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Hatune Dogan

Tonia Riedl

Ich glaube an die Tat

Im Einsatz für Flüchtlinge
aus Syrien und dem Irak

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Alle Namen von beteiligten Personen
wurden aus Sicherheitsgründen geändert und die Herkunftsorte
und Lebensumstände so weit verfremdet, dass die betreffenden
Menschen nicht identifizierbar sind.

Redaktionsschluss: 3.2.2015

Wir danken dem Verlag Herder, Freiburg, für die Erlaubnis, für den
ersten Teil des Buches (S. 13-68; 1. Absatz S. 33 ergänzt) Auszüge aus
dem ersten Buch von Hatune Dogan zu nutzen:
Hatune Dogan/Cornelia Tomerius, „Es geht ums Überleben.
Mein Einsatz für die Christen im Irak“, © Verlag Herder GmbH,
Freiburg i. Br. 2010, S. 10-29, 36-57, 59-66.
Die folgenden Überschriften wurden dabei verändert: „Indien“
(neu: Schicksalsmoment in Indien); S. 41 Mitte des Herder-Buches
Überschrift eingefügt (neu: Ich gehe meinen Weg); „Gronau, zum
Zweiten“ (neu: Ruf in den Nahen Osten).

© 2015 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlagfotos: privat
Umschlaggestaltung: Ralf Simon
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-4258-9
eISBN 978-3-7655-7342-2

Der Wein ist das Symbol des Friedens.
Denn nur in einem langen Frieden kann man
einen Weinberg pflegen.

Für meinen Vater,
der neun Weinberge anlegte, pflegte und bewachte,
der sie verlassen musste und sie so gern
nur noch ein einziges Mal wiedergesehen hätte.

Inhalt

Prolog: Erste Begegnung

Teil 1:
Weil ich selbst ein Flüchtling bin …

Flucht

Schicksalsmoment in Indien

Ich gehe meinen Weg

Ruf in den Nahen Osten

Zurück in die Zeit

Teil 2:
Kein heimatliches Land – Naher Osten 2014

Zukunftsaussichten für kleine Engel

Gesichter der Heimatlosigkeit

Heimat für meine Seele

Auf der Suche nach Zukunft

Syrien – ein Paradies wird zur Hölle

„Es wird alles werden“

Gesichter des Djihad

„Diese Fanatiker werden wir in tausend Jahren nicht los“

Woher kommt die Gewalt?

Islam unter uns

Das Schicksal der Frauen

Eine andere Wahrheit

Gemeinsam Mensch sein

Wie erträgt man so viel Leid?

Die Stiftung Helfende Hände für die Armen

Prolog: Erste Begegnung

„Das Kloster liegt ganz nah am Bahnhof“, hatte mich die warme, aber energische Stimme am Telefon wissen lassen, als wir uns für ein erstes Gespräch zur Vorbereitung dieses Buches verabredeten. Nun, ich würde nicht den Zug nehmen, sondern mit dem Auto anreisen.

Dreimal fahre ich an der angegebenen Adresse vorbei. Fast mitten auf der Straßenkreuzung, so kommt es mir vor, steht das alte, ein wenig verschachtelte und nicht sehr geräumig wirkende Fachwerkhaus. Es ist mit Baugerüsten umgeben, einige Fenster sind mit Plastik verkleidet. Auf dem Bürgersteig und dem kleinen Gartenstück liegen verstreut Bauschutt und auch neues Baumaterial, und auf dem Gerüst über der Haustür geht es geschäftig und recht laut zu. Ein Kloster? Ein Ort der Stille und Meditation? Ein Ort für ein Leben aus Gottesdienst und Gebet?

Aber es gibt keinen Zweifel: Die Hausnummer weist mich direkt zu dieser Baustelle. Und schließlich entdecke ich im Türglas auch das unauffällige Schild: Schwester Hatune Stiftung – Helfende Hände für die Armen. Ich parke den Wagen und bin gespannt, was mich hier erwartet.

