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Eva-Maria Admiral

Mein Überlebenslauf

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In den verwendeten Briefwechseln wurde sinnwahrend gekürzt. Die Originale liegen vor.

© Brunnen Verlag Gießen 2015
www.brunnen-verlag.de
Umschlagfoto: Claudia Börner, Linz/Österreich
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-0921-6
eISBN 978-3-7655-7337-8

Dieses Buch ist nicht für Menschen bestimmt,
die alles im Griff haben,

auch nicht für Menschen, die geheilt sind,
die sich in allem gehalten und getragen fühlen.

Dieses Buch ist auch nicht für Menschen,
die mit sich selbst im Reinen sind,
mit einem hohen Selbstwertgefühl.

Wenn Sie eine „glückliche Kindheit“ gehabt haben,
werden Sie dieses Buch vielleicht als seltsam und unnötig empfinden. Dann schenken Sie es weiter.

Dieses Buch ist für all die anderen, die übrig geblieben sind.

Über die Autorin

EVA-MARIA ADMIRAL, geboren in Österreich, studierte Literatur an der Sorbonne in Paris. Schauspielausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, zehn Jahre im Ensemble am Wiener Burgtheater, Zusammenarbeit u.a. mit Regisseuren wie Manfred Karge, Jürgen Flimm und Claus Peymann; Engagements bei den Wiener Festwochen und den Salzburger Festspielen unter der Regie von Jürgen Flimm; Hauptrollen u.a. in Ein Sommernachtstraum, Der Verschwender und Ein Florentinerhut. Wiederholt Zusammenarbeit mit Regisseur Claus Peymann und als Partnerin von Nicholas Ofczarek. Daneben Mitwirkung in deutschen Fernsehproduktionen.

Seit 1996 steht sie als freie Schauspielerin mit Soloprogrammen auf der Bühne, auch zusammen mit ihrem Mann, dem Schweizer Schauspieler Eric Wehrlin. Beide sind Schauspieltrainer in Australien und arbeiten als Dozenten für Sprechtechnik und Rhetorik. Von 1997 bis 2006 trat sie als Schauspielerin bei ProChrist täglich im Hauptprogramm auf; ferner bei Veranstaltungen von Willow Creek, Chicago. Weiterbildung in den USA (actors studio). Sie ist Autorin mehrerer Bücher und produzierte DVDs und CDs. In Österreich, Deutschland und der Schweiz steht sie mit erfolgreichen Soloprogrammen auf der Bühne, wie dem Bestseller Oskar und die Dame in Rosa von Eric-Emmanuel Schmitt, dem Stück vom Glück und Sachen zum Lach-denken. Auszeichnungen: Preis als beste Nachwuchsschauspielerin, Wien (1988), Stipendium der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart (1998), Theaterpreis Ruhrtriennale. Mehr Informationen zur Autorin unter www.admiral-wehrlin.de.

Inhalt

Vorwort von Judy Bailey

Prolog

Kapitel 1 „Du hattest es immer schon so eilig“

Kapitel 2 Ich bin eine Leistungstochter

Kapitel 3 Mumi – mir gefallen Menschen besser als Prinzipien

Kapitel 4 Not zwingt uns, Ideen zu entwickeln

Kapitel 5 „Frech, laut und sie lacht“

Kapitel 6 Und mein Leben beginnt jetzt!

Kapitel 7 Suchen – werden – finden

Kapitel 8 Die Entdeckung der Unendlichkeit

Kapitel 9 Ich habe meinen Namen wieder

Kapitel 10 Burning Love und ausgebrannt

Kapitel 11 Das Leben stellt uns Fragen

Kapitel 12 Entsorgtes Glück

Kapitel 13 Kampfplatz Bühne

Kapitel 14 Gott am Theater?

Kapitel 15 „Nicht anfassen, Herr Lagerfeld!“

Kapitel 16 Wozu das ganze Theater?

Kapitel 17 Gelassene Leistungstochter

Kapitel 18 Eigentlich ist alles schiefgelaufen!

Kapitel 19 Raupe mit Schmetterlingsflügeln

Kapitel 20 Nahtod mit Vorlauf

Kapitel 21 Nemo

Kapitel 22 Mutter, Vater, warum kämpft ihr so mit mir?

Kapitel 23 Gott den Scherbenhaufen überlassen

Kapitel 24 Wenn der Vorhang fällt

Kapitel 25 Wie wir spielen, liegt an uns

Kapitel 26 „Sie haben alles versucht“

Epilog

Vielen Dank

Aktuelle Theaterstücke von und mit Eva-Maria Admiral

Text- und Fotonachweis

Für Menschen in Not

Vorwort

Eva-Maria Admiral steht seit ihrem neunzehnten Lebensjahr auf den Brettern, die für viele die Welt bedeuten. Sie legte eine tolle Karriere hin und entschied sich dann für einen persönlicheren Weg. Als ich sie vor vielen Jahren kennenlernte, standen wir gemeinsam für Jesus House auf der Bühne. Ich mit meinen karibischen Songs, sie mit ihren Theaterszenen. Der Saal in Nürnberg war zum Bersten voll. Ich fragte mich, ob es hier überhaupt möglich sein würde, eine stille Szene zu spielen. Als sie jedoch zu spielen begann, war das Publikum sofort gebannt. Ihr Talent war unübersehbar. Was aber mindestens ebenso stark leuchtete, war ihr Herz.

Am meisten fiel mir ihre Kollegialität auf. Als ich spielte, stellte sie sich in die letzte Reihe. Nach jedem Lied rief sie ganz laut Bravo. Sie erleichterte mir so meinen Auftritt. Nicht zu vergessen ist ihr unvergleichliches Lachen, das es jedem Kollegen leicht macht, weil das Publikum mitlacht. Anstatt Rivalität strahlt sie absolute Kollegialität aus. Immer wenn wir uns seither auf oder hinter der Bühne bei einem Event begegnen, kommt von ihr ein positiver Kommentar über unsere Band. Und sie meint jedes Wort ernst.

In ihrer Biografie nimmt Eva-Maria Admiral Sie mit auf eine unglaubliche Reise durch ihr Leben. Sie lässt Sie hinter die Kulissen blicken – beruflich wie privat. Sie erleben mit ihr bewegende, manchmal zu Tränen rührende Erlebnisse aus ihrem turbulenten Leben. Ob es um ihre Zeit im Internat, ihre lebensgefährliche Erkrankung, ihre Familiengeschichte oder ihr Leben am Theater geht: Immer wieder richtet sich ihr Blick auf die alles entscheidende Frage: Wie können wir uns den Fragen stellen, die das Leben an uns richtet?

Das Buch ist voller Gefühl und dabei spannend wie ein Krimi. Packend, erschütternd und trotzdem Mut machend. Beim Lesen wird deutlich, warum manche Menschen an ihrer Geschichte zerbrechen, während andere daran wachsen. Eine mutige, ernsthafte und berührende Beschäftigung mit einem Thema, das jeden von uns interessiert. Ich wünsche diesem Buch den großen Erfolg, den es verdient.

Judy Bailey, Musikerin und Songwriterin

Meine Eltern wollten keine Kinder mehr.
Meine Mutter wollte endlich raus.
Mein Vater brauchte nur einen Sohn. Für die große Firma.
Obwohl sich meine Mutter während ihrer Schwangerschaft fast zu
Tode hungerte,
wurde ich trotzdem geboren. Vier Monate zu früh.
Alle nachkommenden Kinder wurden abgetrieben.
Kein guter Start ins Leben.
Internat,
Missbrauch,
vier Fehlgeburten,
fünf Darmoperationen.
Mein Bruder erbt ein millionenschweres Imperium.
Ich erbe nichts.
Ein Nahtoderlebnis.
Eine fulminante Karriere, viele Preise, Erfolge am größten
deutschsprachigen Theater.
Die Presse schreibt: „A Star is born.“
Ein lieber Mann
und Gott.

Prolog

Die Folgen eines Augenblicks zeigten mir, dass Seien Sie ganz natürlich, Frau Admiral am Theater nicht immer von Vorteil ist, ja sogar gefährlich sein kann. Im Radio mag ein unbedachtes Wort untergehen. Ein achtloser Satz verflüchtigt sich nach wenigen Sekunden. Bleibt nicht hängen. Doch vom Block eines Zeitungsjournalisten aus bekommt Nebensächliches eine große Bühne. Eine unbedachte Antwort auf eine Frage, die ganz unschuldig daherkommt, kann ein Erdbeben auslösen. Mit schwarzer Druckerfarbe werden die Worte über Papier gewalzt. Werden gelesen von Tausenden von Menschen. Ausgeschnitten. Weitergereicht. Ich habe die Konsequenz eines Augenblicks erlebt und meine Rolle dabei zutiefst bereut.

Dezember 1989. Wir stehen kurz vor der Premiere von Die Vögel, in der Inszenierung von Axel Manthey am Burgtheater in Wien. Seit Mai gehöre ich fest zum Ensemble des größten deutschsprachigen Theaters. Die Kostüme für meine Rolle hängen fein gebügelt auf einer Messingstange. Wir proben schon seit drei Monaten. Mein Part ist zwar keine Hauptrolle, aber nicht unbedeutend. Einige Tage vor der Uraufführung ruft mich ein Journalist an. Ich kenne ihn von früheren Rollen. Er hatte schon einige Kritiken über mich geschrieben. Nach dem Preis als beste Nachwuchsschauspielerin begleitet er offenbar meinen Weg.

„Frau Admiral, wollen wir mal wieder ein Interview machen? Sie spielen doch gerade. Wir könnten uns zwischen den Proben treffen“, schlägt er vor. „Wollen wir auch gleich einige Fotos schießen?“

„Das wäre fantastisch“, antworte ich.

Im Foyer des Burgtheaters hole ich ihn und den Fotografen ab. Wir gehen in meine Garderobe. Ich bin 24 Jahre alt. An meiner Tür hängt ein goldenes Schild mit dem eingravierten Namen: Eva-Maria Admiral.

Nach der Fotosession – der Fotograf hat sich zum nächsten Termin verabschiedet – beginnt das Interview. Der Journalist arbeitet für eine große Zeitung in Österreich. Das Gespräch dauert zu meiner Überraschung ziemlich lang. Er ist nicht in Eile und mir kommt es sehr gemütlich vor. Ich fühle mich wohl. Er nimmt sich Zeit und fragt mich aus – über das Stück, meine Rolle, den Burg-Direktor Claus Peymann, wie es mir so gehe im Ensemble, wie die Kollegen seien und so weiter. Ich gerate ins Plaudern.

Ein erster kurzer Artikel erscheint am Vortag der Premiere. Als ich am nächsten Morgen, dem Tag der Premiere, ins Theater komme, gehe ich ins sogenannte Konversationszimmer. Das ist eine Art Aufenthaltsraum für Schauspieler und Theatermitarbeiter. Auch die Tageszeitungen und Kulturmagazine liegen dort aus.

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand blättere ich durch die heutige Zeitung. Auf Seite 18 finde ich dann den zweiten, ausführlicheren Artikel über mich. Auf zwei Seiten mit großem Aufmacherfoto. Erst schwer krank, jetzt ein Star: Eva-Maria Admiral, titelt das Blatt. Und der erste Satz: Eva-Maria Admiral hebt ab. Das Porträt beschreibt Stationen meiner Schauspielkarriere und lässt auch tragische Momente meines Lebens nicht aus.

Na ja, denke ich. Ein Star? Ich sehe mich nicht so. Eher glaube ich, der muss sich irren. Dennoch freue ich mich über den Artikel. Das Stück wird erwähnt und ich denke: Gute Werbung! Andererseits ahne ich instinktiv auch Unheilvolles. Die Rivalität unter den Kollegen am Theater ist groß. Jeder will der Star sein. Ich fürchte, dass diese Headline ein Feuer unter den Kollegen entfacht hat – von dem Druck auf meine schauspielerische Leistung ganz zu schweigen.

Nachdenklich gehe ich in meine Garderobe. Schon von Weitem sehe ich den Zettel an meiner Tür. Frau Admiral, bei Ankunft bitte zum Gespräch in die Direktion. Er ist von Theaterdirektor Claus Peymann. Meine Knie werden weich. Ich bin unsicher. Ich habe doch nichts falsch gemacht. Oder doch? Angespannt grüble ich, während ich ins Büro des Direktors gehe. Peymann war es, der mich fürs Burgtheater entdeckte.

Er sitzt am Schreibtisch, vor ihm die aufgeschlagene Zeitung. Jetzt ist mir klar, dass es um den Artikel geht. Möglicherweise freut auch er sich nicht über meine mediale Erhebung zum neuen Star.

„Setzen Sie sich“, sagt er ernst und wendet den Kopf zur Seite. Dann schaut er mir direkt in die Augen. Peymann brüllt nicht, aber er wird laut. „Was haben Sie sich denn dabei gedacht? Wie können Sie vor der Presse über Ihren Kollegen Ulrich Wildgruber sagen, er hatte schon zwei Herzinfarkte?“ Entsetzt schlägt der Direktor mit dem Handrücken auf das Aufmacherfoto. „Das liest doch jetzt jeder! Wie können Sie es wagen, Ihre persönliche Meinung der Presse mitzuteilen!“

Aber, was habe ich denn …? Schlagartig wird mir die Konsequenz meiner naiven Plauderei bewusst. Am liebsten wäre ich auf der Stelle im Boden versunken. Mist, ich hab’s verpatzt, denke ich. Stimmt! Wie konnte ich das alles ausplaudern? Warum konnte ich nicht den Mund halten?

Meine Gedanken überschlagen sich. Ich schäme mich. Was für eine Dummheit. Ulrich Wildgruber spielt die Hauptrolle in Die Vögel. Frei von der Leber weg plauderte ich vor dem Journalisten über seine seelische Verfassung nach seinem zweiten Herzinfarkt. Das hätte das Ende seiner Karriere bedeuten können. Ich hatte mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass er so etwas nicht im Feuilleton lesen wollte. Mir hätte während des Interviews klar sein müssen, dass das Business ist. Da hat Privates nichts zu suchen, außer man spricht über sich selbst oder tratscht mit Kalkül über Kollegen. Die Trennung zwischen Privat und Beruf hatte ich bis dahin nicht gelernt. Bei uns zu Hause saß auch immer die Firma meines Vaters mit am Tisch.

Claus Peymann atmet tief ein und blickt aus dem Fenster. Dass ich ihn in dem Interview als irren Perfektionisten charakterisiere, bei dem die Schauspieler am Ende der Proben völlig fertig seien, spricht er nicht an. Dann wendet er sich mir wieder zu.

„In Zukunft wird jedes Interview vorher mit der Direktion abgesprochen“, ordnet er an. „Alles muss künftig von mir autorisiert werden!“ Und noch einmal: „Haben Sie sich irgendetwas dabei gedacht, Frau Admiral? Irgendetwas?!“

Nein, hatte ich nicht. Das sollte ich nun ehrlicherweise sagen. Aber ich schweige. Ich komme mir vor wie ein Gartenzwerg. Klein, lächerlich, ohne Stimme. Warum hast du nicht nachgedacht, Eva-Maria? Hatte mich das Interesse der Presse so geblendet? Die Komplimente des Journalisten? War ich so stolz auf meine eigene Garderobe, die tollen Kostüme? Nein, nein, nein! Ich habe schlichtweg nicht überlegt, dass es für einen erfolgreichen Schauspieler katastrophal sein kann, wenn bekannt würde, dass er schwer krank ist. Er könnte nicht mehr besetzt werden. Das Risiko wäre zu groß, dass er während einer Produktion wegstirbt. Keine Versicherung übernimmt das. Doch mit 24 Jahren habe ich das noch nicht kapiert.

Zusammengerollt wie ein Programmblatt nach der Vorstellung sage ich kleinlaut zu Peymann: „Ja, ich verstehe“ und schleiche aus dem Büro.

Als ich zur Probe komme, bleibt auch das Kollegenecho nicht aus. „Ja, da kommt ja der Star.“ „Bist jetzt der Starvogel“, sind nur einige spöttische Kommentare. Ich will nur noch eines: Mich bei meinem Kollegen entschuldigen. Ihm sagen, dass ich es vermasselt habe. Doch der Arme steht ununterbrochen auf der Bühne.

Erst eine Woche nach der Premiere haben wir die Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Er ist nicht sauer und ich unendlich erleichtert. Natürlich führte der Artikel nicht zum Ende der Karriere dieses großartigen und wahnsinnig begabten Schauspielers. Er hat später seinem Leben ein Ende gesetzt, wie viele Schauspieler.

Dennoch: Wann werde ich lernen, business like zu denken? Denn das hier ist Business. So werde ich nie Karriere machen.

Wieso erzähle ich das alles? Ich hätte es gegenüber dem Journalisten wenigstens bei den positiven Aspekten der Arbeit mit dem berühmten Regisseur Claus Peymann belassen sollen. Aber doch nicht meine private, persönliche Meinung mitteilen. Warum kann ich Business und Privat nicht trennen? Warum kann ich mit einem Journalisten nicht einfach press like sprechen und mich gut verkaufen? Ich habe so ein entsetzliches Bedürfnis, immer echt und authentisch zu sein. So unpassend!

KAPITEL 1

„Du hattest es immer schon so eilig“

Eine schaffe ich noch. Nur noch eine! Ich hole Luft und grabe weiter mit Beinen und Armen durchs Wasser. Ich spüre, wie mein Körper langsam müde wird. Halt durch, Eva-Maria. Du schaffst das! Als ich kurz aus dem Wasser auftauche, um Luft zu holen, sehe ich mein Kindermädchen. Traudl steht am Rand des Schwimmbeckens unseres Hauses. Sie formt mit den Händen vor ihrem Mund einen Trichter und ruft mir etwas zu. Dann geht sie wieder aus dem Schwimmbad. Das Wasser reflektiert die Abendsonne und blendet mich. Noch eine Bahn!, hämmert es in meinem Kopf.

Traudl kommt zurück. Ich sehe, wie sie mich aus dem Wasser winkt. Nicht, Traudl, nicht! Ich muss es schaffen. Dann wird alles gut. Jetzt läuft Traudl aufgeregt zur anderen Seite des Schwimmbeckens. Sie kniet nun, will mich mit der Hand packen. Ich höre das ängstliche Zittern in ihrer Stimme. „Eva-Maria, bittschön, komm aus dem Wasser“, fleht sie. „Du musst ins Bett. Komm raus.“

Ich weiß, dass Traudl nicht ins Wasser springen wird, drehe um und lasse sie hinter mir. Noch eine Bahn. Dann sind die hundert Längen voll. Erschöpft steige ich aus dem Wasser und greife zum Handtuch. Traudl ist fort.

Mit nassen Füßen und tropfenden Haaren tapse ich über den langen Flur und suche sie. Ich finde mein Kindermädchen im hinteren Badezimmer. Sie sitzt heulend auf dem Fliesenboden.

„Ach, Traudl, warum weinst du denn?“, frage ich erschrocken. Es tut mir leid, dass ich sie zum Weinen gebracht habe. Dann setze ich mich neben sie auf den kalten Boden. „Wein doch nicht“, sage ich und schlinge die Arme um sie.

„Ach, es ist so schrecklich, Evemy. Was hast du dir denn dabei gedacht?“, will sie wissen und schnieft in ihr Taschentuch. „Warum hast du dich so verausgabt? Du bist noch viel zu klein für solch eine Anstrengung.“

„Na, ich habe gedacht, wenn ich hundert Bahnen schwimme, dann kann ich besser schlafen“, antworte ich. Auch wenn es eine Lüge ist.

Sie schaut mich voller Mitgefühl an. „Aber du musst doch nichts beweisen“, sagt sie. „Und jetzt ab ins Bett!“

Ja, was hatte ich mir eigentlich gedacht? Damals als sechsjähriges Mädchen? Es war schlichtweg meine einfache, kindliche Logik. Ich glaubte, wenn ich hundert Längen schwimme, dann sehen mich meine Eltern mit anderen Augen. Sie werden mich bewundern. Sie werden stolz auf mich sein, so, wie auf meinen Bruder. Wenn ich solch eine Strecke schaffe, dann wird alles gut. Meine Eltern haben jedoch von meinem Kraftakt im Schwimmbad nie erfahren. Doch wenigstens konnte ich an diesem Abend einschlafen.

Als Kind hatte ich Angst vor dem Alleinsein. Und im Kindertrakt war ich allein. Kindertrakt, so nannten meine Eltern den Teil unseres Hauses, in dem mein Bruder und ich unsere Zimmer hatten. Der Flur bis zum Schlafzimmer meiner Eltern war lang und nachts unheimlich. Wenn alle schliefen, gruselte es mir vor jedem Geräusch. Bei jedem Knacken, jedem unbekannten Geraschel drückte ich mich tiefer in mein Kissen. Immer mit dem Gedanken: Jetzt kommt gleich etwas Böses und niemand wird dir helfen.

Das Haus meiner Eltern in Niederösterreich war ein weitläufiges Anwesen. Ich liebte den großen Park, die alten Bäume und natürlich die Sprossenwand im Kindertrakt. Immer wieder wurde am Haus angebaut. Auf dem Grundstück gab es noch weitere Gebäude, die für Feiern oder Jagdfeste genutzt wurden. In den Zimmern unseres Hauses hingen wertvolle Ölgemälde. Dicke Teppiche dämpften jeden Schritt. Mein Vater war ein passionierter Jäger. Überall im Haus waren Geweihe an die Wände genagelt. Jedes Tier hatte er selbst erlegt, viele davon in unserem eigenen Revier.

Direkt gegenüber dem Wohnhaus lag die Firma.

Mein Vater führte sie erfolgreich, seit sein Vater sie ihm übergeben hatte. Seit acht Generationen war sie in Familienbesitz. Die Produkte werden heute in alle Welt exportiert. Vor Jahrhunderten war die Firma lediglich eine Mühle. Immer wurde sie von einem Sohn der Familie weitergeführt. Töchter zählten bei geschäftlichen Dingen nur die Hälfte. Das Erbteil aller weiblichen Vorfahren wurde in der Regel in die Firma einverleibt.

Wie wahrscheinlich für die meisten Töchter dieser Welt, war auch mein Vater für mich ein bisschen wie Gott. Der Herr Direktor, dem alle gehorchten, der immer wusste, wo es langging. Schon als Kind merkte ich, dass viele Menschen von ihm abhängig waren und anscheinend nie widersprachen. Er hatte das Sagen, die Welt drehte sich um ihn – und er drehte die Welt. In meinen Augen gab es nichts, was mein Vater nicht konnte oder nicht ändern konnte. Er traf die einflussreichsten Leute. Wenn wir in ein Restaurant gingen, hatte ich das Gefühl, das ganze Lokal drehte sich um ihn. Er war eigentlich klein und dick, aber in meinen Augen war das stattlich, bedeutend. Seine Maßanzüge, sein Maßschuhe, seine Hemden mit Monogramm zeugten von Stil und Einfluss.

Jeden zweiten oder dritten Samstag im Monat gab es Gesellschaftsabende in unserem Haus. Häufig luden meine Eltern auch zu Empfängen ein. Dann kamen Anwälte, Geschäftsleute, Bankdirektoren mit ihren Frauen. Sie tranken teure Weine und aßen vorzügliches Essen. Mein Bruder und ich blieben im Kindertrakt. Wenn die Gäste kamen, ordnete meine Mutter an: „Bringt die Kinder weg. Die Gäste kommen.“

Im Laufe der Zeit hatte ich ein Gespür dafür entwickelt, wann bei solchen Anlässen ein bestimmter Pegel erreicht war. Wenn das Lachen der Gäste lauter wurde, wusste ich, dass alle ziemlich angetrunken waren. Dann schlich ich manchmal im Nachthemd auf Zehenspitzen zum Salon. Ich klopfte höflich an, trat ein und bat in die Runde: „Lasst mir noch was übrig von den guten Sachen.“ Die Gäste fanden das herzallerliebst. Und am nächsten Morgen hatte die Haushälterin tatsächlich Leckereien für uns im Kühlschrank.

Unsere Erziehung lag größtenteils in den Händen von Kindermädchen, Lehrern und später im Internat von Nonnen. Meine Mutter arbeitete in einem schon damals erfolgreichen Unternehmen in Wien. Ihr Vater führte dort die Geschäfte. Wenn meine Mutter abends nach Hause kam, ging sie meist gleich wieder weg zu einem Dinner oder einer gesellschaftlichen Verpflichtung. Obwohl sie selbst auch berufstätig war, erfüllte sie die klassische Frauenrolle dieser Zeit nahezu bis zur Perfektion. Eine Frau hatte hübsch auszusehen und ihrem Mann den Rücken zu stärken. So hatte es ihr auch ihre Mutter vorgelebt. Meine Mutter achtete sehr auf Stil und Eleganz. Sie liebte Kunst, Theater und guten Rotwein oder Sekt. Sie trug immer die neuste Mode. Ihre Frisur saß perfekt. Es war unmöglich, sie einfach einmal zu umarmen. „Ach, Eva-Maria, bittschön, meine Frisur!“, wehrte sie dann ab und klopfte ihre Haare fest.

Ich lernte sehr früh, dass es für den Wert eines Mädchens, einer Frau enorm wichtig war, schlank zu sein, besser noch dünn – und hübsch. Es verging kein Tag, an dem nicht dreimal täglich auf die Waage gestiegen wurde. Eine Frau, die eine Kleidergröße über 36 trägt, muss schon sehr undiszipliniert sein, war ein unausgesprochenes Dogma in unserer Familie. Meine Mutter trug stets Größe 34 und hielt eisern ihre 43 Kilo.

Meine Großeltern väterlicherseits lebten in der Villa gleich nebenan. Als Kinder waren mein Bruder und ich dort häufig zum Mittagessen. Meine Großmutter liebte meinen Bruder heiß und innig. Mein Großvater war ein engagierter Nazi in Niederösterreich gewesen. Die Flagge des Führers lag bis zu seinem Tod in seinem Schlafzimmer. In dieser Tradition war nur der Sohn von Bedeutung – als Stammhalter, das starke Rückgrat der Familie. Diese seit Generationen geprägte Hierarchie setzte sich auch in meiner Familie fort. Mädchen würden schließlich nicht die Firma weiterführen.

Mein Vater war ein Produkt von Herkunft und Tradition. Er war ein Mensch, der andere sehr auf Distanz hielt, er ließ nur wenige Menschen an sich heran. Sein Leben war die Firma. Die Firma war er. Meine Mutter nannte er Zwerg. Das war sein Lieblingsspitzname. Ich war bei ihm die Minkakatze.

Als ich in den Kindergarten kam, wunderte ich mich sehr darüber, dass andere Kinder von ihren Eltern gebracht oder abgeholt wurden. Ich kam und ging immer allein. Ich liebte meine Eltern sehr. Doch die Wärme und Geborgenheit, die ein Kind braucht, konnten sie mir nicht geben. Zudem war ich nur ein Mädchen.

Die weitaus größere Aufmerksamkeit stand meinem Bruder zu. Zu ihm hatte ich bereits als Kind ein sehr distanziertes Verhältnis, obwohl wir nur vier Jahre auseinander waren. Wir hatten keine sonderliche Geschwisternähe. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir viel miteinander gespielt hätten. Meine Eltern förderten diesen Abstand. Ich erinnere mich an seine aufgestellten Zinnsoldaten im Flur des Kindertraktes. Er hatte einmal sehr schön seine Kompanien geordnet und die Reiterdivision postiert. Und ich stampfte wütend über die Armee und hinterließ im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlachtfeld. Daraufhin verprügelte mich mein Bruder und band mich an der Heizung fest.

Als ich meine blauen Flecken meiner Mutter zeigte, sagte sie: „Tja, Kindchen, das hast du nun davon. Man zerstört nicht das Werk seines Bruders.“

Mein Bruder war der hübsche Bub mit den wunderschönen Augen, auf den meine Verwandten bei Besuchen geradezu hinsteuerten. Mit seinem schönen Gesicht bekam er einmal eine Kinderrolle in einem Werbespot. Ich kam mir neben ihm ein bisschen wie eine Vogelscheuche vor. Ich war ein kleines Mädchen mit dünnen Haaren, blassen Augen und einem leicht kränklichen Gesicht.

Als Kind schickten mich meine Eltern in eine Art Erziehungscamp des österreichischen Turnerbundes. Meine Eltern fanden es sehr vorteilhaft für mich, dort den Sommer zu verbringen. Es sei gut für meine Erziehung. Das gehöre dazu. Das müsse man machen, sagten sie. Das Erziehungscamp lag am Turnersee, was großartig war. Denn ich liebte das Schwimmen. Wir lernten marschieren, salutieren, die Fahne zu hissen, in Reih und Glied stehen. Aber natürlich trieben wir auch viel Sport. Für mich war es wie eine Art Ferienlager an einem Badesee. Es machte Spaß, vor allem weil ich zwei Freundinnen mitnehmen durfte.

Nach der Schule und auch abends verbrachte ich die meiste Zeit alleine. Ich träumte häufig sehr schlecht. In meinen Albträumen setzten mich meine Eltern aus, sperrten mich aus, vergaßen mich irgendwo oder begruben mich. Einmal hatte ich wieder einen dieser Albträume. Ich schreckte aus den Kissen hoch und fand nicht wieder in den Schlaf. Da nahm ich all meinen Mut zusammen, lief über den dunklen, langen Flur zum Schlafzimmer meiner Eltern. Vorsichtig klopfte ich an.

Als ich ein müdes Ja, was ist? vernahm, weinte ich. Ich bat darum, bei meinen Eltern schlafen zu dürfen. Wenn du bei uns schlafen willst, dann musst du vor der Tür liegen, war die Antwort. Meine Angst, über den langen Flur wieder zurück in den Kindertrakt gehen zu müssen, war zu groß. Also legte ich mich auf die Türschwelle. Ich stellte mir einfach vor, ich sei ein Hund. Schon damals war es eine große Stärke von mir, mich in andere Welten zu denken.

Die emotionale Kühle meiner Eltern mir gegenüber und das Alleinsein führten dazu, dass ich im Laufe meiner Kindheit gewisse Strategien entwickelte. Bis ich neun Jahre alt war, stellte ich mir vor, dass neben mir immer eine Kamera mitlief. Sie filmte mein Leben. So war ich nie allein. Ich dachte mir oft auch ganze Theaterstücke aus. Meist war ich der Kommissar, der irgendeine Ungerechtigkeit aufdeckte. Manchmal spielten auch Freundinnen mit. Dann verteilte ich die Rollen und war der Regisseur. Dabei achtete ich darauf, dass ich selbst keine typischen Mädchenrollen spielte, etwa eine Prinzessin. Ich verkörperte eher starke Charaktere, starke Männer. Mein großes Vorbild war Pippi Langstrumpf aus dem Fernsehen. Sie hatte eine herrliche Sicht auf die Dinge, einfach und ganz nach meinem Geschmack: Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.

Als Kind findet man immer eine Begründung für das Tun der Eltern. So dachte ich auch, dass meine Eltern einfach so erfolgreich waren, deshalb hatten sie keine Zeit für mich. Deshalb schickten sie ihre Kinder auch aufs Internat. Ich glaubte auch, wenn ich doch nur besser wäre, nicht so oft krank, wenn ich mich doch nur mehr anstrengen würde, dann würden sie mich ebenso wie meinen Bruder lieben. Doch der Grund, zumindest für die Distanziertheit meiner Mutter in meiner Kindheit, war meine Existenz an sich. Das erfuhr ich erst später, als mir Verwandte von meiner Geburt erzählten.

Nach dem, was mir diese Verwandten erzählten, wollte meine Mutter nach meinem Bruder keine Kinder mehr, schon gar keine Tochter. Wichtig war ein Sohn als Nachfolger für die Firma und Stammhalter. Sie habe mehrere Abtreibungen gehabt. Als sie mit 43 Jahren mit mir schwanger wurde, habe sie sich in den folgenden Monaten fast zu Tode gehungert. Während der Schwangerschaft wog sie nur 45 Kilogramm.

Ich kam vier Monate zu früh auf die Welt. Mein Überleben war nicht sicher. Ich kam auf die Frühgeborenenstation. Fast ein Jahr lang lag ich im Krankenhaus. Ohne Berührungen von meinen Eltern. Sie besuchten mich kaum. Das sei damals so gewesen, wurde mir erzählt. Man wollte besonders vorsichtig sein, um mich vor Infektionen zu schützen.

Als ich nach Hause entlassen wurde, war ich für meine Mutter eine schlichte Überforderung. Weiterhin sollte man mich nur mit sterilen Handschuhen und Schutzmantel berühren. Ich aß sehr schlecht und bereitete ihr große Mühe. Sie verlor die Geduld. Das könne man nicht von ihr verlangen, protestierte sie.

Eine Pflegerin wurde eingestellt. Sie kam nun mehrmals täglich, um mich zu versorgen. Den Rest der Zeit lag ich in meinem Bettchen und wuchs vor mich hin.

Später, als Erwachsene, wollte ich von meiner Mutter mehr über die ersten Jahre meines Lebens wissen. Doch sie druckste jedes Mal herum und wechselte schnell das Thema. Als ich eines Tages das Babybuch meines Bruders in einem Schrank fand, versetzte es mir einen Stich. Darin hatte meine Mutter alles fein säuberlich dokumentiert. Was er ab wann gegessen hatte. Was er dann und dann Neues gelernt hatte. Jedes einzelne Zähnchen, das gewachsen war, hatte sie protokolliert. Solch ein Buch über meine ersten Jahre habe ich nie gesehen. Doch ich traute mich nicht, meine Mutter zu fragen, ob es je existierte.

Warum ich mein Leben lang einen kaputten Darm haben würde, erfuhr ich vierzig Jahre später. Ich saß mit meiner Mutter im Wohnzimmer meiner Eltern. Wir sprachen über ihre schwierige Ehe. Es war spät und ich wollte ins Bett. Meine Mutter wirkte schon leicht angetrunken und sehr redselig.

„Eva-Maria, du weißt ja gar nicht, wie schwer das mit dir war“, fing sie unvermittelt an. „Du wolltest ja nicht essen. Du hast nur 500 Gramm gewogen, als du geboren wurdest.“ Unbedingt hätte ich so früh auf die Welt kommen wollen. Ich hätte es ja immer schon sehr eilig gehabt.

Jeden Tag hätte sie mich gewogen, um zu sehen, ob ich zunähme.