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Horst Afflerbach
Ralf Kaemper
Volker Kessler

LUST AUF

GUTES LEBEN

15 Tugenden neu entdeckt

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Wenn nicht anders vermerkt, werden die Bibelstellen nach der Revidierten Elberfelder Bibel © 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten, wiedergegeben.

Sonst:

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © Katholisches Bibelwerk 1980 (EÜ).

Schlachter 2000, © Genfer Bibelgesellschaft/CLV (Bielefeld) 2003 (SLT).

Die Edition AcF wird herausgegeben von der Akademie für christliche Führungskräfte, Furtwänglerstr. 10, 51643 Gummersbach. Das vorliegende Buch erscheint in Kooperation mit dem Forum Wiedenest.

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www.acf.de

www.wiedenest.de

Christliche Werte und Tugenden sind Leitplanken für ein gelingendes Leben. Sie zeigen vor allem Gestaltungsräume für ein verantwortliches Miteinander in unserer Gesellschaft und nicht nur Begrenzungen auf.

Der ärgste Feind von Werten und Tugenden ist die Versuchung. Sie begegnet uns unter anderem in der Steuerhinterziehung ebenso wie in Gestalt von Unaufrichtigkeit und Treuebruch.

Christliche Werte und Tugenden sind eine Brücke aus dem Raum der Unsicherheit in den Raum der Verbindlichkeit. Denn Verbindlichkeit ist die Voraussetzung für das Leben in Familie, Wirtschaft und Politik, aber auch für das Miteinander in christlichen Gemeinschaften.

Dieses Buch ist ein Wertekompass, um die richtige Haltung und Einstellung zu finden, damit das Leben gelingen kann.

Pfarrer Hartmut Hühnerbein,
Vorstandsvorsitzender Stiftung
Christliche Wertebildung

Wir möchten uns als Autoren in der Tugend der Freigiebigkeit einüben und stellen deshalb das Autorenhonorar einem Schulprojekt in Tansania zur Verfügung, das uns beeindruckt. Die von Helga Armbruster gegründete Grundschule Mkwaju in Mbesa, Südtansania, prägt Menschen für ihr Leben. In der siebenjährigen Schulzeit werden ihnen christliche Werte und Arbeitstugenden vorgelebt und gelehrt. Die Auswahl der Lehrer unterliegt strengen Kriterien, denn die Qualität jeder Schule steht und fällt mit den Lehrern.

Mehr Informationen zur Schule unter

http://www.mbesahospital.com/about-us/community-projects/

Inhalt

 

Einleitung

1.

(Praktische) Klugheit

2.

Gerechtigkeit

3.

Tapferkeit

4.

Besonnenheit

5.

Demut

6.

Nächsten- und Feindesliebe

7.

Vergebungsbereitschaft

8.

Treue

9.

Höflichkeit

10.

Gastfreundschaft

11.

Freigiebigkeit

12.

Genügsamkeit

13.

Dankbarkeit

14.

Einfachheit (Komplexitätsreduktion)

15.

Hoffnung

 

Solch ein Mensch möchte ich werden

 

Theologisches Postscript

Einleitung

Wer an gutes Leben denkt – und wer tut das nicht? –, denkt oft unwillkürlich an ein finanziell auskömmliches Leben, an schöne Urlaube, an Bildungsreisen, gute Freundschaften, an erlesene Gastronomie, an Besuch bei den Kindern. Die Assoziationen sind je nach Bildungsstand und finanziellem Freiraum recht unterschiedlich. Was alle eint, ist die Sehnsucht nach etwas wirklich Gutem. Aber was ist wirklich gut? Und wie erreicht man es im Leben? Oft handelt es sich nur um Wünsche, um Tagträume und alltagsferne Szenarien. Sie werden nicht zuletzt geweckt durch Hochglanz-Magazine, die uns den Traum vom guten Leben in wunderschönen Bildern, vom natürlichen Landleben oder den schönen Künsten, von atemraubender Architektur oder edlen Chronometern, von rassigen Autos oder der Haute Couture plastisch vor Augen führen. Es sind die Codes des schönen Lebens.

