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Ursula Koch

Rosen im Schnee

Katharina Luther, geborene von Bora –

Eine Frau wagt ihr Leben

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15. Auflage 2011

© 1995 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlagillustration: akg-images, Berlin
Umschlaggestaltung: Ralf Simon
Satz: Die Feder GmbH, Wetzlar
Herstellung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-7655-4126-1
eISBN 978-3-7655-7115-2

Inhalt

Wittenberg, 20. Februar 1546

Nimbschen, 1509 – 1523

Torgau/Wittenberg, 1523 – 1528

Wittenberg, 15. Mai 1530

Wittenberg, 1534 – 1540

Zülsdorf, 1540 – 1541

Wittenberg, 1542 – 1546

Zwischen Wittenberg und Dessau, November 1546

Wittenberg, 1547 – 1552

Torgau, Dezember 1552

Daten und Fakten

Vorwort

Freunde und Feinde der Familie Luther haben uns viel Material hinterlassen. Jahrhundertelang sichteten und werteten die Forscher. Kaum ein anderes Leben aus der deutschen Vergangenheit ist so gründlich dokumentiert wie das Martin Luthers – und damit in weiten Teilen auch das seiner Frau. Und wenn wir weder auf die lobredenden Schwärmer noch auf die giftigen Zungen der Verleumder hören, sondern Briefe und Zeugnisse für sich sprechen lassen, dann erfahren wir von ganz normalen Konflikten, von Krankheiten, Ängsten, von Zweifel, Anfechtung und Tod. Wir hören grobe Schimpfwörter und bittere Ironie, aber auch zärtliche Worte, Scherz und Gesang. Nicht das „Ideal“ eines protestantischen Pfarrhauses, vor dessen Anspruch wir alle scheitern müßten, ersteht vor unseren Augen, sondern das Bild von Menschen, die in ihrem Alltag um Kraft und Geduld kämpften.

Ein Trostwort des Apostels für die ersten Gemeinden könnte über dem Leben der Katharina Lutherin, geborene von Bora, stehen – wie über jedem Christenleben:

„Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überschwengliche Kraft von Gott sei

und nicht von uns.“

WITTENBERG, 20. FEBRUAR 1546

Erst der Habn – und dann ich: So war es immer. Während er draußen krähte, tappte ich durch den dunklen Flur in die Küche hinunter. Die anderen schliefen noch, alle: die Kinder, die Mägde, die Studenten, der Knecht – und er, der Mann, der neben mir lag. Ich hörte ihn schnarchen, nicht laut. Es war fast ein Schnurren, wie die Katze am Ofen. Er hörte den Hahn nicht. Er hörte auch nicht, wenn die Tür leise knarrte. Meist schlief er, bis der Tag durch die Scheiben dämmerte und das Lärmen der Kinder im Flur in seine Träume drang. Ja, er träumte oft, schlug um sich und brüllte manchmal wie ein Stier. Seine Träume rissen mich aus tiefem Schlaf. Ich schlief wie eine Tote und war lebendig, wenn ich erwachte. Ich beruhigte ihn und redete leise, während meine Hand über seine Brust strich, die sich hob und senkte unter der Last

Aber gegen Morgen schlief er. Ich ließ kaltes Wasser über meine Arme laufen und wusch mir das Gesicht. Dann heizte ich den Herd und weckte die Mägde. Oft stand schon einer vor der Tür, wenn ich gerade die Milch auf das Feuer setzte; einer in Lumpen, das Gesicht voller Narben, und wir holten ihn herein, gaben ihm Suppe und ein Stück Brot. Und der Mann in der Kammer schlief noch, während die Kinder aufstanden und auf den Hof stürmten. Er schlief seinen unruhigen Schlaf.

Der Hahn kräht. Auch heute. Aber er ruft mich nicht aus dem Schlaf. Ich lag mit zerschlagenen Gliedern, als hätte ich Fieber. Schon lange vor dem Hahnenschrei bin ich aufgestanden, habe das Licht angezündet und sitze auf meinem Bett im flackernden Schein.

Wenn ich die Hand ausstrecke, fährt sie über kaltes, sauberes Tuch. Niemand stöhnt im Schlaf. Kein Laut, keine Wärme. So beginnt mein neuer Tag.

Was soll ich mit diesem Tag?

Schneewind pfeift durch die Ritzen. Nichts rührt sich im Kloster. Alles ist wie tot. Das Kloster. Die Stadt. Nur der Wind jagt durch die Straßen. So wie gestern, als der Bote kam.

Er kam früh. Kaum einer wird ihn gesehen haben. Er ging durchs Tor die Straße entlang im Wind und schlug an die Tür des Nachbarn. Dann kamen sie zu mir – drei gebeugte Männer.