Hinter der mit Sägespänen bedeckten, staubigen Glastür des Eingangs hat Schwester Hatune mich bereits entdeckt und begrüßt mich zum Lärm der Hammerschläge, mit denen über mir auf dem Gerüst die Zimmerleute gerade einen neuen Balken ins alte Gewerk einziehen. „Willkommen im Kloster! Komm herein!“

Mit einer herzlichen Umarmung werde ich in den Flur und von da direkt in die Küche gezogen. Die macht den Eindruck, als lebe hier tatsächlich nicht nur eine Schwester. Und so ist es auch: Im Wohnzimmer ist gerade Hatunes Vater eingezogen, der durch sein Alter und eine Erkrankung pflegebedürftig geworden ist. Ein Mitbruder von Schwester Hatune, Priester der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Deutschland und selbst aus der Südosttürkei stammend, wird mir vorgestellt. Er scheint der gute Geist des Hauses mit den praktischen Händen zu sein und packt bei den Bauarbeiten tatkräftig mit an. Zum Beispiel, indem er beginnt, über dem Küchentisch, an dem wir sitzen, die Küchendecke einzuschlagen – auch hier muss ein Balken erneuert werden. Na ja, nicht ganz direkt über unserem Sitzplatz. Ich bin offensichtlich in ein Haus geraten, in dem man schlagkräftig zu handeln weiß. Und im Lauf der nächsten beiden Tage werden noch etliche weitere Gäste auftauchen. Das „Kloster“ erweist sich als Baustelle der besonderen Art.

Nach ein paar Worten, mit denen wir uns ein wenig näher bekannt machen, zeigt Schwester Hatune mir „ihr Reich“. Das alte Haus wurde vor zwei Jahren erworben und bezogen und ist seither eine Dauerbaustelle. Aber bevor ich die im Einzelnen zu sehen bekomme, geht es erst einmal nach draußen.

Die Gartenfläche, die zum Grundstück gehört, ist gar nicht sehr groß und der Boden sieht mir auch nicht so aus, als zeichne er sich durch besondere Fruchtbarkeit aus. Rissig und hart ist die Erde an etlichen Stellen. Die meisten Menschen würden so einen kleinen Streifen Land rund ums Haus wohl mit etwas dekorativem Rasen einsäen oder mit „sauberen“ Steinen belegen und einen Sonnenschirm und Gartenmöbel daraufstellen. Schwester Hatune dagegen hat dem widerspenstigen Land eine beträchtliche Menge an Blumen und Nutzpflanzen abgetrotzt. Ich sehe Rucola, Petersilie, Pfefferminze und Sauerampfer. Kürbis, Porree, Radieschen, Kohlrabi, Zucchini und Mangold sind hier auf kleinster Fläche angebaut und es gibt ein großes Zwiebelbeet, das, wie ich erfahre, in acht Stufen bebaut wird. Die Tomaten sind noch grün, aber die Erdbeeren leuchten schon rot zwischen den Blättern hervor, dahinter Mango, Paprika, weiße Gurken und Kapioka aus Indien. Auch die Anzahl der Obstsorten ist beachtlich: Da gibt es Johannisbeeren, Stachelbeeren, Weintrauben. Neben älteren Apfel- und Pflaumenbäumen behaupten sich tapfer ein Mandelbäumchen und ein Granatapfelbaum – Grüße aus und lebendige Erinnerung an die nie vergessene Heimat in der Osttürkei und an ein Leben, das ganz vom Land und seinen Früchten abhängig war. Ein kleines Fleckchen Zuhause. Sogar der „Schuttstreifen“ zwischen Zaun und Straßenrand ist vom Unkraut befreit und mit Zucchini bepflanzt. Überall leuchten farbenfroh die Blüten der Sommerblumen und Rosenduft steigt mir in die Nase. „Ohne Erde halte ich es nicht aus“, lächelt Schwester Hatune. „Ich bin eine echte Bauerntochter.“

Nach dem Garten, sichtlich Schwester Hatunes Stolz, geht die Führung weiter, durch die Räume des Hauses. Was mir von außen für ein Kloster als recht klein erschien, erweist sich, wie das Gartenland drum herum, als ein Ort ungeahnter Möglichkeiten. Schwester Hatune bereitet das Haus dafür vor, hier einen eigenen kleinen Konvent zu gründen. Einige Schwestern werden bald einziehen und Raum für Gäste soll es auch geben. Und natürlich eine Kapelle, Bibliothek und Seminarraum. Ich bin überrascht zu sehen, wie viele Zimmer sie dem von außen bescheiden erscheinenden Bau abgerungen hat: Immer geht es noch eine Treppe hinauf und noch eine Tür weiter zum nächsten Raum und wieder zum nächsten. Die Zimmer sind meist klein, bieten nur Platz für das Nötigste: Bett, Stuhl, vielleicht einen kleinen Tisch oder ein Regal. „Aber jeder soll die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen“, erklärt Schwester Hatune.