Lust auf gutes Leben ist mehr als die Lust, schöne Dinge besitzen oder gute Erfahrungen machen zu wollen. Das gute Leben kann man tatsächlich finden und leben. Nur wo und wie? Das ist die Frage.

Wir sind überzeugt, dass zum guten Leben auch die Tugenden gehören, jene seit alters her zwar bekannten, aber leider viel zu selten gelebten Eigenschaften und Charakterzüge, die ein Leben erst lebenswert und gut machen. Menschen, die mutig und besonnen, gerecht und demütig leben, generieren ein Klima, das die Welt besser macht. Wer gastfrei ist und anderen Menschen gegenüber freigiebig, der trägt zum Guten bei und macht Menschen Hoffnung. Wer das alles ohne moralischen Druck praktiziert, frei und gerne, der scheint ein glücklicher Mensch zu sein.

Was sind Tugenden, wie kann man sie lernen, und was unterscheidet sie von Werten und Moral? Das können Sie in diesem Buch lesen und dann – hoffentlich – Lust auf ein gutes Leben bekommen.

Wenn Sie dieses Buch lesen

erhalten Sie einen Überblick über die wichtigsten Tugenden.

lernen Sie für Ihr Leben relevante Tugenden mit besonderer Berücksichtigung der biblischen Perspektive kennen.

verspüren Sie Lust, gewisse Tugenden zu trainieren und konkret anzuwenden.

Wozu sich mit Tugenden beschäftigen?

Nicolas Hayek, der bekannte Gründer der Swatch-Group und Erfinder des Smart, ein Unternehmer alten Stils, kritisiert seine jüngeren Kollegen mit starken Worten: „Die Manager dienen der falschen Religion. Sie investieren weniger in Innovationen und die Zukunft eines Unternehmens, weil sie hohe Gewinne zeigen und Dividenden ausschütten müssen. Aber, verdammt noch mal, wo sind die Tugenden von Männern wie Krupp, Siemens oder Ford, die Unternehmen gegründet haben?“ (in Wegner :12). Bereits dies Zitat zeigt, dass es bei Tugenden nicht nur um gute Techniken der Lebensbewältigung oder kluge unternehmerische Entscheidungen geht, sondern um mehr. Es geht um Charaktereigenschaften, die sich auch in schwierigen Situationen als gut erweisen und zu einem angemessenen Handeln führen.

Aus drei Gründen tut es gut, sich mit christlichen Tugenden zu beschäftigen und diese zu trainieren:

1. Über das Schlechte hat man ein genaues Bild, über das Gute nicht (mehr): Der britische Autor Gilbert Keith Chesterton wies schon 1905 auf ein seltsames Phänomen hin: In der Öffentlichkeit, in Büchern und in den Medien weiß man genau, wie das Übel aussieht. Aber man weiß nicht mehr, wie das Gute aussieht: „Ein modernes Moralbewußtsein kann … mit uneingeschränkter Überzeugung bloß auf das Schreckliche hinweisen, das aus Gesetzesübertretungen folgt; seine einzige Gewißheit ist die Gewißheit des Übels. Es kann nur Unvollkommenheit an die Wand malen. Vollkommenes hat es nicht zu bieten“ (Chesterton :23). Dieses Problem kennen wir auch aus dem Alltag: Alle Mitglieder einer Organisation (Firma, Kirchengemeinde, Verein …) wissen genau, wann ein Vorstand falsch leitet. Aber man hat nur eine unklare Vorstellung davon, wie denn ein Vorstand gut leiten soll. Die Bibel hingegen fordert uns in Philipper 4,8 dazu auf, über jegliche Tugend nachzudenken und ihr damit einen Wert zu geben. Dieser Aufforderung folgen wir, indem wir fünfzehn Tugenden genauer betrachten.