Warum erschrak ich so sehr, als sie anklopften? Wie oft hatten wir frühe oder späte Gäste, Freunde oder Fremde, Adlige oder Bettler. Was für eine Ahnung erfaßte mich?

„Ich sorge, wenn du nicht aufhörst zu sorgen, es möchte uns zuletzt die Erde verschlingen …“, schrieb er doch noch gerade aus Eisleben. Wie hat er mich geschmäht mit meiner Sorge! Ich hätte kein Gottvertrauen … Wohl dem, der es hat, in einer Zeit, wo an allen Enden die Waffen geschmiedet werden und die Scheiterhaufen brennen. Mag ja sein, daß Gott es wohlmachen wird mit ihm, mit mir – wie er es wohlgemacht hat mit unserer Magdalene, unserem Kind, das er uns nahm. Aber ich bin nur eine arme Frau, die den Ratschluß des Herrn so schwer verstehen kann. Ich sorgte mich. „Was ändert’s?“ sagte er. Nichts. Nichts.

Ich weiß. Und doch hätte ich gern unserm himmlischen Vater noch ein Jährchen abgerungen mit meiner Sorge und meinem Gebet.

Mußte es denn jetzt schon sein? Er hatte doch noch so viel zu tun, der Herr Doktor. Alle Welt hat nach ihm geschrien. Hierher und dorthin mußte er reisen, um Streit zu schlichten und das Wort zu verkündigen. Mitten im Winter – und war doch schon ein alter Mann. Aber es ist dennoch zu früh, daß er gehen mußte. Für mich ist es zu früh. Der Wind pfeift ums Haus, pfeift durch alle Ritzen.

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Die Freunde kamen und klopften. Das Haus hallte wider von den Schlägen. Wolf humpelte zur Tür.

Als ich sie sah und Philippus den schwarzen Kragen zurückschlug, da brauchte ich nicht mehr zu fragen. Ich starrte in seine flackernden Augen, auf seinen zuckenden Mund, auf seine Hände, die unruhig an seinem Mantel arbeiteten.

Keiner meiner Söhne war bei mir. Ich zog Margarete an mich, die einzige, die mir blieb in dem dunklen Haus. Ich tat so, als wollte ich sie beschützen, dabei brauchte ich Schutz. Ich wagte nicht, den Mund zu öffnen. Endlich fragte Wolf:

„Habt Ihr Nachricht aus Eisleben?“

„Ja.“

„Vom Doktor Martinus?“

Schweigen.

Da sprach ich es aus. Wieder einmal mußte ich es sein. Keiner hatte die Kraft, es zu sagen.

“Ist unserem Herrn etwas zugestoßen?“

Philippus nickte.

„Befindet er sich nicht wohl?“

Wieder Schweigen.

„Ist er tot?“

Seine Arme fallen herab. Der Unterkiefer klappt nach unten. Ich sehe ihn nicht mehr, höre nur das Schreien der Mägde. Wolf will mich stützen, Margarete schlingt ihre Arme um mich. Nur die Wände stehen fest wie immer. Und doch: Er ist tot. Der Herr Doktor Martin Luther ist tot.

Die Freunde bleiben bei mir, sitzen schweigend um den Tisch. Im Haus wird es still. Mittags bat ich sie dann zu gehen. Ich wollte allein sein und versuchte zu beten. Aber ich saß nur am Fenster und wartete, daß es Nacht wurde. Und auch in der Nacht fand ich keine Ruhe.

Ich war mit dem Boten unterwegs, brachte die Nachricht in Dörfer und Städte, trug sie von Herd zu Herd, in Hütten und Schlösser: Er ist tot. Die Feinde jubilieren. Die Freunde klagen. Und ich? Ich – seine Frau? Was soll ich nun tun? Wer bin ich? Was bleibt mir noch?

Steh auf, Käthe, würde er sagen. Steh auf und danke Gott, daß er mich erlöst hat. Geh an deine Arbeit, Käthe! Gott ist mit dir bei allem, was du tun wirst. Rühr dich, Doktorin! Spring herum, Saumärkterin! Es gibt noch Menschen, denen du befehlen kannst, Herr Käthe!

Seine Stimme – nie wieder? Das Bett neben mir – kalt, leer? Mir ist so bange, so … als sollte ich noch einmal … ins Kloster gehen

NIMBSCHEN, 1509–1523

Das große dunkle, mit schwarzem Eisen beschlagene Tor öffnete sich langsam und nur einen Spalt. Das Mädchen, im bunten Rock und in einen langen Umhang gehüllt, stand und rührte sich nicht. Die Hand des Vaters drückte und schob, bis es, fast stürzend, dann doch den ersten Schritt tat, durch den Spalt huschte, während der Vater sich zwängen mußte. Aus dem Grau des vor ihnen liegenden Hofes kam eine weiße Gestalt auf sie zu.

Das Mädchen drehte sich um und stolperte gegen den Körper des Vaters. Es fühlte rauhen Stoff und das kalte Metall seines Gürtels.

„Herr von Bora?“

Mit einem Laut des Unwillens schob der Mann das Kind von sich, griff die kleine Hand und preßte sie zusammen. Er zog die Tochter hinter sich her über das vom Regen glänzende Pflaster. Die Schwester, die sie eingelassen hatte, verschwand in dem Haus, das zur Linken neben einem langgestreckten Bau nahe dem Eingang stand. Herr von Bora trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Die schwere Luft lastete auf seinem Kopf, der vom Zechgelage der letzten Nacht brummte. Er hielt sich in der Nähe des Tores, das ihn wieder ins Freie führen würde. Nur ihn. Aber das Mädchen an seiner Hand zog – kaum merklich – in dieselbe Richtung.

Im leichten Frühlingsregen, wenige Tage nach Ostern, lag der äußere Hof des Klosters Marienthron wie blankgewaschen vor den Besuchern. Aus den Ställen hörte man das unruhige Scharren der Pferde. Die jungen Tiere strebten nach draußen. Aber ihre Wächter hielten die Türen verschlossen. Auch die Kühe waren noch im Stall. Man erwartete die Eisheiligen …

Im ehemals herrschaftlichen, durch die Jahrhunderte aber etwas heruntergekommenen Wohnhaus der Äbtissin waren die Türen fest verschlossen. Aus dem Chor der Kirche auf der anderen Seite des Hofes hörte man das Singen der Ordensfrauen.

„Tretet ein!“

Die Pförtnerin wies auf die Tür des Hauses.

„Unsere Ehrwürdige Mutter wird Euch empfangen, wenn sie die Vesper zu Ende gebetet hat.“

Wieder Dunkelheit. Das Mädchen wurde eine Treppe hochgeschoben, der Vater ächzte hinter ihr. Eine neue Tür tat sich auf. Das Kind fühlte die Nässe der Kleider und drängte sich an einen Kamin, in dem es noch glühte von einem erloschenen Feuer. Die Nonne ließ die Besucher allein. Der Vater stampfte mit schweren Schritten auf und ab. Dielen knarrten. Seine Lippen bewegten sich. Das Mädchen sah es, aber es wartete vergeblich, daß er etwas sagen würde. Sie zog den dünnen Umhang noch fester um den Oberkörper und lauschte angstvoll hinaus. Endlich hörte man Stimmen. Ein unterdrücktes Gemurmel, das sich entfernte, Schritte, Schlagen von Türen, das Knarren der Treppe.

„Steh auf!“

Das Mädchen erhob sich langsam. Der Vater blieb stehen. Durch die Tür, die sich öffnete, wehte feuchtkalte Luft herein.

Als sie eingetreten war, schob die Ehrwürdige Mutter den Schleier zur Seite und wandte sich mit zusammengezogenen Brauen Herrn von Bora zu:

„Wir hatten Euch früher erwartet, Vetter Hans. – Ist das Eure Tochter Katharina?“

Sie erwartete offensichtlich keine Antwort, sondern sprach ihre Begleiterin an.

„Bring das Mädchen in den Schlafsaal, Schwester Barbara! Wo sind ihre Sachen?“

Katharina zog ein enggeschnürtes Bündel unter dem Arm hervor. Die Äbtissin nickte. Sie streckte die rechte Hand aus und griff dem Mädchen unter das Kinn. Katharina sah durch einen Schleier von Tränen in die kalten blauen Augen über ihr. Der schmale Mund bewegte sich nicht. Mit einem leisen Seufzer ließ die Frau den Kopf des Kindes los und streckte den Ringfinger aus.

„Knie nieder!“ flüsterte der Vater.

Katharina beugte sich gehorsam über den Ring und küßte ihn.

„Nimm Abschied von deinem Vater“, befahl die Äbtissin.

Herr von Bora verzog das Gesicht. Er gab dem Mädchen die Hand und wandte sich ab. Katharina starrte auf seinen Rücken.

„Tretet ein, Vetter Hans, wir haben noch einiges zu regeln. Deine zweite Frau hat dir noch ein Mädchen geschenkt, hörte ich. So haben deine Knaben wieder eine Schwester …“

Der Äbtissin folgend verließ Hans von Bora den Raum durch eine schmale Tür. Katharina folgte der Nonne. An der Treppe drehte sie sich noch einmal um. Schwester Barbara aber hielt schon das Schlüsselbund in der Hand und klapperte ungeduldig damit. Katharina stolperte die Treppe hinunter. Draußen dämmerte der trübe Tag. Sie preßte ihr Bündel an sich und versuchte, mit der rasch voranschreitenden weißen Gestalt Schritt zu halten.

„Wie heißt du?“

„Katharina. Und du?“

„Elsa.“

„Seid ruhig! Ihr sollt schlafen“, zischte es vom Nachbarlager herüber.

Im dunklen Saal lagen die Klosterschülerinnen nah beieinander.

Draußen prasselte der Regen.

Nach einer Weile, als das ruhige Atmen rechts und links vermuten ließ, daß die Kameradinnen schliefen, wisperte es wieder:

„Wie lange bist du schon hier?“

„Ostern waren es zwei Jahre.“

Katharina seufzte.

„Es ist nur am Anfang schlimm“, flüsterte Elsa. „Ich habe auch viel geweint. Du darfst es aber nicht zeigen. Du mußt stolz sein. Schließlich darfst du ja etwas lernen. Sind deine Eltern reich?“

Katharina zögerte. Sie hörte den Vater fluchen, wenn er die Schatulle öffnete, in der er seine Gulden aufbewahrte.

„Ich glaube nicht.“

„Dann sei zufrieden! Du kriegst doch nie einen Mann, wenn du nicht reich bist.“

„Hört endlich auf! Was redet ihr da für dummes Zeug!“

„Schlaf gut!“ murmelte Elsa und drehte sich auf die andere Seite. Katharina zog die dünne Decke über ihre Schultern. Sie fror. In Brehna, in der Schule, da war es wärmer gewesen. Da hatte auch im Schlafsaal im Kamin ein Feuer gebrannt. Aber der Vater war gekommen, gleich nach Weihnachten, und hatte sie geholt, schimpfend über die Habgier der frommen Schwestern. Und im Gutshaus dann: eine neue Frau. Die Brüder sagten „Mutter“ und spotteten über sie, wenn sie die Kinder zur Ordnung rief. Aber Margret, die alte Magd, hatte Katharina ein Schaffell um die kalten Füße gewickelt.

Sie wollte ja nicht weinen, ganz gewiß nicht. Aber es konnte niemand sehen. Und ab morgen würde sie tapfer sein wie Elsa und die anderen alle. Ab morgen …

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„PASTOR, PASTORIS“xs – die Feder zog mit einem leisen Quietschen über das Papier. Der Hirte!

Über den gesenkten Köpfen der Mädchen kreiste summend eine Fliege. Es war noch kühl in dem hohen Gewölbe, wo den Klosterschülerinnen Unterricht erteilt wurde. Aber draußen brütete schon der Sommer zwischen den Mauern. Die Kühe waren auf den Weiden. Als Katharina den Blick hob, sah sie durch einen Spalt ins Freie: Da blühte der Klee unter der Sonne, und ein Schaf mit seinem Jungen stand unbeweglich mitten auf der Wiese wie in einen Traum versunken. Der Hirte!

Über die Weiden rings um das alte Gutshaus derer von Bora zogen im Sommer große Herden, und die Kinder des Hauses liebten es, sich mitten unter die Schafe zu mischen. Die wilden Buben trieben ihr Spiel mit den ängstlichen Tieren. Die kleinste aber, die eigentlich noch gar nicht mit ihnen hinausgehen sollte, die Schwester der übermütigen Bora, Katharina, die hielt gern ein Lämmchen auf dem Arm, und der gutmütige Hirte zeigte ihr die jüngsten, die noch so weich waren …

„Katharina, du träumst!“

Schwester Gertrud hob den Stock und drohte. Erschrocken fuhr Katharina zusammen und senkte beschämt den Kopf über die lateinischen Wörter. Schwester Gertrud würde wohl kaum zuschlagen. Ihr Stock fuhr nur immer durch die Luft. Man sah es an ihrem Gesicht, daß sie und der Stock nicht zusammengehörten, daß sie ihn nur nahm, weil sie meinte, es müßte so sein. Trotzdem gehorchte Katharina ihr aufs Wort. Es war sonst ein Schmerz in den Augen der Schwester, den die Mädchen nicht ertrugen. Sie liebten Gertrud, auch wenn sie die lateinischen Wörter nur mit Mühe aufs Papier und über die Lippen brachten.

„AGNUS“ – das Lamm

Katharina zwang sich, die Vorstellung von dem weichen Fell der jungen Lämmer und der zärtlich feuchten Berührung ihrer Lippen Schwester Gertrud zu opfern.

„AGNUS DEL“ – aber wenn Jesus selbst ein Lamm war, durfte man dann nicht die Lämmer auf der Weide liebhaben? So wie den alten Hirten. Ob er wohl auch dieses Jahr kommen würde? Sein Bart war bestimmt noch länger geworden. Und der Hut hatte große Löcher, was bei Regen recht unangenehm sein mußte.

„Katharina, wo bist du heute mit deinen Gedanken?“

Schwester Gertrud sah besorgt auf das Papier, das voller Flecken war.

„Kannst du nicht ein wenig sorgfältiger schreiben? Du hast ja eine ganze Schafherde gekleckst.“

Katharina brauchte nicht mehr zu antworten. Die Glocke rief zum Gebet.

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Zwischen den Säulen des hohen Kirchenschiffs standen die Mädchen in ihren grauen Schürzen dicht beieinander, während aus dem Chorraum die hellen Stimmen der Nonnen Gott lobten. Katharina wartete ungeduldig auf das Läuten der Angelus-Glocke, denn in all den lateinischen Gesängen verstand sie nur selten ein Wort:

„LAUDA, ANIMA MEA, DOMINUM:

LAUDABO DOMINUM IN VITA MEA …“

Endlich schlug die Glocke an, die das Nahen des Engels zu Maria verkündete.

„AVE OTARIA, GRATIA PLENA …“

Ihre Lippen bewegten sich: „Sei gegrüßt, Maria, …“

Das konnte sie schon mitbeten mit den frommen Frauen, die unsichtbar hinter dem Chorgitter saßen. Katharina stellte sich vor: Der Himmel fing dort an. Die Nonnen saßen auf leuchtenden Wolken, und ein goldener Schein stand über ihren Köpfen. Sie stellte sich Schwester Gertrud vor, die den Mund spitzte, die Augen schloß und voller Begeisterung sang. Aber unwillkürlich fiel ihr auch Schwester Adelheid ein, die gestern die kleine Margareta so grausam geschlagen hatte. Dabei war Margareta gewiß nicht ungehorsam gewesen. Sie hatte nur in der Nase gebohrt … Katharina vergaß die Wolken und den Himmel und sah angstvoll auf ihre Finger. Daß nur ihr nicht so etwas passierte, denn Schwester Adelheid schlug mit dem Stock auf die Hände, und das tat weh – nicht nur den Händen. Es tat bis ins Herz hinein weh, und Margareta hatte gestern noch lange geweint.

Das zweite Läuten der Angelus-Glocke weckte Katharina aus ihren Gedanken.

Nein, so ganz wie im Himmel konnte es im Chor der Nonnen wohl doch noch nicht zugehen. Sie seufzte.

Im Halbdunkel der Kirche wanderten ihre Augen zwischen den schmucklosen Säulen hin und her. Elsa, die neben ihr stand, stieß ihr in die Seite und flüsterte: „Hast du gehört? Das ist sicher Schwester Elisabeth, die so falsch singt.“

Eine zitternde Stimme erhob sich aus dem Chor der anderen und brach ab. Das Echo verhallte in den Gewölben, die Kantorin begann von neuem. Katharinas Blick blieb an einer Säule hängen. Sie hörte das Singen nicht mehr. Ein Sonnenstrahl fiel auf die Madonna im südlichen Seitenschiff, die erst vor einigen Wochen ein frommer Freund dem Kloster gestiftet hatte.

Maria trug eine Krone und darunter einen Schleier, der fast ihre ganze Gestalt einhüllte. Das Kind auf ihrem Arm löste sich schon ein Stück vom Körper der Mutter und strebte mit ausgestreckten Händen in die Dunkelheit des Kirchenschiffs. Es lachte und schien sich zu freuen, während seine Mutter sehr ernst zur Seite blickte, zum Altar hin, den das Chorgitter verdeckte. Katharina betrachtete das Gesicht der Jungfrau in dem spärlichen Licht, das darauf fiel. Es war rund und ebenmäßig und schöner als alles, was Katharina je gesehen hatte. Aber ihr Mund schien zu seufzen.

Der Kopf war ein wenig geneigt wie unter einer Last, die niemand sehen konnte. Trotzdem hielt sie sich aufrecht. Es war bestimmt nicht das Kind, das ihr zu schwer wurde. Es mußte etwas anderes sein.

Die langen Haare fielen offen über ihr Kleid. Nie durfte im Kloster ein Mädchen die Schönheit seiner Haare zeigen! Unter dem Tuch oder dem Schleier verbarg jede Frau, was vielleicht einem Mann gefallen könnte. Nur Maria nicht. Ob Gott es Maria erlaubt hatte, ihre Haare zu zeigen? Sie wollte bestimmt nur IHM gefallen und sonst niemandem.

Katharina fuhr zusammen. Das Amen verklang zwischen den Säulen. Die ungeduldigsten unter den Mädchen drängten schon auf das Seitenportal zu, um rasch in den Speisesaal zu kommen, wo in großen Kesseln ihre Suppe dampfte. Katharina wurde fortgezogen. Im Hinausgehen sah sie sich noch einmal um: Könnte die heilige Jungfrau sich nicht vielleicht rühren? Könnte sie nicht der kleinen Katharina ein Zeichen geben?

Aber vom Portal aus lag die Madonna im Schatten.

Am Abend, zur Zeit des Vespergebets, schlüpfte Katharina vor den anderen in die Kirche. Sie näherte sich mit klopfendem Herzen der Säule, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, der Mutter Jesu ins Gesicht zu sehen. Marias Augen waren hell von dem Licht, das durch die Rose über dem Westportal ins Kirchenschiff fiel. Katharina suchte angestrengt nach den Worten, die sie sagen wollte. Aber es fiel ihr nichts ein als „Mutter“ und noch einmal:

„Mutter, du bist so schön.

Dein Kind nimm hier, du schöne Mutter!

Erfreu dich seiner immerdar, du Lilie, du Rose.“

Sie hob flehentlich die Hände und suchte im steinernen Gesicht der Statue nach einer Antwort. Da legte sich plötzlich etwas Schweres auf ihre Schulter. Sie zitterte.

„Wie schön, daß du unserer Lieben Frau ein Gebet darbringst! Weißt du auch, wie der Vers weitergeht?“

Katharina schüttelte stumm den Kopf.

„Möge deine keusche Hand

den Leib des Neugeborenen hegen.

Gib deinem Kind die Brust.

Es braucht dich ja auf Erden.“

Schwester Adelheid lächelte Katharina zu und verschwand dann im Chorraum.

„Es braucht dich ja auf Erden“, wiederholte Katharina leise und dann noch einmal ganz mutig und laut. In dem Augenblick kam es ihr vor, als lächelte die Mutter Gottes ihr zu.

Hinter ihr öffnete sich das Portal. Mit leisem Flüstern drängten die Schülerinnen unter der Aufsicht einer Laienschwester in die Kirche. Im Chor rauschten die Gewänder der Nonnen. Das Abendgebet begann.

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„Katharina, Katharina, die Katze hat Junge!“

Elsa und Margareta stürzten durch den Garten und zerrten die Freundin an der Schürze über den Klosterhof.

Im Kuhstall in einer Ecke hockte die schwarz-weiß gefleckte Katze und miaute ängstlich, als die Mädchen sich näherten. Die drei hockten sich um sie herum und versuchten, die Katzenmutter zu beruhigen. Das Durcheinander der Stimmen aber verängstigte das Tier noch mehr.

„Seid doch einmal ruhig!“ fuhr Elsa die anderen an.

Schweigend warteten sie, bis die Katzenmutter ihnen den Blick auf die blinden, nackten Jungen freigab.

„Wie klein die sind!“

„Man darf sie noch nicht anfassen!“

„Wie wollen wir sie nennen?“

„Na, da habt ihr ja was entdeckt“, lachte hinter ihnen Jörg, der junge Knecht.

Er trug einen Sack in der Hand.

„Nun macht mal Platz, ich will sie fortbringen.“

„Fortbringen? Wohin?“

Der Bursche lachte wieder laut und rauh.

„In den Teich natürlich.“

Er schob die Mädchen, die sich nicht rührten, unsanft zur Seite und beugte sich über das Nest. Die Katze fuhr ihm mit einem Sprung an die Arme und kratzte ihm einen blutigen Streifen darauf.

„Verdammtes Vieh!“

Mit ausgestreckten Krallen setzte sie zu einem neuen Angriff an.

„Du darfst sie nicht töten!“ schrie Katharina dazwischen.

„Darf ich nicht?“ Jörg hielt erstaunt inne. Der Mund blieb ihm offen stehen.

„Warum denn nicht?“

„Aber sie sind doch …“

Ratlos sah Katharina Elsa an, Elsa senkte den Kopf.

„Nein, du darfst es nicht“, erklärte Margareta mit Entschlossenheit und begann zu weinen. Katharina streckte die Hand nach den Kleinen aus.

„Weg da!“ Mit einem kräftigen Schlag warf Jörg die verzweifelte Katzenmutter gegen die Holzwand. Wie betäubt fiel sie ins Stroh. Dann beugte er sich zu den Jungen, griff je zwei auf einmal und warf sie in den Sack.

„Nein!“

„Ja!“ höhnte er. „Wollt ihr sie vielleicht alle großziehen?“

Er warf sich den zappelnden Sack über die Schulter, gab der Katze, die sich noch einmal näherte, einen Tritt und stapfte aus dem Stall.

Fassungslos starrten die Kinder ins leere Stroh. Katharina sah die Katze an, die leise miauend um sie herumstrich.

„Ich hätte besser um meine Kinder gekämpft!“ sagte sie vorwurfsvoll.

„Ich will gar keine Kinder haben!“

Margareta wischte sich mit der Schürze die Tränen ab.

Die Mädchen standen auf und gingen langsam über den Hof. Auf halbem Wege machte Katharina kehrt.

„Ich erzähle es Maria!“

Und sie rannte zur Kirche. Elsa sah ihr kopfschüttelnd nach.

Unter der Statue kniete Katharina auf dem kalten Steinboden und weinte.

„Er will sie ertränken. Heilige Mutter Gottes, hilf doch, daß – daß sie leben können …“

Das südliche Kirchenschiff lag im Schatten, der Stein leblos im Dunkeln.

„Tu doch etwas, liebe Maria, ich will auch – will auch …“

Es fiel ihr nichts ein, was sie der Gottesmutter versprechen konnte. Sie stand auf und sah sich ratlos um. Alles war tot und still.

„Wenn ich Mutter wäre, ich würde es nicht zulassen“, sagte sie zu Maria und stampfte mit dem Fuß auf.

Maria hielt sich aufrecht. Nur den Kopf hatte sie leicht geneigt.

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„Katharina!“

„Pst!“

„MAGNIFICT …“,

sangen die Nonnen im Chor.

„Katharina, weißt du schon? Elisabeth wird heiraten.“

„Heiraten?“

Die vorlaute Elsa bekam von hinten einen Stoß und senkte wieder andächtig den Kopf.

„ANIMA MEA DOMINUM …“

Katharina betrachtete den schmalen Rücken Elisabeths, die vor ihr stand. Sie war einen Kopf größer als die meisten Schülerinnen, aber sonst unterschied sie sich in nichts von ihnen.

„Heiraten?“ dachte Katharina und versuchte, sich irgend etwas darunter vorzustellen. Ihre wilden Brüder fielen ihr ein. Die würden wohl auch eines Tages Frauen nehmen. Sie wußte nicht, ob sie diese zukünftigen Frauen ihrer Brüder beneiden oder bedauern sollte. Die Mägde fielen ihr ein, die schreiend vor den Knechten wegliefen und dabei die Röcke hoben, daß man ihre nackten Beine bis obenhin sehen konnte.

Beim Abendessen, bei dem die Schülerinnen nach der Regel der Zisterzienser schweigend der Lesung zuhören sollten – aber es gelang ihnen nicht immer, und Schwester Gertrud schien ein wenig schwerhörig zu sein –, fragte Katharina Elsa leise zwischen zwei Löffeln Kohlsuppe: „Wer wird Elisabeth denn heiraten?“

Elsa zuckte die Achseln und schielte zum Tisch der Schwestern.

„Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ein Graf von Mansfeld. Er ist wohl schon ziemlich alt.“

Die ersten Mädchen trugen ihr Eßgeschirr in die Küche und drängten ins Freie. Es war ein lauer Spätsommerabend.

Auf dem Hof durften die Schülerinnen reden. Auch die Knechte schrien dort herum, und die Schafe blökten in den Ställen. Katharina und Elsa suchten sich ein ruhiges Plätzchen unter dem vorspringenden Dach des Schafstalls.

„Ich weiß es von der dicken Anna. Anna weiß es von Gisela …“

„Und keiner hat Elisabeth gefragt?“

„Nein, hast du nicht ihr Gesicht gesehen? Sie läuft herum, als sollte sie an die Türken verkauft werden. Dabei wird sie doch Gräfin und bekommt schöne Kleider. Sie kann alle Tage essen, was sie will, und muß nicht immerzu fasten, und die Mägde ziehen sie morgens an …“

„Glaubst du das wirklich?“

Elsa schwieg. So ganz genau wußte sie wohl auch nicht, wie es war, verheiratet zu sein.

„Ich stelle es mir schön vor“, sagte sie schließlich mit Nachdruck.

„Ich weiß nicht“, sagte Katharina.

Ein paar Wochen später, als die Ernte schon in vollem Gange war und die Wagen der Bauern durch die Toreinfahrt rumpelten, beladen mit Getreide und Früchten, die sie den frommen Frauen abzuliefern verpflichtet waren, da drängte sich eine schmale Kutsche durch das Gewirr von Menschen und Tieren. Der Diener, der heraussprang, scheuchte die neugierigen Bauersfrauen beiseite und stapfte zum Haus der Äbtissin. Die Schülerinnen standen an den Türen und Fenstern des Schulgebäudes, so sehr Schwester Adelheid auch den Stock durch die Luft zischen ließ. Keine war zu bewegen, wieder an das Schreibpult zurückzukehren. Mit offenen Mündern starrten sie auf die schlanken Pferde und das kunstvoll gemalte Wappen, das die Türen der Kutsche zierte.

Elisabeth stand zwischen ihnen. Verstohlen sahen die Mädchen zu ihr hin. Sie war bleich, aber regte sich nicht.

Ein Diener der Äbtissin kam über den Hof gerannt und flüsterte Adelheid eine Botschaft zu. Die Schwester legte den Stock auf ihr Pult und rief: „Elisabeth!“

Elisabeth drehte sich gehorsam um, trat zu der Schwester und neigte den Kopf. Adelheid legte ihr einen Augenblick die Hände auf. Ihre Lippen zitterten. Dann wandte sie sich ab, und Elisabeth ging mit dem Diener zur Äbtissin. Wenig später trat sie wieder auf den Hof, trotz der sommerlichen Wärme in ein helles Tuch gehüllt. Ihr Bündel trug der Knecht. Er half ihr auch, in die Kutsche einzusteigen. Sie sah sich nicht mehr um. Der Wagen wendete und wirbelte eine Staubwolke auf. Er verschwand in der Toreinfahrt.

„Geht auf eure Plätze“, befahl Schwester Adelheid, aber ihre Stimme war leiser als sonst.

Als die Vesper begann, faltete Katharina die Hände und blinzelte zu der Mutter Gottes hinüber.

„Bewahre Elisabeth vor allem Schaden, heilige Jungfrau, wenn sie jetzt heiraten muß.“

Und sie fühlte einen Schauder über ihren Rücken laufen.

„SUPPLICES TE ROGAMUS

OMNIPOTENS DEUS …“

„Demütig bitten wir dich, allmächtiger Gott …“

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Allerheiligen war gerade vorüber, und der Wind trieb Regen und Schnee durch die Fenster. Fröstelnd saßen die Mädchen über ihren Büchern. Sie zogen ihre dünnen Mäntel fester um sich. Die rotgefrorenen Hände konnten den Federkiel kaum mehr halten. Immer langsamer bildeten sich die Buchstaben und Wörter, immer häufiger unterbrochen durch Niesen und Husten.

„MISERATIO HOMINIS CIRCA PROXIMUM …“

„Das Mitleid des Menschen gilt seinem Nächsten …“

Der Winter kam früh in diesem Jahr!

Margareta, die neben Katharina saß, legte plötzlich den Federkiel beiseite. Ihr ganzer Körper schüttelte sich in einem Hustenkrampf.

Katharina wandte sich ihr zu.

„Schreibt weiter!“ befahl Schwester Adelheid.

„MISERICORDIA AUTEM DEI …“

„Das Erbarmen Gottes aber …“

Margareta versuchte, weiterzuschreiben. Es gelang nicht. Sie keuchte.

„Geh in den Schlafsaal und leg dich auf dein Bett“, sagte die Schwester.

Beim Aufstehen taumelte das Kind.

„Katharina, begleite sie!“

Katharina nahm die zierliche Freundin fest am Arm. Sie mußten langsam gehen, Schritt für Schritt. Die Hand Margaretas glühte und zuckte. Im Hof dämmerte es schon. Ein verspäteter Bauernwagen ratterte über das Pflaster davon.

Im Schlafsaal warf sich Margareta wortlos auf ihr Lager und stöhnte. Ratlos stand Katharina neben ihr.

„Ich friere!“

„Warte, ich hole dir Decken.“ Katharina war froh, etwas tun zu können. Sie griff nach allen Seiten und sammelte die Decken von den Betten der anderen. Doch als sie Margareta einwickelte, schrie diese laut auf. „Gib mir Wasser! Wasser!“

Katharina rannte zum Brunnen, kam atemlos zurück und setzte der Kranken den Becher an die Lippen. Margareta zitterte. Die Tropfen liefen über ihr Kinn, fielen auf die Decke. Aber sie seufzte und sank befriedigt zurück, als der Becher leer war.

Es wurde dunkel im Schlafsaal. Katharina sah angstvoll hinaus in den verschlossenen Himmel. Sie fürchtete sich.

„Katharina!“

Die kranke Freundin streckte hilfesuchend ihre Hand aus.