit. – Schon diese Frage geht doch einfach unter die Haut, oder nicht?

Und ehe Ute mit Blick auf Jogginghosen-Udo, der sich schräg links von ihr am Computer ergötzt, zu irgendwelchen tiefgründigen Gedanken ansetzen kann („Ach, ja, schluchz, schnief, was habe ich denn überhaupt noch von meinem Leben zu erwarten?“) wird sie von der Werbeschönheit schon eingeholt:

„Alles!“, haucht die Dame auf dem Bildschirm.

Wie – „Alles“? Ja, doch wirklich. Ute kann einfach alles vom Leben erwarten! Wie konnte sie das nur vergessen!? Aber sicher doch, wer wollte sich auch mit weniger zufrieden geben?

Nur noch wenige Sekunden und Ute erfährt, wer sie auf diese Fährte „Erwarte alles!“ lockt: Natürlich, eine große Kosmetikkette mit ihrer neuen, viel versprechenden Falten reduzierenden Tagescreme.

Okay, schon kapiert. Es geht mal wieder um raffinierte Werbestrategien, Absatzmärkte, zielgruppenorientiertes Marketing. Zufrieden kuschelt sich Ute in ihre Couchkissen, lässt die Schönheit auf dem Schirm Claudia Schiffer oder sonst wie heißen und verscheucht tapfer all die Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte, die diese Stimmen um sie herum wecken.

Aber wie lästige Mücken umkreisen sie ihre Nase, denn leider hat sie bei Licht das Fenster offen gelassen, pardon, sie ist auch nur ein Mensch … und alle Werbepsychologen wissen doch genau, wie sie uns zielgenau erwischen.

Und schon sind wir mitten im Thema „10 ½ gute Gründe, es nicht mehr allen recht zu machen“. Denn die Erwartungen, die durch wen oder was auch in uns geweckt werden und uns so viel versprechen, sind nur die Kehrseite der Medaille: nämlich der Erwartungen, die an uns gestellt werden. Zuspruch ist Anspruch.

Zum Beispiel solche Sätze:

„Mach mehr aus deinem Typ, du bist doch wer.“

„Du kannst alles für deine Schönheit tun.“ Das klingt doch verlockend, nach einer positiven Erwartung.

Nur schlecht, wenn uns falsche Schönheitsideale in den Griff nehmen. Du kannst schön sein, du kannst schlank bleiben – aber wehe, du bist es nicht! Du kannst – also musst du auch! Der Zuspruch wird zum Anspruch.

Und mit dem ist gar nicht immer so leicht umzugehen. Da lassen sich die so genannten überflüssigen Pfunde nicht so leicht wie erwartet vertreiben, und die Falten gesellen sich mit der Zeit unbarmherzig, aber unübersehbar dazu.

Ist es nicht ein interessantes Detail der Statistik, dass 1972 nur 25% der Frauen mit ihrem Körper unzufrieden waren, 1996 aber schon mehr als doppelt so viel, nämlich 56%!

Oder: „Entdecke deine Möglichkeiten …“

Eine verlockende Erwartung: endlich Familie, Kinder, Mann, Beruf unter einen Hut zu bekommen. Pech, wenn der Hut dann so voll gepackt ist, dass wir ihn gar nicht mehr auf unseren Kopf bekommen.

Alle scheinen alles zu erwarten … und schon hat die Erwartungsfalle zugeschnappt.

Weil unser Leben so kostbar ist

… und weil wir unser Leben nur einmal leben können, lohnt es sich so sehr darüber nachzudenken, wer und was unsere Vorstellungen und Ideale von einem gelingenden Leben bestimmt. „Das Leben ist stressreicher und komplizierter geworden“, sagt die Wissenschaft – und die muss es ja wissen; wird doch laufend die Bevölkerung nach ihrem Stresserleben und dem Zufriedenheitsgefühl befragt und untersucht. Und eigentlich merken wir es alle Nase lang selbst, dass die Schnelllebigkeit und Unübersichtlichkeit unserer Zeit uns ganz schnell in den Griff nimmt. Stress beherrscht viele als Gefühl des Überfordertseins. Stress ist Erwartungsdruck pur: „Nicht ich lebe, sondern ich werde gelebt, ich reagiere nur noch, ich hechele hinterher und habe häufig das Gefühl, anderes zu wollen, als ich momentan kann“, so beschreibt eine junge Frau ihr – und damit wohl ein verbreitetes – Lebensgefühl.

Lifestyle-Architekten, Trendsetter – und nicht zuletzt die Wirtschaft – treiben den Erwartungsdruck und dringen in unser Leben ein. Nicht dass uns dies immer oder auch nur annähernd bewusst wäre, aber die Stimmen dringen tief: „Mach mehr aus deinem Typ“, „Fit for fun“, „Verpass das Leben nicht“. Schrill und laut tönt es über unsere Köpfe hinweg und dringt doch so tief in unsere Seele.

Was wir schnell aus dem inneren Auge verlieren: Wir sind viel weniger den Umständen und dem Erwartungsdruck ausgeliefert, als wir oft denken!

Natürlich können wir uns den Veränderungen unserer Zeit nicht entziehen, aber wir können unser Leben stärker selbst gestalten und bestimmen, als wir oft ahnen, und dann unsere eigenen Vorstellungen auch in die Tat umsetzen.

„Millionen sehnen sich heute nach Unsterblichkeit. Aber sie wissen nicht, was sie mit sich selbst an einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen sollen.“ Wie treffend formuliert von einer britischen Kolumnistin (Psychologie heute compact 4, S. 33, 1999).

Das Leben ist so kostbar! Zu kostbar, um eines Tages zurückzublicken und dann sagen zu müssen: „Schade, hätte ich doch …“, wie die ältere Dame in dem folgenden Gedicht festgehalten hat:

Ein zweites Mal

Könnte ich mein Leben noch einmal von vorn beginnen,

würde ich versuchen mehr Fehler zu machen.

Ich würde alberner sein, würde ganz locker werden,

nur noch ganz wenige Dinge ernst nehmen.

Ich würde entschieden verrückter sein

und weniger reinlich.

Ich würde mehr Gelegenheiten beim Schopfe packen

und öfter auf Reisen gehen.

Ich würde mehr Berge ersteigen,

mehr Flüsse durchschwimmen

und mehr Sonnenaufgänge

auf mich wirken lassen.

Ich würde mehr Schuhsohlen durchlaufen,

mehr Eis und weniger Bohnen essen.

Ich würde mehr echte Probleme

und weniger eingebildete Nöte haben.

Wie Sie bemerkt haben werden,

war ich eine von denen,

die vorsorglich, vernünftig und gesund leben,

Stunde für Stunde,

Tag für Tag.

Nun, ich habe meine verrückten Augenblicke,

aber, wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte,