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Martina Kessler und Michael Hübner

Von Kritik lernen
ohne verletzt zu sein

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Wenn nicht anders vermerkt, werden Bibelstellen nach der Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Auflage in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LÜ) wiedergegeben. Sonst:

Liedtext Wise Guys:

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www.ts-institut.de

www.acf.de

© 2013 Brunnen Verlag Gießen

Ich, Martina Kessler, widme dieses Buch meinem ersten Enkel, Johannes Matthew Mischnick, und allen nachfolgenden Enkelkindern. Mögen sie von der wachsenden Kritikkompetenz ihrer Eltern und Großeltern profitieren.

Ich, Michael Hübner, widme dieses Buch meinem Sohn Jonathan und seiner Frau Heike, die als junge Eltern in dem Bemühen stehen, ihre Kinder zu kritikfähigen Menschen zu erziehen.

Inhalt

Zum Geleit

Vorwort

Einleitung

1. Kritikgesinnung lernen von den Sprüchen

Zwischenruf 1: In jeder Kritik steckt etwas Wahres!?

2. Unterschiedliche Kritikverarbeitung: Mut, reflexiv zu denken

2.1 Der gute Umgang mit Kritik

2.2 Wie bin ich? – Die vier Persönlichkeitsstrukturen

Zwischenruf 2: Klären statt Streitvermeidung

3. Konstruktive Kritik

3.1 Konstruktive Kritik in guter Form mit verwertbarem Inhalt

3.2 Konstruktive Kritik in schlechter Form und mit schwer verwertbarem Inhalt

Zwischenruf 3: Harmonie oder Frieden

4. Neurotische Kritik

4.1 Das Ziel neurotischer Kritik

4.2 Methoden neurotischer Kritiker

4.3 „Killereinwände“ gegen Kritik

4.4 Wirkung belastender Kritik

4.5 Biblischer Rat

4.6 Hilfreicher Umgang mit neurotischer Kritik

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Bibelstellenverzeichnis

Anmerkungen

Zum Geleit

Kritisieren ist ein Geben und ein Nehmen. Die meisten Menschen verhalten sich wie Boxer: Sie wollen lieber austeilen statt einstecken. Mein Buch „Kritisieren ohne zu verletzen“ (1. Aufl. 2005, 5. Aufl. 2012) behandelte das Geben, das „Austeilen“ einer Kritik. Aber an einer Kommunikation sind mindestens zwei Personen beteiligt: Sender und Empfänger. Insofern war das Buch einseitig, da es eben nur den Sender einer Kritik betrachtete. Ich freue mich darüber, dass durch das vorliegende Buch „Von Kritik lernen ohne verletzt zu werden“ nun endlich die offensichtliche Lücke geschlossen wird. Hier geht es um den Empfänger der Kritik. Man merkt diesem Buch an, dass die Autoren dieses Thema seit über 10 Jahren regelmäßig unterrichten.

Letztlich sind beide Bücher als eine Einheit zu sehen. Fangen Sie mit dem Buch an, dessen Thema Ihnen am meisten unter den Nägeln brennt.

Wir wünschen, dass Sie Kritik als eine positive Unterstützung der eigenen Charakterentwicklung wahrnehmen. Körperliche Fitness kann man alleine trainieren, wenn einem das lieber ist. Aber den Charakter, also gewissermaßen die seelische Fitness, kann man nur in einer Gemeinschaft trainieren. Und da ist angemessene Kritik untereinander ein unverzichtbarer Bestandteil: „Lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken“ (Hebräer 10,24).

Volker Kessler

Gummersbach, 04.06.13

Vorwort

Als wir vor über zehn Jahren mit dem Weiterbildungsprogramm der Akademie für christliche Führungskräfte starteten, haben wir immer mal wieder Leiter gefragt, was sie von einer solchen Ausbildung erwarten würden. Eine der Personen war Christoph Waffenschmidt, der zu dieser Zeit als jüngster Bürgermeister in Deutschland tätig war. Er sprach sich dafür aus, dass Leiter unbedingt lernen müssten, mit Kritik umzugehen. Heute danken wir Christoph Waffenschmidt dafür, dass er uns durch seine Idee auf die Fährte „Mit Kritik umgehen“ gesetzt hat.

Wir danken auch den vielen Teilnehmern und Teilnehmerinnen, die im AcF-Modul Persönlichkeitsentwicklung mit an den Inhalten gefeilt haben. So konnte sich aus einem Vortragsthema ein Buch entwickeln.

Im Laufe der Jahre ist nicht nur das Thema „Von Kritik lernen ohne verletzt zu sein“ erweitert und vertieft worden, sondern auch die Beziehung zwischen der AcF und der Stiftung Therapeutische Seelsorge (TS). Daher freuen wir uns, dass wir dieses Buch gemeinsam entwickeln und veröffentlichen konnten.

Wir danken unseren Ehepartnern, Utina Hübner und Volker Kessler, dass sie dieses Projekt gefördert und begleitet haben. Danke, dass Ihr uns immer wieder den Freiraum zur Weiterentwicklung gebt.

Volker, danke für 30 Ehejahre mit gegenseitiger Ermutigung und Kritik. Ohne Dich wäre ich nicht, wer ich bin.

Utina, danke für Dein beharrliches Bestreben, Dich nicht mit dem zufriedenzugeben, was gerade ist, und für Dein „lebendiges Querdenken“, das hier eingeflossen ist.

Wir danken unseren Kritikern Gerd Engelhard, Joela Hübner, Elke Meier, Emanuel Kessler, Natanja Mischnick und Stefan Schmid für ihr Korrekturlesen und ihre wichtigen Gedankenanregungen. Eure unterschiedlichen Kritikschwerpunkte haben diesem Buch gut getan!

Wir danken den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Brunnen Verlages, die dieses Projekt angenommen, sensibel begleitet und in ein gutes Format gebracht haben.

In diesem Buch finden Sie immer wieder Beispiele aus dem Alltag. Vielleicht ist Ihnen die eine oder andere Situation vertraut. Jede Geschichte hat einen Bezug zur Realität, ist aber so verfremdet, dass keine Rückschlüsse auf Personen oder Situationen möglich sind. Diese Beispiele sollen Ihnen helfen, eine Brücke von der Theorie zu Ihrem praktischen Alltag zu finden.

Die Autoren dieses Buches schließen nicht aus, im Übereifer Menschen aus ihrer Umgebung mit Kritik verletzt zu haben. Sollte sich ein Leser/eine Leserin an eine solche Verletzung durch uns erinnern, bitten wir hiermit um Vergebung und bieten an, zu uns Kontakt aufzunehmen. Wir sind und bleiben Lernende.

Ihre Martina Kessler & Michael Hübner

Einleitung

Martina Kessler und Michael Hübner

Günther Beckstein ist sich sicher: „Die wichtigste Form der Loyalität ist Kritik“ (in Ramsberger 2010). Was mag Sie dazu bewegen, sich über das Thema Kritik Gedanken zu machen? Vielleicht haben Sie vor, jemanden zu kritisieren. Vielleicht zweifeln Sie auch an der Art, wie Sie kritisieren oder wie Sie Kritik richtig verarbeiten. Einerseits fällt es den meisten Menschen schwer, Kritik zu erteilen, da sie wissen, dass diese selten willkommen ist. Andererseits ist das Leben voller Kritik, die quasi nebenbei geäußert wird und dabei häufig umso mehr trifft. Ist das nicht paradox? – Kritik wird als zur Weiterentwicklung notwendig angesehen und gleichzeitig als bedrohlich erlebt. Schon in diesen wenigen Eingangssätzen zeigt sich das ganze Spannungsfeld beim Umgang mit Kritik. Wir wollen Kritik geben und empfangen und haben doch Angst davor.

Das Wort „Kritik“ wurde Ende des 17. Jahrhunderts aus dem französischen Wort critique gebildet, das wiederum aus dem griechischen krinein abgeleitet ist und (unter-)scheiden, sichten, beobachten, beurteilen oder trennen bedeutet. Daraus leitet sich kriterion ab, das Kriterium, Unterscheidungsmerkmal, Prüfstein oder Maßstab meint. Allgemein geht es um eine prüfende Beurteilung von Dingen oder Personen (Täuber 2012). „Kritik zu üben bedeutet im ursprünglichen Sinne, ein begründetes Urteil abzugeben, das sich aus nachvollziehbaren Unterscheidungen ableitet und auf ausdrücklich hinzugezogene Kriterien bezieht“ (Heymann 2006:6).

Kritikfähigkeit hat eine „aktive und eine reflexive Dimension“ (:7). Dabei geht es darum, dass eine Person fähig ist, aus Einsichten und Erkenntnissen Konsequenzen zu ziehen. Es kann ebenso auch die Fähigkeit zu kritischem Denken gemeint sein.

Auf den folgenden Seiten soll es um die „aktive Dimension“ gehen: um die ganz persönliche Fähigkeit, Kritik anzunehmen und aus ihr Konsequenzen zu ziehen. Ob im gesellschaftlichen, beruflichen oder privaten Rahmen – jeder ist darauf angewiesen seine Kompetenz im Bereich Kritikfähigkeit auszubauen. Nur so können wir demokratisch, partnerschaftlich und vernünftig miteinander umgehen.