2. Der Charme der Tugendethik: Mit Ethik verbinden wir im deutschsprachigen Raum häufig eine sogenannte Pflichtenethik, die besonders von dem deutschen Philosophen Immanuel Kant vertreten wurde. Danach tut man das Gute, weil die Pflicht es fordert, obwohl man manchmal lieber etwas anderes täte. Die auf Aristoteles zurückgehende Tugendethik betont stärker die Charakterentwicklung: Durch regelmäßiges Training (vergleichbar mit einem Sporttraining) entwickelt und pflegt man Tugenden, sodass man das Gute gerne tut, d. h., der Freigiebige gibt nicht 10%, weil er geben muss, sondern weil er es gerne tut. „Tugendhaft zu handeln heißt nicht, wie Kant später annehmen sollte, gegen die Neigung zu handeln; es bedeutet aus einer Neigung heraus zu handeln, die durch Pflege der Tugenden entsteht“ (MacIntyre :201). Bei Kant ist „Streben nach Glück“ und „Moral“ stärker getrennt. Für Aristoteles gehört beides zusammen: Nur der Tugendhafte erreicht die Glückseligkeit. Dadurch bekommt die Ethik etwas Attraktives, Befreiendes. Deswegen ist der Titel unseres Buches bewusst doppeldeutig: Mit „gutem Leben“ meinen wir sowohl das moralisch gute Leben wie auch ein gutes Leben im Sinne von gelingendem Leben. Jeder hat Lust auf ein gutes Leben im Sinne eines gelingenden, erfolgreichen Lebens. Moral verbinden wir normalerweise nicht mit Lust; manche meinen, Lust und Moral würden sich gegenseitig ausschließen, sodass man sich nur für eins von beiden und damit gegen das andere entscheiden kann: Entweder ich habe Lust oder ich bin moralisch. Die Tugendlehre verbindet Lust und Moral: „Der Tugendhafte zeichnet sich dadurch aus, dass er Freude an der Ausübung seiner Tugenden empfindet“ (Halbig :359).

Allerdings müssen wir gegenüber Aristoteles aus neutestamentlicher Sicht einschränken: Der Mensch ohne den Geist Gottes kann sich noch so sehr anstrengen; seine sündige Natur hindert ihn, die Tugenden vollends zu leben. Jedoch sieht das Neue Testament den von der Macht der Sünde befreiten Mensch anders: Er soll Fleiß aufwenden, die Tugenden zu entwickeln (2Petr 1,5).

3. Die Sprache des Himmels lernen: Der britische Neutestamentler N. T. Wright veröffentlichte 2010 ein Buch über Charakterentwicklung. Er zeigt auf, wie das Neue Testament einerseits die klassische Tugendlehre übernimmt, aber in der Zielsetzung über diese hinausgeht, weil es von Dingen weiß, von denen Aristoteles & Co. noch nichts wussten. „Aristoteles’ Vision vom tugendhaften Menschen war tendenziell immer die des ‚Helden‘, des moralischen Giganten, der durch die Welt schreitet, großartige Taten vollbringt und den Applaus kassiert. Die christliche Vision vom tugendhaften Menschen stellt typischerweise jemanden in den Vordergrund, dessen liebender großzügiger Charakter normalerweise keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Die Herrlichkeit der Tugend besteht im christlichen Sinne darin, dass das Selbst nicht im Mittelpunkt des Bildes steht. Im Mittelpunkt stehen Gott und Gottes Königreich“ (Wright :69-70). Wer im Hier und Jetzt christliche Tugenden pflegt, bereitet sich damit auch auf das Leben in diesem Königreich vor. So wie man sich auf einen Auslandsaufenthalt durch das Erlernen einer Fremdsprache vorbereitet, lernt man durch das Training der Tugenden jetzt schon die Sprache des Himmels.

Was sind überhaupt Tugenden?

Man kann heute wieder eine starke Hinwendung zu Tugenden beobachten. Die Bücher und Aufsätze zum Thema sind fast unüberschaubar. Es wird über Tugenden aller Art geschrieben, über „Deutsche Tugenden“, über „111 Tugenden und 111 Laster“, über „die 7 Tugenden“, über das „heilige Buch vom Weg und von der Tugend“, über „Tugenden im Jahreslauf“ usw. usf. Sogar ein „Tugendprojekt“1 gibt es, das Tugenden in der Erziehung und Pädagogik für Heranwachsende als Charakterbildung und Schlüsselkompetenzen in den Blick nimmt. Bei so viel Tugend wundert es kaum, dass der streitbare Thilo Sarrazin (2014) nun auch ein Buch über den neuen Tugendterror schreibt.

Ganz allgemein kann man bei Wikipedia im entsprechenden Eintrag über Tugend lesen:

Allgemein versteht man unter Tugend eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung. Im weitesten Sinn kann jede Fähigkeit, eine als wertvoll betrachtete Leistung zu vollbringen, als Tugend bezeichnet werden. In der Ethik bezeichnet der Begriff eine als wichtig und erstrebenswert geltende Charaktereigenschaft, die eine Person befähigt, das sittlich Gute zu verwirklichen (Wikipedia 2012).

So weit sind sich vermutlich alle einig. Aber was das sittlich Gute ist, das kann – je nach ethischer Überzeugung oder kultureller Prägung – recht unterschiedlich verstanden werden. So kann man z. B. Primär- von Sekundärtugenden unterscheiden. Man kann bürgerliche Tugenden wie Ordentlichkeit, Pünktlichkeit und Reinlichkeit meinen oder preußische Tugenden wie Pflicht, Aufrichtigkeit, Disziplin und Gehorsam. Dass einige dieser Tugenden zu unmenschlicher Härte oder gar zu Verbrechen führen konnten, das machen Zeugnisse ehemaliger Wehrmachtsangehöriger deutlich: „Ich habe doch nur meine Pflicht getan.“

Der Gipfel der Perversion von Tugenden zeigt sich in der Aufschrift am Eingang des Konzentrationslagers Neuengamme. Hier mussten Häftlinge die von Himmler stammende Aufschrift lesen: „Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland!“ (Smith & Peterson :111). Man konnte mit bekannten Tugenden Menschen die Hölle bereiten. Dass in der kritischen Aufarbeitung dieser dunklen Geschichte durch die 68er Kulturrevolution diese Tugenden eines überholten preußischdeutschen Denkens gleich ganz abgeschafft werden sollten, ist einerseits verständlich, andererseits gleicht es dem Versuch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Alternativ-Tugenden wie ein freizügiges Moralverständnis, antiautoritäre Pädagogik, totale Selbstbestimmtheit u. a. haben jedenfalls nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Gesellschaft und nachhaltig tugendhafter Lebensweisen geführt.

Aufgrund der offenkundigen Defizite im zwischenmenschlichen Leben ist heute die Notwendigkeit, sich um Ethik zu bemühen, wieder neu erkannt worden. Ethik ist Teil der Lehrpläne der Schulen und wird als Wert in das Mission-Statement von Firmen aufgenommen. Eine unüberschaubare Anzahl von Büchern beschäftigt sich mit dem Thema. Institute widmen sich der Erforschung und Implementierung von Ethik in den Arbeitsalltag. Grund genug, sich etwas genauer mit dem Thema Tugenden und Werte auseinanderzusetzen.

Manchmal werden die Begriffe „Tugenden“ und „Werte“ gleich verwendet. Beide Begriffe stammen zwar aus der Ethik, sie bezeichnen aber Unterschiedliches. Werte sind Überzeugungen davon, was gut und richtig ist, z. B. Gerechtigkeit für alle Menschen. Werte sind eher abstrakt formuliert. Tugenden sind Fähigkeiten, Dispositionen eines Menschen, die als gut erkannten Werte konkret umzusetzen.2 Ein gerechter Mensch ist jemand, der gerecht handelt, d. h. andere und sich selbst gerecht behandelt.

Tugenden werden als Wege zum Guten gesehen. Dabei ist es unerheblich, ob man in Anzahl oder Auswahl der Tugenden übereinstimmt oder nicht. Was das Gute ist und wie es zu erreichen ist, lässt sich oft nicht eindeutig definieren. Es gibt religiöse und philosophische Antworten zuhauf. Weitgehende Übereinstimmung besteht jedoch in der Einsicht einer dreifachen Voraussetzung zum Tun des Guten. Für die meisten wird eine Spannung erkannt zwischen a) dem Menschen, wie er ist und b) wie er sein könnte, wenn er sein Ziel und das Gute wüsste, und c) was er tun müsste, um dies Ziel zu erreichen. Jeder muss, wenn er ehrlich zu sich selbst ist, einräumen, dass er eben nicht so ist, wie er sein sollte oder sein wollte oder sein müsste (je nach Prägung und weltanschaulicher Überzeugung). Übereinstimmung besteht auch darin, dass man angesichts der gesellschaftspolitischen Herausforderungen heute die vermissten und verloren gegangenen Mittel und Wege, mit denen man das Gute erreichen kann, wieder entdeckt und belebt. Diese Mittel und Wege zum Guten werden gemeinhin als Tugenden bezeichnet.

Ein Tugendlehrer, der die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte maßgeblich und wie kein anderer geprägt hat, ist Aristoteles (384–322 v. Chr.). Seine Nikomachische Ethik3 ist gemäß MacIntyre (:199) „die brillanteste Sammlung von Vortragsnotizen, die je geschrieben wurde“. Sie atmet eine Lebendigkeit und Praxisnähe, die viele heutige ethische Abhandlungen vermissen lassen. Aristoteles entfaltet ein ethisches Konzept, das weit über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg zu einem Weg des Guten gelten kann und anerkannt ist. Von daher ist es naheliegend, dass die Tugenden als ethischer Weg aus der Krise in unseren Tagen wieder neu entdeckt werden. Das von vielen geteilte Empfinden eines starken Wertewandels und großflächigen Verdampfens traditioneller ethischer Vorstellungen erklärt den Ruf nach Werten und Tugenden.

Während sich die meisten Abhandlungen über Tugenden auf die aristotelisch-philosophische Tradition berufen, wurden im evangelischen Bereich Tugenden oft unterbelichtet. Die Gründe lassen sich unterschiedlich erklären (siehe das Postskriptum, S. 128). Diese Tugend-Lücke will dieses Buch schließen helfen. Die Autoren sind der Meinung, dass Christen nicht auf Tugenden verzichten können. Zu deutlich wird im Neuen Testament auf sie verwiesen. Dabei sind sich die Autoren bewusst, dass nicht nur Christen tugendhaft leben können und es inhaltlich durchaus große Schnittmengen zwischen außerchristlichen und christlichen Tugendentwürfen gibt.

Was sagt die Bibel?

Im Alten Testament werden die Zehn Gebote als ethische Wegweiser eingeleitet mit der Selbstkundgabe und dem Befreiungshandeln Gottes (2Mo 20,1ff.). Wer ihm begegnet ist, lebt anders. Wer seine Liebe erfahren hat, lebt konkret in seinen Geboten. In der alttestamentlichen Weisheitsliteratur werden Tugenden und Laster plastisch beschrieben und gegeneinandergehalten. Der Weise geht den Pfad der Tugend (Spr 12,15). Dabei weiß er, dass die „Furcht des Herrn der Anfang der Erkenntnis ist“ (Spr 1,7). Die göttliche Weisheit kann man hier als eine Entsprechung der Tugend verstehen. Sie erweist sich in einer klugen Lebensgestaltung und steht der Lebensweise des Toren diametral entgegen.

Im Neuen Testament wird von Tugenden gesprochen, wenn auch nicht in systematischer Weise und auch nicht als zentrales Thema. Bekannt sind etwa die sogenannten Tugend- und auch Lasterkataloge (z. B. Gal 5,22ff.; Eph 4,1-3), die es in ähnlicher Form auch außerhalb der Bibel in der antiken Literatur gab. Im Neuen Testament wird aber nicht nur ethisch an ein tugendhaftes Leben von Menschen appelliert. Man soll nicht einfach moralisch anständig leben. Das Leben der Christen soll ein Spiegel von Gottes Tugenden sein. Deshalb wird immer zuerst von Gottes Tugenden gesprochen. „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt!“ (1Joh 4,19). Diese außerordentliche Liebe Gottes ist in seinem geschichtlichen Heilshandeln – und besonders in Christus – offenbar geworden. Durch sie hat er das Leben von Christen reich gemacht. Daher sollen sie mit ihrem Leben „die Tugenden Gottes verkündigen“ (1Petr 2,9). Dass Menschen überhaupt glauben können und dass sie zur Kindschaft Gottes und zur Nachfolge Jesu berufen sind, liegt an „Gottes Herrlichkeit und Tugend“ (2Petr 1,3). Der griechische Begriff aretä, den Petrus hier gebraucht, meint Tüchtigkeit, Fähigkeit oder Vollkommenheit. Die Tugenden Gottes sind also Eigenschaften seines Charakters, seines Wesens, die sich in seinem konkreten Heilshandeln zeigen.