Viele Stunden mit Gesprächen und zahlreiche Geschichten und Erlebnisse später erscheinen mir Haus und Garten wie ein Schlüssel zu dieser Frau, die mir in den vergangenen Tagen so viel aus ihrem Leben und dem Leben der Menschen erzählt hat, für die sie sich einsetzt. Ganz besonders sind das zurzeit die Christen, die im Nahen Osten, in Syrien und im Irak Verfolgung oder Unterdrückung und Benachteiligung erfahren, und darüber hinaus alle Flüchtlinge, die dort Heimat und Besitz verlassen mussten, um ihr bloßes Leben zu retten.

Klosterleben, das ist für Schwester Hatune nicht der Rückzug aus einer zu lauten und zu hektischen Welt in ein beschauliches Innenleben. Wie ihr Haus beinahe mitten auf der Straße steht, so steht auch sie immer wieder mitten in dieser Welt, da, wo die Not am größten ist. Und es scheint, als sei in ihrem Herzen immer noch ein Raum mehr verfügbar für ein weiteres Menschenschicksal, als trotze sie jeder kleinen Chance auf Leben und Wachstum das nur irgend Mögliche ab.

„Ich glaube an die Tat“, sagt sie irgendwann in unseren Gesprächen. „Und daran, dass Gott immer noch eine Möglichkeit mehr hat, als wir sehen können. Solange es etwas zu tun gibt, packe ich an.“

Dies ist ihre Geschichte.

Tonia Riedl

Teil 1:
Weil ich selbst ein Flüchtling bin …

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Flucht

1984, Zaz im Tur Abdin, Südosttürkei

Niemand hatte an das Gewehr gedacht. Weder mein Vater noch ich. Das Gewehr trug ich immer bei mir, wenn ich nachts zu meinem Vater auf den Weinberg ging. Erst schützte es mich auf dem Weg durch die Dunkelheit, dann uns beide bei der Nachtwache. Doch in dieser Nacht, in der Nacht vom 14. auf den 15. September 1984, sollte ich nicht wie sonst auf den Weinberg kommen.

„Bleib heute zu Hause“, sagte mein Vater. „Du wirst hier mehr gebraucht.“ Er blickte kurz zum Haus, in dem meine Mutter gerade das Abendessen zubereitete. Meine älteste Schwester war mit ihrem Mann zu Besuch. Sie wohnten viele Kilometer entfernt, an der Grenze zum Irak, und kamen nicht oft zu uns. Zur Feier des Tages hatte mein Vater am Morgen zwei Hühner geschlachtet. Da mein Schwager nur Kurdisch und Ostsyrisch sprach, meine Mutter jedoch nur Aramäisch, sollte ich dableiben, um zu übersetzen.

„Und du?“, fragte ich.

„Ich werde gehen.“

Ich merkte, wie schwer es meinem Vater fiel, uns mit dem Besuch allein lassen zu müssen. Für jeden Fremden öffnen wir unser Haus, bewirten ihn mit unserem Brot und unseren Früchten, schenken ihm Wein und Säfte ein, tränken seine Pferde und richten ihm die Bettstatt her. Es ist diese selbstverständliche Gastfreundschaft, die man gern mit den Orientalen verbindet. Dabei haben die sie einst von uns gelernt. Und wir wiederum von Abraham, der selbstlos und ohne jede Absicht die Gäste Gottes empfing, großzügig bewirtete und beherbergte. Für meinen Vater als Christen ist Gastfreundschaft keine bloße Tugend, sondern ein tiefes Bedürfnis. Und ausgerechnet jetzt, wo seine älteste Tochter mit ihrem Mann gekommen war, musste er das Haus verlassen.

Er hatte keine Wahl. Die Trauben waren fast reif. Nur wenige Sonnenstrahlen brauchten sie noch, bis sie die richtige Süße und pralle Größe erreicht hätten und wir sie ernten könnten. Aus den Trauben machten wir Wein, Säfte und Sirup oder ließen sie zu Rosinen trocknen. Dreihundert Liter Wein produzierten wir im Jahr. Rosinen hatten wir oft tonnenweise, manchmal füllten die Säcke zwei ganze Räume, während sich in den Regalen der Weinkuchen stapelte. Den Weinkuchen stellten wir aus Sirup her, gossen dafür die dicke Soße über schweres Leinen, ließen die Masse in der Sonne gehen und falteten dann die getrockneten und elastischen Fladen in Dreiecke zusammen. Den ganzen Winter über hatten wir eine nahrhafte Süßigkeit – eine Art Weingummi, wenn man so will.

Bis heute lasse ich mir den Weinkuchen aus der Türkei mitbringen. Wenn ich ihn hier, fern der Heimat, auseinanderzupfe und mir der schwache Geruch, in dem neben der Frucht auch das frische Leinen zu ahnen ist, entgegenströmt, muss ich nur die Augen schließen und bin wieder in meinem Heimatdorf Zaz im Südosten der Türkei. Dann spaziere ich durch die fruchtbaren Weinberge, klettere durch die Kronen unserer achtundvierzig Mandelbäumchen, die so dicht beieinanderstehen, dass man sie nacheinander erreicht, ohne den Boden zu berühren, und gehe über unsere Felder, auf denen nahezu alles wächst, was man zum Leben braucht – Auberginen, Tomaten, Paprika, Melonen, Granatäpfel, Oliven, Getreide …

Wir hatten von allem reichlich. Doch wenn die Früchte reif wurden, mussten wir aufpassen, damit uns keiner so kurz vor der Ernte alles zunichtemachte. So wie es erst wenige Wochen vor dem Besuch meiner Schwester in unserem Dorf geschehen war.

Drei junge Männer waren von der Armee zurückgekommen und das ganze Dorf feierte ihre unversehrte Heimkehr. Ein solches Ereignis ist bei uns immer Anlass für ausgelassene Freudenfeste. Werden Christen in die türkische Armee eingezogen, glauben ihre Angehörigen in der Regel nicht, dass sie sie jemals wiedersehen. Unter Tränen werden die Söhne verabschiedet. Nicht, weil ein Krieg ausbrechen und sie als Soldaten fallen könnten. Sondern weil sie den Krieg vom ersten Fahnenappell an haben – und zwar in der eigenen Kompanie. Vom ersten Tag an sind sie der Feind, das Opfer von Schikane, Misshandlung und Folter, sowohl seitens der Kameraden wie der Offiziere. Ich kenne die Geschichten von meinem Vater und meinen Brüdern. Es sind immer dieselben, auch wenn ein paar Jahrzehnte dazwischenliegen.

So fand sich mein Vater am Anfang seiner Armeezeit eines Abends nach dem Duschen achtzig Männern gegenüber, die ihn beschimpften und bespuckten, weil er als Christ nicht beschnitten war. Sie schrien ihn an, dass er sich beschneiden lassen und ein ordentlicher Muslim werden solle. Doch mein Vater blieb standhaft. „Ich bin bereit zu sterben, aber meinen Glauben wechsele ich nicht“, rief er, was die anderen nur noch mehr erregte. Die Spitzen der Soldatenstiefel bohrten sich in seinen Leib, der Speichel der Männer floss über seinen Körper. Mein Vater hat die Armeezeit überlebt, mein Bruder auch. Sie hatten Glück. So wie auch die drei jungen Männer aus unserem Dorf, für die das Fest ausgerichtet wurde.

In dieser glücklichen Nacht hatte niemand daran gedacht, auf den Feldern, wo die Wassermelonen gerade reiften, Wache zu halten. In dieser glücklichen Nacht fühlte man sich unverletzbar, sicher und außer Gefahr. Schließlich hatten die drei jungen Männer die Armeezeit überstanden. Das machte Hoffnung – und leichtsinnig.

Und in dieser Nacht kamen sie. Mit Messern, Säbeln und Dolchen machten sie sich über die Felder her, metzelten die Früchte nieder wie eine Armee böser Feinde. Gestohlen haben sie nichts, nur zerstört. Und das gründlich. Als die Familien am nächsten Morgen, noch müde vom Freudenfest der vergangenen Nacht, auf die Felder kamen, bot sich ihnen ein grausames Bild. Alles war rot vom Fleisch der Melonen, das aus den aufgeschlitzten Schalen quoll und sich über alle mehr als dreißig Felder ergoss. Keine einzige Frucht war ganz geblieben. Doch viel schmerzlicher als der Verlust der Ernte war die Angst vor der blinden Zerstörungswut, mit der sie die Früchte der Christen kaputt gemacht hatten. Denn diese galt nicht den Melonen. Sie galt den Menschen.

„Aber dann bist du allein auf dem Feld“, sagte ich zu meinem Vater. Der Gedanke beunruhigte mich so sehr, dass ich mich am liebsten seinem Wunsch widersetzt und ihn auf der Stelle begleitet hätte.

„Keine Sorge, Hatune“, antwortete mein Vater und wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn zurück, strich ihm über den Kopf, rieb meine Handfläche kurz an seinem Haaransatz und gab ihm dann einen schnellen Kuss auf die Stirn. So hatten wir uns immer verabschiedet, es war unser ganz eigenes Ritual. Dann machte er sich auf den Weg. An das Gewehr hatten wir beide nicht gedacht. Und so war mein Vater ausgerechnet in dieser Nacht ganz allein und ohne Waffe auf dem Weinberg.

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Schon im 14. Jahrhundert vor Christus war das Land, auf dem wir lebten, von unseren Vorfahren besiedelt: den Aramäern. Noch heute sprechen wir Aramäisch, die Sprache Jesu. Aramäer waren es auch, welche die erste christliche Gemeinde außerhalb Palästinas gründeten – in Antiochien, der drittgrößten Stadt der Antike, in die damals vor gut zweitausend Jahren Juden und Apostel aus Palästina vor der Christenverfolgung Zuflucht fanden. Aus der urchristlichen Gemeinde entwickelte sich die erste Kirche der Welt: die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien. Sie war Mutter und Ursprung aller östlichen und westlichen Kirchen. In Antiochien war auch zum ersten Mal in der Geschichte von „Christen“ die Rede. „Christianoi“ nannte man die Anhänger dieser neuen Gemeinde. Von Antiochien aus, dem heutigen Antakya in der Türkei, verbreitete sich das Christentum schließlich in der ganzen Welt.

Das Zentrum der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien lag jedoch gut sechshundert Kilometer weiter östlich in Mesopotamien: in den Dörfern des Tur Abdin, dem Kalksteingebirge im heutigen Südosten der Türkei, meiner Heimat. Bereits im 1. Jahrhundert wurden die hiesigen Aramäer von den Aposteln Thomas und Thaddäus zum Christentum bekehrt. „Syrer“ nannten sich die aramäischen Christen fortan, um sich von ihren heidnischen Brüdern zu unterscheiden. Bis heute bezeichnen wir uns so, auch wenn dies mit Blick auf das heutige Syrien zuweilen für Irritationen sorgt. Zahlreiche Kirchen und rund achtzig Klöster entstanden in den Orten des Tur Abdin, die große Gelehrte und Mönche hervorbrachten. „Berg der Knechte Gottes“ heißt Tur Abdin übersetzt. Manche sagen auch wegen der ungewöhnlichen Dichte an sakralen Bauten „Berg Athos des Ostens“.

Allein vier Kirchen hatte schon Zaz, das Dorf, in dem ich geboren wurde. „Mor Dimet“ ist die älteste. Erhaben thront die wehrhafte Anlage auf dem Berg und ist schon von Weitem zu sehen, wenn man sich dem Ort nähert. Vor der Christianisierung wurde das burgähnliche Gebäude erst als Sonnentempel genutzt, dann als Militärstützpunkt der Assyrer. Doch schon ab dem Jahr 192 war es eine christliche Kirche. Anfang des 4. Jahrhunderts, im Jahr 312, kam der Evangelist St. Johannes von Kfone in unser Dorf und taufte in dem kleinen Weiher 3333 Menschen. Ihre Nachfahren – einige von ihnen leben nun in Heidelberg – nennen sich bis heute Zazoye, „aus Zaz stammend“.

Doch die Christen im Tur Abdin hatten es von Anfang an schwer. Immer wieder gerieten sie zwischen die Fronten und wurden verfolgt. Vom 4. bis zum 7. Jahrhundert bildete der Gebirgszug die Grenze zwischen Oströmern und den Sassaniden. Später kamen die Perser. Und mit ihnen der Islam. Zu Beginn glaubten die Syrer noch, Gott habe den Islam geschickt, um sie von den Oströmern zu erlösen. Doch nach den Christenverfolgungen der Römer kamen jetzt die Missionszüge der Muslime. Die Christen wurden gezwungen zu konvertieren – wenn auch nicht immer mit Gewalt, so doch mit zahlreichen Verboten und Schikanen, deren Missachtung mit dem Tod bestraft wurde. In den Städten durfte ein christliches Haus keine zehn Zentimeter höher sein als die Häuser der Muslime. In dieser Zeit verschwanden die Kirchtürme aus den Städten. Christen mussten bei der Feldarbeit Balkenkreuze tragen und sich anders als die Muslime kleiden, damit jeder schon von Weitem die „Ketzer“ erkannte. Christen durften auch nicht auf Pferde steigen. Als einer einst dennoch beim Reiten entdeckt und von Muslimen verfolgt wurde, ritt er auf ein Kloster zu, in der Hoffnung, dort dem Tod zu entkommen. „Macht die Tore auf“, rief er. Dem Reiter wurde Einlass gewährt. Doch sein Vergehen sollte alle Mönche und Schwestern des Klosters das Leben kosten.

Zweihundert Jahre dauerte diese Schikane, viele Christen gaben in jener Zeit auf und konvertierten. Die Islamisierung der Türkei war bekanntlich sehr erfolgreich. Wie ein Wunder scheint es da, dass sich im Tur Abdin über die Jahrhunderte bis heute überhaupt noch christliche Dörfer halten konnten. Der Grund ist vor allem in der Geografie zu sehen. Der Tur Abdin ist ein gebirgiges Land und etwas mühsam zu erreichen und zu durchqueren. Hier gab es weder bedeutende Großstädte noch wichtige Handelswege. Die Islamisten sahen daher wenig Sinn darin, sich auf den beschwerlichen Weg zu machen und die Dorfbewohner hier mit harter Hand zu missionieren.

Ihren Frieden fanden die 382 christlichen Dörfer des Tur Abdin deswegen jedoch noch lange nicht. Kein Jahrzehnt verging ohne Plünderungen, Morde, Entführungen und Vergewaltigungen. Im frühen 18. Jahrhundert zum Beispiel zogen Prinz Bidin aus Amida (später Diyarbalm) und Prinz Schemdin aus dem kurdischen Gazira im Tur Abdin ein und richteten ein ungeheures Blutbad an. Bidin, so schreibt der Priester Johannon aus Beth Sbirino im Jahr 1711, „tötete jeden Menschen, den er traf. Im Dorf Bote zertrümmerte er den Altar der Mor-Aphrem-Kirche und zerstörte das ganze Dorf. Im Dorf Zaz gab er Befehl, die Mor-Dimet-Kirche in Trümmer zu legen. Er zerstörte auch andere Dörfer und Kirchen und zerstreute Familien und Sippen. Von Midun bis Botan steckte er alles in Brand. Bei diesem bitteren Schicksalsschlag wurden selbst Kleinkinder, Kinder und Frauen umgebracht. Und so wüteten sie fünfzig Tage lang, in denen sie plünderten und mordeten.“

Rund hundert Jahre später plünderte und mordete Mohammad Pascha, bekannt als Prinz Kur des großen kurdischen Dorfes Rawanduz, im Tur Abdin. Bischof Gewarigs aus Azech beschreibt in einem Gedicht die Ermordung der Kinder und jungen Männer, des Priesters Simon, des Diakons Ebed Mschiho, des in den Wissenschaften und in der Geschichte bewanderten Diakons Murad und des Diakons Behnam. Der Kurden-Prinz „führte Krieg gegen die Christen, tötete die Männer mit dem Schwert, nahm Tausende gefangen, ließ die göttlichen Melodien in den Kirchen und Klöstern verstummen.“

Vor allem gegen Ende des 19. und dann im 20. Jahrhundert kam es zu Massakern durch die osmanische Armee und kurdische Banden, deren grausamer Höhepunkt das Jahr 1915, das sogenannte Jahr des Schwertes, war. Zwei Millionen Christen wurden in diesem Völkermord in der Türkei vernichtet: 1,5 Millionen Armenier, 500 000 Syro-Aramäer. Im Tur Abdin sind ganze Dörfer entvölkert worden. Auch Zaz, mein Dorf, hat damals einen Großteil seiner Bewohner verloren.

Vor dem Aufkommen des Islam im Gebiet der heutigen Türkei im 8. Jahrhundert umfasste die syrisch-orthodoxe Kirche von Antiochien 72 Millionen Menschen. Selbst unter der beginnenden islamischen Vorherrschaft konnte sie sich weiter entfalten und erlebte bis zum 13. Jahrhundert eine Blütezeit, in der sie sich von Tarsus, Zypern und Jerusalem im Westen bis nach Herat im heutigen Afghanistan ausdehnte und in über hundert Bistümern organisiert war. Heute umfasst diese Kirche noch eine halbe Million Mitglieder. Wo sind diese Christen geblieben?

In der Zeit vom Jahr 1000 bis 1200 gab es die grausamste Verfolgung bisher. Die Häuser der Christen mussten niedriger sein als die der Muslime. Wenn ein christliches Haus auch nur zehn Zentimeter höher war als die muslimischen, wurde es zerstört, ebenso wie die Kirchtürme. Bis zum Jahr 1000 bestand die Bevölkerung im gesamten Orient schätzungsweise zu 96 % aus Christen. Heute sind es insgesamt 6 Prozent.

Seit dem Genozid in der Türkei an den Christen von 1915 waren die syro-aramäischen Gläubigen für den Staat und die Welt kaum noch existent. Anders als den griechisch-orthodoxen Christen, den armenischen Christen und den Juden wurde der syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft im Friedensvertrag von Lausanne 1923 nicht der Status einer offiziell anerkannten religiösen Minderheit zuerkannt. Deshalb haben wir in der Türkei noch weit weniger Rechte als andere Minderheiten. Wir dürfen keine Schulen einrichten und unterhalten. Wir müssen staatliche Schulen besuchen und am muslimischen Religionsunterricht teilnehmen.

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Der staatliche Stundenplan sah zwei Stunden wöchentlich für muslimische Religionskunde vor. Auch in meiner Schule, obwohl nur Christen sie besuchten und der einzige Muslim der Religionslehrer war. Wir Schüler hatten uns von Anfang an darauf verständigt, den Religionsunterricht zu boykottieren, wir wollten unter keinen Umständen daran teilnehmen. Das blieb natürlich nicht ungestraft. Wenn die Schulglocke am Freitag die Religionskunde ankündigte, mussten wir alle an die Tafel und die Hände vorstrecken. Der Lehrer zückte sein langes Lineal – es war aus schwerem, scharfkantigem Metall – und schlug uns auf die Hände. Vier Schläge auf die linke Hand, vier Schläge auf die rechte. Hatten alle ihre Prügel erhalten, waren wir entlassen und durften die nächsten zwei Stunden spielen, lesen oder malen – sofern die geschwollenen Finger den Stift überhaupt noch ohne Zittern halten konnten.

In der Schule mussten wir Türkisch sprechen. Aramäisch, unsere Muttersprache, war strengstens verboten. Nicht einmal in den Pausen durften wir uns auf Aramäisch unterhalten. Eines Tages – wir waren in der dritten Klasse und hatten Pause − ging Habib zur Tafel. Von seinem älteren Bruder, der Diakon war, hatte er gelernt, seinen Namen auf Aramäisch zu schreiben. In der Schule lernten wir nur Türkisch lesen und schreiben; in unserer Muttersprache blieben viele von uns, wie meine Eltern, Analphabeten. Sogar unsere Namen hatte man türkisiert, Dogan ist nicht mein ursprünglicher Familienname. Früher hießen wir Josef. Und auch Zaz ist in den türkischen Schulatlanten nicht zu finden, dafür an seiner Stelle ein Ort namens Ižbrak.

Habib also war stolz auf seine ersten aramäischen Buchstaben und wollte uns zeigen, was er gelernt hatte. Er schrieb gerade das H mit dem A darüber an die Tafel – in der aramäischen Sprache sind die Vokale über den Buchstaben –, als wir auf dem Flur die schnellen Schritte des Schuldirektors hörten. Wir stürmten an unsere Plätze; es blieb keine Zeit, die verbotenen Lettern wegzuwischen. Der Direktor trat ein, entdeckte den aramäischen Buchstaben an der Tafel und geriet in Rage. „Welcher Ketzer hat diesen ketzerischen Buchstaben geschrieben?“, schrie er in den Raum, der Kopf puterrot vor Wut.

Wir schwiegen, alle. Wir wussten, wenn wir Habib verraten, hat der Direktor das Recht, ihn totzuschlagen. Der Direktor wiederholte seine Frage, lief ungeduldig vor uns auf und ab wie ein Tiger in einem Käfig. Im Raum war es unerträglich still. Nur die Schritte des Direktors waren zu hören. Dann brüllte er: „Ihr habt es nicht anders gewollt! Alle nach vorn an die Tafel!“