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Werner Wigger
mit Albrecht Kaul

Wunder inbegriffen

Dr. med. Werner Wigger – ein Leben
voller Risiken und Nebenwirkungen

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© 2015 Brunnen Verlag Gießen

Inhalt

Zu diesem Buch

Montagmorgen auf dem Schulhof

Walfisch und Posaunen

Ein Wunsch – ein Traum?

Einführung in die sozialistische Produktion

Als Christ auf eigenen Füßen

Hürdenlauf

„Die wollen ja betrogen werden“

Freunde unter schwierigen Bedingungen

Unter Verdacht

Die unbekannte Akte

Prager Frühling und Schaufensterpuppen

Bereit zur Verteidigung des Sozialismus

Zwischen Hörsaal und Klinik

Leben im Niemandsland

Druck – Hochdruck – Überdruck

Ost-West-Treffen

Codewort Schneewittchen

In der Freiheit angekommen

„Haben Sie Kühlschränke?“

Der Schatten der Stasi

Emil und der Weg nach Kanada

Auf Urwaldpfaden in Peru

Der beschwerliche Weg in die Realität

Der lange Weg nach Afrika

Hühner im OP

Blockaden und Begeisterung

Wiedererwachte Träume

Mission mit Hindernissen

Bei den Massai

Nicht ohne meine Irmela

Wir behandeln, Jesus heilt

Sandras Mission

Alles hat seine Zeit

Klassentreffen

Nachwort von Horst Marquardt
„Ich will erkennbar bleiben“

Zu diesem Buch

Das Weihnachtsfest 2012 stand vor der Tür. Ich schickte Werner Wigger eine E-Mail mit der Bitte, uns bei der Suche nach einem Chirurgen zu helfen. Unser Hospital Diospi Suyana in Südperu benötigte für den folgenden Monat dringend chirurgische Unterstützung. Meine Hoffnung war, dass Werner Wigger mit seinem weiten Netzwerk vielleicht einen Kollegen aus der Versenkung herbeizaubern könnte. Und zwar am besten von jetzt auf gleich und natürlich auf ehrenamtlicher Basis.

Ich sollte mich irren. Am 27. Dezember schrieb mir Dr. Wigger, er habe niemanden gefunden. Mit dieser Antwort hatte ich insgeheim gerechnet – jedoch nicht mit dem zweiten Teil seiner Nachricht: „Ich komme selbst!“

Wer so etwas schreibt, muss schon aus einem besonderen Holz geschnitzt sein. Ich freute mich sehr, den erfahrenen Chirurgen bei seinem Einsatz bei uns kennenzulernen.

Ich erinnere mich noch gut an einen Abend bei uns im Wohnzimmer. Werner Wigger erzählte aus seinem Leben. Seine Geschichte war so spannend, dass das leckere Essen meiner Frau ganz in den Hintergrund trat. „Werner, du musst unbedingt ein Buch schreiben!“, lautete mein Fazit nach diesem unvergesslichen Gespräch am runden Tisch. Ich bin schon fast ein wenig stolz darauf, dass er auf mich gehört hat.

Eine Woche vor seiner Rückkehr nach Deutschland überschlug sich in der Nähe des Krankenhauses ein Bus und 34 Verletzte wurden notfallmäßig bei uns eingeliefert. Mit Werner Wigger hatten wir den richtigen Chirurgen im Operationssaal. Sein Erfahrungsschatz war wohl selten dringender vonnöten als an jenem Nachmittag. Gott hatte Werner im richtigen Augenblick nach Peru geschickt. Daran bestand kein Zweifel.

Dieses Buch zeigt eines immer wieder deutlich: Dr. Wigger ist ein Mann, der bereit ist, große Herausforderungen im Namen des Glaubens anzupacken. Solche Lebensberichte animieren mich, Gott ebenfalls zu vertrauen. Vermutlich wird es den meisten Lesern ganz ähnlich ergehen.

Dr. Klaus-Dieter John,
Direktor des Hospitals Diospi Suyana in Peru

Montagmorgen auf dem Schulhof

„Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!“, brüllt die Klassenlehrerin in die Unruhe der rückenden Stühle, weil sich die gesamte dritte Klasse zum Gruß von ihren Plätzen erhebt. Mit der ebenso gedankenlos zurückgerufenen Antwort „Immer bereit!“ beginnt der Unterricht. Doch eigentlich hat er schon zwanzig Minuten vorher begonnen.

Um 7.15 Uhr war nämlich, wie jeden Montag, Appell auf dem Schulhof. Jede Klasse war vollzählig angetreten, man sang gemeinsam das Lied „Spaniens Himmel breitet seine Sterne …“ und musste sich einige Tadel über das Verhalten in der letzten Woche anhören. Die Schülerinnen Straub und Wiegend wurden als Beste der Woche ausgezeichnet und dann lauschten alle gelangweilt und müde der Rede ihres Direktors. Von der Anstrengung der Arbeiterklasse im Kampf gegen die Kriegstreiber im Westen war die Rede, von Wachsamkeit gegen die Imperialisten, die unsere Betriebe sabotieren wollen, und von der gefährlichen Verdummung durch die Kirche hat er gesprochen.

Immer wieder fallen in letzter Zeit solche Bemerkungen gegen die Christen. Werner tun solche Worte weh. Er geht zum Kindergottesdienst in die Landeskirchliche Gemeinschaft und auch seine Mutter ist eine fromme Frau. Natürlich hat er keine Argumente gegen die haltlosen Vorwürfe, die so überzeugend klingen, aber er spürt, dass es nicht die Wahrheit, zumindest nicht die ganze Wahrheit ist. Doch heute kommt es noch schlimmer.

Frau Hafer, die Klassenlehrerin, will wissen, was der Direktor beim Appell gesagt hat. Schweigen. Einige Kinder schauen sich fragend an, andere blicken mit gesenktem Kopf auf die Bank.

Werner hat nur noch die Worte gegen die Kirche im Ohr, aber die will er nicht wiederholen. Krampfhaft überlegt er, was der Direx sonst noch gesagt hat, um auf ein anderes Thema zu kommen. Doch Frau Hafer, die aufgrund ihres Namens von den älteren Schülern nur „Pferd“ genannt wird, fährt fort: „Unser Herr Direktor ist sehr klug. Er weiß, dass die Kirche im Mittelalter die Hexen verbrannt hat, dass sie mit den Fürsten und Großgrundbesitzern zusammengearbeitet und die Wissenschaften verboten hat. Solange es die Kirche gibt, sind die Menschen nur verdummt worden. Lenin hat richtig festgestellt, dass Religion Opium für das Volk ist. Jede Religion ist schädlich und hat den Fortschritt nur behindert.“ Werner ist unglücklich. Er weiß, dass das so nicht stimmt, aber er kann nichts erwidern und er traut sich auch nicht, gegen die Lehrerin etwas zu sagen.

„Nun war doch gestern Sonntag“, fährt Frau Hafer fort, „wer von euch war denn gestern im Kindergottesdienst?“

Werner schießt das Blut in den Kopf, seine Hände werden nass und die Knie zittern. Muss er sich jetzt melden? Hat ihn gestern vielleicht jemand gesehen? Er weiß nicht, was er denken soll, alles wirbelt in ihm durcheinander – und da reckt er seinen Arm in die Höhe und meldet sich.

„Ach, sieh mal an“, so Frau Hafer. „Steh mal auf, dass wir dich alle sehen können.“

Werner hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Ihm ist zum Heulen zumute, aber er zwingt sich, gerade zu stehen. Wie durch einen Schleier hört er die gehässige Stimme der Lehrerin. „Seht euch doch mal den Werner an. Er lernt an einer sozialistischen Schule und glaubt noch an solchen Quatsch. Jetzt lachen wir ihn mal alle kräftig aus.“ Nachdem die Mitschüler nur verstört in ihren Bänken hocken, wiederholt sie die Aufforderung und fängt selbst an zu wiehern wie ein Pferd. Zaghaft lachen die Kinder mit und einige zeigen mit dem Finger auf Werner, weil die Lehrerin es vormacht.

Werner schießen die Tränen in die Augen, weil er sich so elend und hilflos fühlt. Warum machen die alle mit? Es gibt doch noch andere in der Klasse, die manchmal mit zur Kinderstunde kommen. Warum hat keiner den Mut, mich zu verteidigen, wenigstens zu mir zu halten? Er fühlt sich wie in einem Strudel, es gibt keinen Halt, keine Hilfe. Es legt sich wie eine Last auf ihn: Du bist allein, du musst das allein durchstehen. Als er sich wieder setzt, schaut er sich vorsichtig um, aber keiner zeigt Mitgefühl oder hat einen aufmunternden Blick für ihn.

Nach dem Unterricht warten die anderen nicht auf ihn. Sonst sind sie oft laut schwatzend, manchmal sogar mit einem Lied auf den Lippen gemeinsam von der Schule in die Neubausiedlung gezogen. Haben sie vielleicht ein schlechtes Gewissen? Diese Feiglinge! Ganz langsam läuft Werner heim – er nimmt sogar noch einen Umweg durch die nahe gelegene Kleingartenanlage. Immer wieder quält ihn die Frage: Wer ist wirklich dein Freund?

Die Mutter weiß sofort, dass etwas vorgefallen sein muss. So geknickt kommt ihr Junge selten nach Hause. Sie drückt ihn an sich und fragt nur: „Erzählst du’s mir?“ Aber es dauert lange, bis Werner den Vorfall so schildert, dass sie nachvollziehen kann, was in der Klasse passiert ist. Es schnürt ihr das Herz ab, aber sie wird nicht in die Schule gehen, um ihn zu schützen. Sie ist als Flüchtling aus Westpreußen gekommen und hat Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Nie und nimmer wird sie gegen eine „Studierte“ ein Streitgespräch führen können. Ihre einzige Hilfe, die sie anbieten kann, ist ein stummes Gebet – und dass sie ihrem Werner über das wuschelige Haar streicht.

Als der Vater von der Werft kommt, erzählt Mutter, was sich in der Schule zugetragen hat. Er meint nur: „Das hast du von deinem frommen Gefasel. Hättest du mal deinen Westpreußenglauben dort gelassen. Der Glaube an einen Gott passt nicht mehr in unsere Zeit.“

Werner weiß auch, dass er von seinem Vater keine Unterstützung bekommen wird. Ganz im Gegenteil: Manchmal redet der so hässlich über Gott, dass die Mutter warnt: „Gott vergisst den Spott nicht.“ Aber darüber lacht der Vater nur und macht noch mehr abfällige Bemerkungen über den Glauben. Wenn die Mutter abends mit den Kindern singt und betet, schließt sie meistens die Kinderzimmertür hinter sich, weil sonst der Vater hereinkommt und spottet. Manchmal schraubt er sogar die Sicherung heraus und die Abendandacht muss bei Kerzenschein fortgesetzt werden.

Als Werners Bruder Bernd bei der Matthias-Thesen-Werft eine Lehre zum Schiffsmaschinenbauer beginnt, gibt der Vater dem Lehrmeister den Tipp, die anderen Lehrlinge sollten seinem Sohn den unsinnigen Glauben austreiben. Die wüssten sicher, wie man so etwas macht …

Werners Mutter ist zwar eine einfache Frau, aber ihr Leben ist von einem innigen Gottesglauben geprägt. Daher versucht sie, ihren Söhnen eine andere Ideologie mitzugeben, auch wenn sie das so nie sagen würde. „Versucht, in jedem Menschen ein Geschöpf Gottes zu entdecken. Jeder Parteisekretär oder Direktor ist zuerst ein Mensch – und dann erst das, was er sagt und was ihn ausmacht.“

Solche Sätze, die von der Mutter auch so gelebt werden, haben Werner geprägt. Später fährt er einmal mit dem stellvertretenden Direktor, der auch den Zeichenzirkel leitet, in eine Gemäldegalerie nach Schwerin. Unterwegs reden sie über allerlei persönliche Dinge und Werner stellt fest, dass auch der Direktor Sorgen hat und gar nicht so stark und unnahbar ist wie in der Schule. Er merkt, dass der Lehrer zwar „linientreu“ ist, aber nicht aus Überzeugung. Das verändert seine Einstellung zu diesem Mann. Die Situation in der Schule bessert sich dadurch allerdings nicht. Werner wird mehr und mehr zum Außenseiter.

Walfisch und Posaunen

Wenn die Mutter am Sonntag jedem ihrer drei Jungs – Werner bekam noch einen jüngeren Bruder, Harry – zwanzig Pfennig gibt, um mit dem Bus zur „Gemeinschaft“ in die Innenstadt von Wismar zu fahren, steht der Vater oft an der Tür und sagt mit listigem Gesicht: „Ich gebe euch eine Mark fürs Kino, wenn ihr nicht in die Kirche lauft.“ Der Versuchung sind die drei aber nie erlegen. Die „Sonntagsschule“ ist ihnen wichtig.

Dabei ist Werner durchaus kein kleiner Heiliger. Er streift gern mit Freunden durch die verfallende Altstadt von Wismar und sie verbringen viel Zeit auf dem Russenübungsplatz, der gleich hinter der Schule beginnt. Dort lässt sich so manches finden, was Jungs interessiert, auch wenn das nicht ungefährlich ist. Weil das Neubaugebiet, wo Werners Familie lebt, noch im Entstehen ist, gibt es auch da viel Abwechslung. Zwischen halb fertigen Häusern, abgestellten Baumaschinen und aufgewühlten Schlammwüsten läuft die Fantasie von zehnjährigen Jungen zur Höchstform auf. Werner und seine Freunde bauen Buden und Höhlen aus geklautem Baumaterial und sind mächtig stolz, wie gut sie sich in den halb fertigen Plattenbauten auskennen.

Ernst ist ihm ein guter Freund. Leider wohnt er in einem anderen Stadtteil und geht auch nicht in Werners Schule. Aber in der Landeskirchlichen Gemeinschaft haben sie sich kennengelernt und angefreundet. Oft sind sie mit den Fahrrädern unterwegs und erkunden die leicht hügelige Umgebung von Wismar. Sie fahren zum Strand oder lassen sich einfach vom Wind treiben – auch wenn der Rückweg dann sehr anstrengend wird.

Sport und Fußball interessieren Werner nicht so sehr, aber Technik dafür umso mehr. Wenn es darum geht, etwas zu basteln und auszutüfteln, vergisst er die Zeit. Stolz ist er, dass seine selbst gebaute Dampfmaschine und ein Modellsegelboot sogar im Unterricht als Anschauungsmaterial genutzt werden. Gestaltende Kunst und Musik liegen ihm noch mehr. So ist er auch im Zeichenzirkel der Schule aktiv, lernt Flöte und Geige. Später bringen sich Ernst und Werner selbst das Posaunenblasen bei. Geübt wird im Keller von Ernsts Familie, aber der Erfolg ist mäßig. Erst durch eine Posaunenfreizeit, an der sie in Thüringen teilnehmen können, lernen sie die Grundbegriffe und sind nun in der Lage, einfache Choräle zu spielen. Voller Eifer bauen sie einen Posaunenchor in der Gemeinschaft auf. Die Instrumente finden sie in einem hohen Schrank, dazu die legendären Notenbücher des Posaunengenerals Johannes Kuhlo.

Einmal fahren sie mit ihren Rädern an die Steilküste von Boltenhagen, die Flügelhörner auf dem Gepäckträger. Sehnsüchtig blicken sie über die Ostseebucht und versuchen im Dunst die Küste von Schleswig-Holstein auszumachen. Undenkbar, da jemals hinüberzukommen! Waghalsige Schwimmer oder Schlauchbootfahrer versuchen es zwar immer wieder, aber die meisten kommen nicht dort an. Es heißt, dass sie von Kampfschwimmern der Volksarmee unterwegs getötet würden. Aber man könnte ja einfach am Stand entlanglaufen und käme irgendwann in Kiel an … Doch der fünfzehn Kilometer breite Sperrgürtel vor der Grenze zur Bundesrepublik würde solcher Wanderung ein jähes Ende bereiten, wenn nicht sogar eine Verhaftung mit sich bringen. Denn jede Annäherung kann schon als versuchte Republikflucht ausgelegt werden. Traurig und bedrückt ist die Stimmung der beiden. Dennoch wollen sie irgendetwas machen, die Freiheit da drüben grüßen. Weil der Wind günstig ist, nehmen sie ihre Hörner heraus und spielen einige Choräle. Natürlich trägt der Wind die Melodien nicht übers Meer. Nicht mal die Grenzsoldaten scheinen sie gehört zu haben, zumindest werden die Jungs nicht belangt.

Immer wieder zieht es sie hierher an die Steilküste. Ein anderes Mal im Winter – die Wismarer Bucht ist zugefroren – wandern sie übers Eis zur unbewohnten Insel Walfisch. Das ist zwar auch nicht erlaubt, aber die beiden möchten ausprobieren, ob man vielleicht auch übers Eis in den Westen oder bis nach Dänemark fliehen könnte. Sie fühlen sich wie die Abenteurer und Entdecker, als die Insel langsam näher kommt und die Stadt Wismar mit ihren markanten Türmen der Nikolai- und Marienkirche im Dunst verschwindet. Der Puls geht schneller und sie merken den scharfen Wind nicht, der ihnen die Eiskristalle ins Gesicht weht.

Als sie die Insel erreichen, sind sie enttäuscht. Nur verschneites Gras, ein paar zerzauste Büsche, ein Leuchtfeuer, das die Einfahrt in den Hafen von Wismar regelt und auch am Tage ein mattes Licht aussendet. Das Wetter wird schlechter, es beginnt zu schneien und von Wismar ist nichts mehr zu sehen. Ernst meint zwar großspurig, dass er sich an der Sonne immer orientieren kann, aber die ist auch nicht mehr zu erkennen. Auch über ihnen und um sie ist nur noch eine trübe graue Masse. Also schnellstens zurück – genau in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Aber bald sind sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich in Richtung Redentin laufen, von wo aus sie gestartet sind. Ihre Spuren sind nicht mehr zu sehen. Natürlich haben beide Angst, aber das wollen sie sich gegenseitig nicht eingestehen. Werner betet um Gottes Schutz, aber das jetzt mit Ernst gemeinsam zu tun, das ist ihm peinlich.

Plötzlich hören sie Motorengeräusch, den schweren Dieselmotor eines Schiffes. Ein Schiff? Auf dem Eis? Es ist der Eisbrecher, der die Fahrrinne zur offenen See hin frei hält. Mit panischer Angst starren sie in den Nebel, aber sie hören nur das Wummern des Motors und das Krachen und Knistern des Eises. Dann können sie den schwarzen Koloss fünfzig Meter hinter sich ausmachen.

„Der darf uns nicht sehen, sonst gibt es eine satte Strafe, los, hinlegen!“, ruft Ernst. Sie strecken sich der Länge nach auf das Eis, den Kopf zum Eisbrecher. Unter ihnen beginnt das Eis sich zu bewegen. Die Wellen des Eisbrechers setzen sich unter der Eisdecke fort, sodass diese sich leicht auf und nieder bewegt. Ein Knacken geht durch die Eisdecke, aber sie hält und die Bewegungen werden weniger. Im aufkommenden Dunkel können sie die Lichter des Dorfes sehen. Bald erreichen sie wieder sicheres Land.

Ein anderer Ort, an dem Werner und Ernst sich treffen können, um miteinander zu „spinnen“, ist ihre Höhle auf dem Russenplatz. Weil sie am Rande des Platzes liegt, gleich hinter dem durchgerosteten Stacheldrahtzaun, kommen die russischen Soldaten nicht bis hierher. Trotzdem wagen sich die Jungs auch manchmal bis an die Panzer und schweren Militärfahrzeuge heran. Mit acht Jahren raucht Werner dort seine erste Machorka. Das sind die üblichen Zigaretten, welche die russischen Soldaten selbst drehen. Ein Stück Zeitungspapier, zwei Fingerspitzen voll grobem Tabak aus der Hosentasche, die auf die Ausrisse gelegt werden. Dann wird kräftig auf den Rand des Papiers gespuckt und das Ganze zusammengedreht. Sie sitzen mit den Soldaten auf der Kette eines Panzers und paffen wie die Großen. Von dem beißenden Qualm wird den Jungen ganz übel. Die Soldaten lachen sich kaputt und schlagen ihnen kräftig auf den Rücken. Mit einer ganzen Stange „Pfeffi“ versuchen die beiden das Abenteuer vor ihren Müttern zu verbergen, aber der rauchige Geschmack quält sie bis zum nächsten Morgen.

Einmal erleben die beiden in ihrer Höhle eine brenzlige Situation. Ein Soldat schleicht bei einsetzender Dunkelheit mit zwei 20-Liter-Kanistern an ihnen vorbei zum Zaun. Dort wartet er geduckt. Was hat er vor? Endlich kommt ein Trabi angefahren, der schon hundert Meter vorher die Scheinwerfer ausschaltet und genau vor den Jungs hält. Ein jüngerer Mann steigt aus, blickt sich nach allen Seiten um. Er hält einen Beutel in der Hand, in der eine Schnapsflasche zu erkennen ist. Der Tausch gegen die Kanister ist schnell vollzogen und der Trabi knattert davon.

Inzwischen ist es fast dunkel und der Soldat stolpert genau in die Höhle der Jungen. Er ist ebenso erschrocken wie die beiden, fasst sich aber schneller. „Du Wodka wollen?“, fragt er und hält den Jungen die Flasche entgegen.

Sie lehnen ab und Ernst sagt geistesgegenwärtig: „Du Towarisch (Kamerad), wir Towarisch!“ Der Soldat legt verschwörerisch den Finger auf den Mund und verschwindet im Gestrüpp.

Ein Wunsch – ein Traum?

Mit zunehmendem Alter entdeckt Werner das Lesen. Besonders mag er Bücher, die von anderen Ländern erzählen, Abenteuerromane von Karl May (die allerdings in der DDR verboten sind) und Lebensbeschreibungen von mutigen Menschen. Manchmal gelingt es Verwandten aus dem Westen, solche Bücher ins Land zu schmuggeln.

Diese Literatur wird auch unter Kindern getauscht, allerdings darf das nie in der Schule passieren. Wenn bei unangekündigten Ranzenkontrollen ein Buch aus der feindlichen BRD entdeckt wird, gibt es richtig Ärger. Man wird zum Direktor zitiert oder beim Montagsappell vor der gesamten Schulversammlung bloßgestellt. Auch die Eltern werden vorgeladen und verwarnt; schlimmstenfalls erfolgt sogar eine Meldung im Betrieb, wo die Eltern arbeiten. So gerät eine Familie schnell unter die Beobachtung der Staatssicherheit.

In einem dieser Bücher, die heimlich untereinander getauscht werden, liest Werner die Lebensgeschichte von Dr. Albert Schweitzer. Er staunt über das Engagement des Arztes im Urwald von Lambarene und seine Ehrfurcht vor allem Leben. Dass man das niedere, sogenannte unwerte Leben nicht einfach beseitigt, sondern sich für Schwaches und Hilfloses einsetzt – für Werner ist es eine faszinierende Vorstellung. In der Schule wird etwas ganz anderes gelehrt, da wird immer vom Hass gegen den Klassenfeind gesprochen. Mit den Imperialisten diskutiert man nicht, die sind zu vernichten, heißt es. Mitleid mit dem Andersdenkenden oder gar Verständnis ist völlig undenkbar!

Die Gedanken von Albert Schweitzer hinterlassen bei Werner ihre Spuren. Langsam wächst ein Wunsch in ihm heran, den er allerdings niemandem zu sagen wagt: Er möchte Missionsarzt werden wie sein großes Vorbild Schweitzer. Dabei ist ihm klar, dass dieser Wunsch völlig unsinnig ist. Wird er überhaupt zur Erweiterten Oberschule (EOS) zugelassen? Wird er Medizin studieren können? Und selbst wenn das gelingt – dem Dreizehnjährigen ist klar, dass er gar nicht aus der DDR ausreisen kann. Also ein Wunsch, der ein Traum bleiben wird! Deshalb spricht er auch mit niemandem darüber, denn alle würden ihn für übergeschnappt halten. In seiner Klasse gilt er sowieso schon als seltsamer Einzelgänger, der die Musik mehr liebt als Fußball, der zeichnet, statt Skat zu spielen …

Einführung in die sozialistische Produktion

Alle vier Wochen verbringen die Schüler der siebten und achten Klasse einen Tag in einem sozialistischen Großbetrieb. Sie sollen die Arbeitswelt kennenlernen und Einblick in Produktionsabläufe bekommen. ESP – Einführung in die sozialistische Produktion – nennt sich das.

Werners Klasse geht in die Matthias-Thesen-Werft von Wismar. In riesigen Werkhallen stehen sie an langen Werkbänken und bekommen gezeigt, wie man mit Feile, Schieblehre, Hammer und Bohrmaschine umgeht. Die Arbeiten sind meist stupide und wenig motivierend. Selten geht es darum, echte Werkstücke herzustellen, die in der Werft wirklich gebraucht werden. Dennoch interessiert sich Werner für diese praktische Arbeit, zumal sein Vater ihn an solche handwerklichen Fähigkeiten nicht herangeführt hat. Gleichzeitig lernt er aber auch die sozialistische Arbeitsmoral kennen. Ist kein Material vorhanden, wird eben nicht gearbeitet und auch keine Anstalten gemacht, das Fehlende zu besorgen. Man spielt Karten oder macht eigene Besorgungen. Für die Bereitstellung der nötigen Schrauben und Bauteile ist schließlich ein anderer verantwortlich. Warten auf Material gehört zur sozialistischen Produktion. Man erzählt sich einen treffenden Witz: Kommt ein Lehrling auf die Baustelle und sagt zum Meister: „Entschuldigung, ich habe meine Schaufel vergessen.“ Der Meister: „Macht nix, stütz dich halt auf meine.“

Was noch viel schlimmer, aber in allen Großbetrieben üblich ist, sind die privaten Werkeleien und die Selbstbedienung der Arbeiter. Wenn keine Arbeit vorhanden ist, bauen die Werktätigen Dinge, die sie zu Hause gut gebrauchen können. Antennen, Gartenbänke, ganze Hebebühnen für die private Trabbi-Reparatur und Grillroste werden geschweißt, geschraubt und auf dubiosen Wegen aus dem Werk geschmuggelt – trotz Werkschutz an den Toren und hohem Sicherheitszaun mit Stacheldraht. Unter den Arbeitern hat sich die Meinung breitgemacht: Das Material gehört doch niemandem persönlich, es ist Volkseigentum – und das Volk sind ja wir. Außerdem gibt es in der DDR keine Baumärkte. Werkzeug und Gebrauchsgegenstände fürs Hobby zu Hause kann man nicht kaufen, also versorgt man sich selbst. Viele denken: Ich kann das privat viel besser gebrauchen, als dass es hier im Betrieb vielleicht vergammelt.

Hinzu kommt der florierende Handel mit den in Schwarzarbeit hergestellten Dingen. Wer sich einmal auf Grillroste spezialisiert hat, der hat etwas Lukratives zum Tauschen. Mit der Zeit wird das fast so etwas wie die zweite Währung. Ab und zu lässt die Betriebsleitung mal jemanden hochgehen, der dann als abschreckendes Beispiel hart bestraft wird: Sabotage am Volkseigentum! Aber im Grunde hat sich jeder an die Situation gewöhnt.

Als Christ auf eigenen Füßen

Mit seinem Freund Ernst fährt Werner auf „Rüstzeiten“ der evangelischen Gemeinschaft. Rüstzeit ist ein bewusster Begriff für Freizeiten mit biblischem Programm. Zwar sind Eltern und Nichtchristen oft überrascht, weil sie meinen, das Wort hätte etwas mit militärischer Rüstung zu tun. In Wirklichkeit geht es aber um die „Zurüstung“ zum engagierten Glauben. Der Name wird deshalb verwendet, weil „Freizeit“ eine Domäne der FDJ und der sozialistischen Bildungspolitik ist.

Im Sommer 1963 fahren die Jungen – beide sind 13 Jahre alt – auf eine Rüstzeit nach Hohenkirchen. Der kleine verträumte Ort am Wohlenberger Wiek an der Ostsee ist nicht weit von Wismar entfernt, sodass sie ihn mit ihren Rädern erreichen können. Geschlafen wird auf dem Dachboden einer umgebauten Scheune, die zum Pfarrhof gehört. Natürlich nur auf Strohsäcken, denn für 20 Betten ist gar kein Platz. Wenn es nachts ganz ruhig wird, hört man ein leises Knacken und Schaben. Das ist richtig unheimlich.

Schließlich untersucht Rolf, der Rüstzeitleiter, die Geräusche und stellt fest, dass die Balken des Dachstuhles genüsslich von Holzwürmern zerfressen werden. „Da wollen wir mal hoffen, dass die Würmer nicht so schnell sind und der Dachstuhl bis zum nächsten Sonntag hält“, meint er. Das eifrige Ticken der Holzwürmer verfolgt sie jede Nacht, aber die Jungs gewöhnen sich an das Geräusch oder übertönen es mit Witzen und Lachen. Nur wenn das Wetter regnerisch und die Luft feucht ist, machen die Würmer eine Verschnaufpause. Alle zwei Tage muss der Boden gekehrt werden, weil der feine Holzstaub sich im ganzen Raum verteilt und auch auf die Schlafsäcke fällt.

Gekocht wird von Rolfs Frau und man kann nur staunen, was für ein schmackhaftes Essen sie unter primitivsten Verhältnissen bereitet. Die „Küche“ befindet sich im ehemaligen Waschhaus, einem kahlen Raum ohne Putz an den Wänden. Es gibt einen Kohleherd, der mehr rußt als brennt, und einen Wasserhahn. Der Abfluss ist ein Loch im Boden und alles, was man da hineingießt, tritt im Hof wieder zutage, um schließlich im Sand zu versickern. Speisereste werden von Pfarrers Hühnern gern angenommen.

Ein besonderer Höhepunkt ist die Nachtwanderung. Alle Taschenlampen müssen in der Scheune bleiben, nur Rolf als Leiter hat eine dabei – für alle Fälle. Erst gehen sie auf einem Forstweg in den Wald hinein, dann biegt Rolf unvermittelt vom Weg ab und sie schlagen sich durchs Unterholz. Zweige peitschen ins Gesicht und Brombeerranken reißen an den Trainingshosen. Endlich hat Rolf wieder einen schmalen Weg gefunden. Jetzt hören sie in der Ferne Geschützfeuer, Maschinengewehre und dumpfe Granatwerfer. Sie kennen die Geräusche zwar vom Russenplatz, aber hier im Dunkeln klingt das richtig gefährlich. Einige Jungs bedrängen Rolf, doch endlich wieder das Pfarrhaus anzusteuern – oder hat er sich gar verlaufen? Nicht dass sie noch auf den Truppenübungsplatz geraten!

Endlich, gegen ein Uhr und ziemlich müde, erkennen sie vor dem bleigrauen Himmel die Umrisse der Kirche. Rolf steuert darauf zu. Von drinnen hört man ein polterndes und klapperndes Geräusch. Alles ist total dunkel und der Turm zeigt wie ein mahnender Zeigefinger in den Himmel.

„Wer hat Mut und geht mal in die Kirche? Wir müssen herausfinden, was dort vor sich geht“, sagt Rolf. Keiner hat den Mut, allein hineinzugehen, aber es will auch niemand ein Angsthase sein. So gehen sie gemeinsam. Rolf geht voran und die Jungen dicht gedrängt hinterher.

Drinnen in der Kirche sehen sie auf der Empore ein schimmerndes grünliches Licht hin und her hüpfen. Mal ist es weg, dann poltert es wieder gewaltig, auf einmal ist es wieder zu sehen und man hört einen hohen Pfeifton. Am Lagerfeuer kriegen sie nicht genug von den Gruselgeschichten, aber was hier vor sich geht, ist doch zu viel.

„Rolf, mach Licht!“, rufen einige, denen die Angst schwer zu schaffen macht. Dietrich fährt die Angst so in die Därme, dass er fluchtartig die Kirche verlassen muss und hinter einem Grabstein eine deutliche Markierung hinterlässt … Rolf bläst zum Rückzug und ziemlich angstgebeutelt kriechen die Jungs in ihre Schlafsäcke.

Am Morgen klärt sich alles auf. Das Gespenst stellt sich höchstpersönlich vor. Ein Mitarbeiter der Gemeinde zeigt den Jungs einen Weidenstock, der am Ende schon total vermodert ist. Dieses Ende strahlt in der Dunkelheit ein leicht fluoreszierendes Licht aus. Dann zeigt er seine dicken Filzstiefel, mit denen er auf der Empore herumgetrampelt ist. Die Erleichterung ist groß und Rolf muss am Nachmittag am Strand ein Eis ausgeben, weil er ihnen so einen Schrecken eingejagt hat. Gleich nach dem Frühstück geht die Suche nach solchen Weidenstöcken los, denn viele Jungs haben ja zu Hause noch Geschwister …

Die Bibelarbeiten und Abendgestaltungen finden bei schönem Wetter im „Lindendom“ statt. Auf dem Weg zum Friedhof gibt es ein Rondell, welches von riesigen Linden umgeben ist. Blickt man zum Himmel, sieht man etwas wie das Kreuzgewölbe eines mächtigen Domes. Hier hocken die Jungs auf niedrigen Bänken und Steinen. Da wird gesungen und am Abend ein Lagerfeuer entzündet. Sie entdecken, dass die biblischen Geschichten nicht langweilig sind, sondern etwas mit ihnen zu tun haben. Hier fallen Entscheidungen für den Glauben. Einige beginnen in abendlichen Gebetsrunden sogar laut zu beten. Auch Werner bekommt Sehnsucht, ganz zu diesem Gott zu gehören. Nicht nur weil es Spaß macht, mit anderen Christen im gleichen Alter zusammen zu sein, sondern weil er entdeckt, dass man diesem Gott vertrauen kann.

Doch am nächsten Tag findet die Rüstzeit ein jähes Ende. Ein Auto aus Wismar fährt vor. Polizei und Vertreter der Partei steigen aus und verbieten die Weiterführung dieser antisozialistischen, konterrevolutionären und unerlaubten Versammlung. Alle Argumente, dies sei eine rein kirchliche Veranstaltung, sogar der Bischof habe den Auftrag dazu gegeben, und hier geschehe rein gar nichts Antisozialistisches oder Konterrevolutionäres, helfen nichts. Rolf ist machtlos, er muss den Rücktransport der Teilnehmer organisieren. Den Jungs, die zwar innerlich rebellieren, aber vor der geballten Staatsmacht Angst haben, bleibt nichts anderes übrig, als den Rucksack zu packen und traurig zu den Fahrrädern zu gehen, um den Heimweg anzutreten.

Einem der Teilnehmer, er heißt Wolfgang, kommen vor Zorn und Enttäuschung die Tränen. Ihm ist das peinlich, aber er kann sie nicht unterdrücken. Werner nimmt ihn zur Seite, legt ihm den Arm um die Schulter und meint: „Wolfgang, ich finde es toll, dass du gestern Abend am Lagerfeuer den Mut hattest, vor der Gruppe zu erzählen, dass sich dein Glaube hier in den Tagen verändert hat. Du hast gesagt, dass du jetzt viel konkreter an Gott glaubst und als Rolf zur Gebetsgemeinschaft aufgerufen hat, hast du sogar vor allen laut gebetet. Du, Wolfgang, ich glaube, auch diese Polizeiaktion hat etwas mit Gott zu tun. Vielleicht will er unseren Glauben prüfen? Wir können trotzdem glauben, dass Gott stärker ist als die Polizei.“

Auch Rolf sagt, ehe sie auf die Räder steigen: „Die Christen in der Urgemeinde wurden verfolgt und viele haben sogar ihr Bekenntnis zu Jesus mit dem Leben bezahlt. Gerade in unseren Bibelarbeiten haben wir davon gesprochen, welche Schwierigkeiten die erste Gemeinde hatte und wie sie immer wieder von Gott bewahrt wurde. Wir erleben hier auch etwas von der Macht des Bösen, der nicht will, dass junge Menschen zum Glauben kommen. Jungs, wir sind auf der richtigen Fährte und unser Herr geht mit. Ihm gehört alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“

Schweigsam radeln sie zurück nach Wismar. Wolfgang kann aber nicht nach Hause, weil seine Eltern gerade Urlaub am Plattensee in Ungarn machen. Werner würde ihn gern mit nach Hause nehmen, aber das wäre seinem Vater nicht recht. So lässt es der Rüstzeitleiter Rolf darauf ankommen und bringt Wolfgang zur Polizei. Die sollen ruhig sehen, was für Probleme durch die unsinnige Maßnahme entstanden sind.

Nach einigen Telefonaten wird Wolfgang in ein Polizeiauto verfrachtet und in ein Ferienlager der „Jungen Pioniere“ nach Boltenhagen gefahren. Dort erlebt er das genaue Gegenteil der Rüstzeitatmosphäre: am Morgen Appell statt Bibelarbeit, militärische Übungen statt Sport, alles jeweils in der Gruppe, ohne individuelle Freiheiten. Auch die Leiterinnen und Leiter sind aus einem anderen Holz, das merkt Wolfgang schon mit seinen dreizehn Jahren. Heimlich liest er jeden Tag ein Kapitel in dem kleinen Neuen Testament, das Rolf ihm geschenkt hat. Die Texte aus der Apostelgeschichte passen gut zu seiner Situation, sie machen ihm Mut.

Eigentlich hatte sich Werner schon lange auf seine Konfirmation im nächsten Jahr gefreut. Aber irgendwie geht es ihm in den letzten Wochen nicht gut. Eine Mischung aus Enttäuschung und Schwermut hat sich wie ein Nebel auf ihn gelegt. Die Freude am Leben und am Glauben scheint wie eingefroren.

Von den Jugendlichen, die seit vorigem Jahr am Konfirmandenunterricht teilgenommen haben, sind in letzter Zeit immer mehr abgesprungen. Warum nur? Sie waren doch so eine eingeschworene Gruppe! Man hat sich gegenseitig Mut gemacht, wenn in der Schule über die Christen gespottet wurde, man hat zusammengehalten, wenn ein Schüler vom Lehrer wegen seines Glaubens gedemütigt wurde. Doch jetzt bleiben viele weg, sogar Jungen, die an der Rüstzeit in Hohenkirchen teilgenommen haben. Werner fragt einige nach den Gründen, bekommt jedoch keine Antwort. Nur Ausflüchte und – Schweigen.

Auch Wolfgang bleibt weg. Das macht ihm besonders zu schaffen, weil Wolfgang in Hohenkirchen so einen wunderbaren Start zu einem verbindlichen Glauben hatte. Er besucht ihn zu Hause, aber da ist Wolfgang erst recht nervös. „Ich kann dir das nicht erklären. Hier nicht!“, sagt er und schaut ängstlich zur Küche hinüber, wo seine Mutter mit Geschirr klappert.

Werner lässt sich nicht so schnell abweisen, es geht ja auch um seine Stimmungslage. „Du kannst doch nicht die Gemeinschaft mit Gott und seiner Gemeinde aufgeben. Erinnerst du dich nicht mehr an unsere Zeit in Hohenkirchen?“

„Doch, Werner. Aber es ist anders, glaub mir. Ich will dir das später erzählen, hier geht das nicht.“

Tagelang geht Wolfgang ihm aus dem Weg, bis Werner ihn vor der Kaufhalle abpasst. Aber was er hier erfährt, bedrückt ihn noch mehr. Wolfgang erzählt: „Es ist wegen meiner Eltern. Sie haben mir verboten, in den Konfirmandenunterricht zu gehen. Vater haben sie im Betrieb die Hölle heißgemacht. Er soll sein Kind gefälligst im Sinn des Sozialismus erziehen und von den schädlichen Einflüssen der Kirche fernhalten. Wenn ich weiter in den „Konfi“ gehe, verliert er seinen Posten als Abteilungsleiter. Und dann könnte er weder den Betriebswagen nutzen noch nach Ungarn in den Urlaub fahren. Auch Mutter haben sie im Krankenhaus in die Parteileitung bestellt. Sie ist zwar nur Nachtschwester, aber man hat ihr gedroht, dass sie keine Aufstiegschancen hätte, wenn ich weiter in die Kirche gehe. Jetzt redet sie ständig auf mich ein, ich könne ja persönlich denken, was ich will, aber ich solle mich anpassen. Sie will nicht, dass ich ihr später mal Vorwürfe mache, sie hätte mich nicht gewarnt …“

Werner hat sich alles schweigend angehört und ihm ist richtig schlecht. Ist das wirklich so, dass Kinder über ihre Eltern erpresst werden? Ist Gott der Verlierer in dieser Zeit? Werner kennt doch auch die Ängste in der Schule. Sein Vater spottet ebenfalls über den christlichen Glauben – aber ihn hat das eher im Glauben stark gemacht. „Wolfgang, erinnerst du dich noch an die Bibelarbeiten auf der Rüstzeit? Haben wir dort nicht über Mut und das Bekenntnis zum Glauben gesprochen?“

„Was soll ich denn machen? Vater hat es glattweg verboten, dass ich zum Konfi gehe. Und Mutter versucht mich ständig zu bearbeiten, dass ich an mich und meine Zukunft denken soll.“

„Und dein Glaube?“, fragt Werner nach.

„Ich glaube immer noch, das kannst du mir glauben! Ich lese auch noch im Neuen Testament – manchmal jedenfalls.“ Werner ist erschüttert und zornig. Nicht auf Wolfgang, sondern auf diesen Staat, der so mit Eltern und Kindern umgeht.

Bei zwei weiteren Konfirmanden – Sabine und Heinz-Peter – sind Werners Erfahrungen noch niederschmetternder. Sie reden offen davon, dass sie moderne und fortschrittliche Menschen sein wollen und dass man mit den Wölfen heulen muss, sonst würde man selbst aufgefressen. Hauptsache, sie kämen im Leben weiter, könnten sich später mal viel leisten und hätten ihre Ruhe vor der Politik. Sie würden sich auch um Gott keinen Kopf mehr machen, vielleicht sei das ja alles bloß Einbildung. Wissenschaftlich sei die Sache mit Gott sowieso nicht haltbar.

Da ist es wieder – dieses Gefühl, ganz allein zu sein. Werner meint, niemandem vertrauen zu können. Solche Klassenkameraden machen ihm Angst. Menschen, die keinen Standpunkt haben, die ihre Fahne nach dem Wind hängen, die alles vermeiden, um ja nicht aufzufallen: Hat es das in Deutschland nicht schon einmal gegeben?

Freundschaften zerbrechen, das schmerzt ihn besonders. Das Reden auf dem Schulhof wird zum einstudierten Rollenspiel. Keiner sagt mehr das, was er wirklich denkt und fühlt. Im Unterricht, bei den auswendig gelernten Politphrasen sowieso, aber eben auch im alltäglichen Miteinander. Man muss sich gut überlegen, wem man einen Witz erzählt. Denn man weiß nie genau, mit wem man es zu tun hat. Wenn doch einmal eine Diskussion über Weltanschauungsfragen oder aktuelle Ereignisse aufkommt, wird sie wie von einer unsichtbaren Hand der Angst plötzlich abgewürgt. Verlegen weicht jeder auf Allgemeinplätze aus oder albert plötzlich herum, um einen Ausgang aus der Situation zu finden. Keiner will sich angreifbar machen.

Da reift in Werner der Gedanke: Aber ich will erkennbar bleiben. Ich will mir ins Gesicht sehen können. Ich will den anderen keine Rolle vorspielen. Ich will Gott auch in der Öffentlichkeit und im Gegenwind die Treue halten. Und so kniet er sich am Abend vor der Konfirmation vor sein Bett und bittet Jesus Christus, der Kapitän und Lotse seines Lebens zu werden. Es ist ihm wichtig, dies laut auszusprechen und sein Leben mit Gott festzumachen.

Am nächsten Tag sind es nur vier Konfirmanden, die in der riesigen Backsteinkirche St. Nikolai vor den Altar treten. Für diese vier ist es mehr als eine Familienfeier. Ausstaffiert mit Anzug oder Kleid, Schuhen, Armbanduhr und Wäsche wurden sie durch Pakete aus einer Patengemeinde im Westen. Weil sich die vier so in der Gemeinde engagieren, hat der Pastor ihnen die Patenschaften organisiert.

Die Konfirmanden wissen genau: Mit diesem Gottesdienst zeigen sie, dass sie sich dem Druck des Staates nicht beugen. Sie wollen ihr Leben von einer höheren Regie bestimmen lassen. Geschickt geht der Pfarrer in seiner Predigt auf die kleine Gruppe ein. Er fordert sie auf, die große Kirche wahrzunehmen, in der Generationen von Wismaranern – Kaufleute, Seefahrer und einfache Fischer, Vertreter der Hanse genauso wie einfache Tagelöhner – das Wort Gottes hörten und ihm die Ehre gaben. Auch wenn es aktuell Anfeindungen gegen die Christen gibt, die Gemeinde hatte immer wieder schwierige Zeiten durchzustehen. Die Treuen – auch wenn es nur wenige sind – haben Gottes Versprechen, dass er sie nicht vergisst.

Werner ist gespannt auf seinen Konfirmationsspruch. Sie haben zwar im Konfi-Unterricht über die Bedeutung mancher Sprüche gesprochen, aber es wurde nicht verraten, wer welchen Bibelvers zugesprochen bekommt. Und dann hört er ihn: „Nun seid ihr nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2,19).