Hier wird schon ein neutestamentliches Merkmal deutlich, durch das sich die neutestamentlichen Tugendkataloge von den antiken philosophischen Tugendlehren fundamental unterscheiden. Im griechisch-hellenistischen Kontext war „der Tugendbegriff … doch zu anthropozentrisch und zu sehr aus dem Diesseits erwachsen“ (Bauernfeind :460). Das, wovon die Bibel Zeugnis gibt, sind nicht die Leistungen oder Verdienste der Menschen, sondern die großen Taten Gottes. Diese Taten sind so vortrefflich, so vorzüglich, dass sie mit dem Begriff Tugenden bezeichnet werden. So verwendet die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, den Begriff Tugend als Synonym zu doxa – Herrlichkeit. Gottes Herrlichkeit ist seine Tugend. Sie erweist sich in seiner Gerechtigkeit und kann auch mit diesem Begriff „fast wechselseitig gebraucht“ werden (:460).

Wenn also im Alten und Neuen Testament von Gottes Tugenden gesprochen wird, dann werden damit seine Wesensart und sein konkretes Heilshandeln bezeichnet, das Menschen so berührt, dass sie verändert und befähigt werden, nun ihrerseits seine „Tugenden zu verkünden“ (1Petr 2,9) und nach seinen Tugenden zu leben. Am besten kann man es mit der augustinischen Begriffsbestimmung des Petrus Lombardus ausdrücken, was Tugend ist: „Tugend ist jene gute Beschaffenheit des Geistes, kraft deren man recht lebt, die niemand schlecht gebraucht, die Gott in uns ohne uns bewirkt“ (in Porter :188). Was das im Einzelnen bedeutet, soll in den folgenden Artikeln entfaltet werden.

Dass es dabei durchaus auch zu Überschneidungen mit weltlichen Tugenden kommen kann, ist für den Bibelkenner gar nicht so überraschend. Paulus mahnt die Juden im Römerbrief, sich nicht über die Heiden aufgrund ihres Wissens von Gott zu überheben. „Denn wenn auch die Heiden, die kein Gesetz haben, von Natur dem Gesetz entsprechend handeln, so … beweisen sie, dass das Werk des Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist“ (Röm 2,14f.). Das heißt nicht, dass Heiden aufgrund ihres Tuns des Gesetzes (tugendhaftes Leben) vor Gott gerecht werden, sondern dass sie tatsächlich in der Lage sind, auch tugendhaft zu leben. Dass das nicht reicht, um vor Gott zu bestehen, ist im Römerbrief die herausfordernde Botschaft des Evangeliums. Nicht unsere eigene Gerechtigkeit und Tugendhaftigkeit macht uns vor Gott gerecht, sondern seine Gerechtigkeit, die Gnade, mit der er Sünder und Gottlose gerecht macht (Röm 3,21ff.; Gal 2,16-21). Diese Voraussetzung befähigt zu einem tugendhaften Leben aus dem Glauben.

Zur Auswahl der Tugenden

Das Neue Testament greift viele Tugenden auf, die zur damaligen Zeit allgemein anerkannt waren. Darüber hinaus entfaltet es aber auch Tugenden, die Nicht-Christen nicht kannten und die größtenteils von ihnen gar nicht als Tugend anerkannt wurden.

Wir halten dieses Buch bewusst kurz. Deshalb haben wir uns auf fünfzehn Tugenden beschränkt:

1. Die klassischen vier Haupt- oder Kardinaltugenden: praktische Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit.

2. Spezifisch christliche Tugenden, die es in der Antike vorher nicht gab: Demut, Feindesliebe, Vergebungsbereitschaft, Hoffnung.