Kritik ist also eine unverzichtbare Voraussetzung bei der Diskussion von Problemen oder bei der Problembehebung. Kritik und Weiterentwicklung sind ein Geschwisterpaar. Das Wort „Kritik“ ist an und für sich – im Geben oder Nehmen – erst einmal neutral. Erst die positive oder negative Bewertung einer Sachlage gibt der Kritik eine Richtung. Man entscheidet dann kritisch, ob ein Vorgang gut war oder etwas verändert werden sollte. In der Erwartung, dass Kritik nur etwas Negatives sein kann, geht oft schon allein nur vom Wort Kritik etwas Bedrohliches aus. Dabei brechen unangenehme Gefühle auf. Das ist auch so, weil niemand seine Handlung gerne infrage stellen lässt und weil jeder Mensch seine eigene Kritikgeschichte hat. „Nein, das ist falsch, du musst mit dem Pinsel malen, nicht mit dem Finger.“ Oder: „Was machst du denn da? Pass auf, sonst fällt die Milch wieder um!“ Solche und ähnliche elterlichkritische Lebensanleitungen haben manchen Menschen, bei allem Positiven, mit geprägt.

Später im Leben sind die Worte der Kritiker zwar anders („Wie konnten Sie das zulassen?“, „Was haben wir geackert, und nun ist alles kaputt, weil Sie nicht aufgepasst haben!“, „Du hast dich ja bemüht, aber es reichte eben nicht.“), aber sie lösen bei den meisten Menschen die gleichen unangenehmen Gefühle aus. Nur Menschen mit einer speziellen Persönlichkeitsstruktur fühlen sich durch solche Kritik eher motiviert und herausgefordert (siehe Kapitel 2.2).

In diesem Buch werden wir verschiedenen Kritikarten nachgehen. Es gibt Kritik, die sowohl in der Form als auch im Inhalt gut und konstruktiv ist, es gibt konstruktive Kritik in schlechter Verpackung (in Form und Inhalt), und es gibt Kritik, deren alleiniges Ziel es ist, den Kritikempfänger klein zu machen. Diese besondere Art von Kritik wird im letzten Teil zum Schwerpunktthema, da sie uns häufig in ganz besonderer Weise trifft und langfristig beschäftigt.

1. Kritikgesinnung lernen von den Sprüchen

Martina Kessler

„Gegenwind formt den Charakter“ sagt eine Spruchweisheit, die seit alters her Radfahrer begleitet. Man will sich in eine Richtung bewegen, aber der Gegenwind macht einem das Weiterkommen schwer. Das kann sicherlich auch auf den Gegenwind aus Kritik übertragen werden. Aber wie kann ich denn nun mit Kritik umgehen? Und welchen Einfluss sollte Kritik auf meinen Charakter haben? Diese Fragen beschäftigen uns in jedem Seminar Persönlichkeitsentwicklung der Akademie für christliche Führungskräfte (AcF). Und wann immer dieses Thema auf dem Wochenplan steht – auch abends –, wir können sicher sein, dass wir die volle Aufmerksamkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben. Häufig schließen sich intensive Diskussionen an, die einschneidende und manchmal auch verletzende Erlebnisse der Studentinnen oder Studenten, die fast alle Führungsverantwortung tragen, ans Tageslicht bringen.

Kritik kann unter die Haut gehen und schmerzhaft sein. Viele Menschen haben Beispiele für das, was im Alten Testament in den Sprüchen Salomos wie folgt zusammengefasst wird:

Da ist ein Schwätzer, dessen Worte sind Schwertstiche.

Sprüche 12,18 (ELB)

Schwertstiche verletzen. Man könnte deshalb zu der Entscheidung kommen, dass man Kritik besser an sich abgleiten lässt – wie Bratgut an einer Teflonpfanne. Manchen Menschen gelingt das auch. Aber das ist nicht klug, und ein Blick in die Bibel lehrt uns, dass das auch nicht der richtige Weg im Umgang mit Kritik ist. Gerade in der Weisheitsliteratur1 des Alten Testamentes werden die Leser immer wieder aufgefordert, von Zurechtweisungen zu lernen, seien sie nun als Rat, Feedback oder Kritik geäußert. Die wenigsten Menschen schätzen die Notwendigkeit von Kritik, denn sie kann das Leben komplizierter machen.

Wer Kritik annehmen und für sich positiv verarbeiten kann, wird durch sie klüger und weiser werden!

Nur Narren glauben, sie bräuchten keinen Rat, weise Menschen aber hören auf andere.

Sprüche 12,15 (NLB)

Wer nicht auf den Rat oder die Kritik anderer hört, ist ein Narr, der sich damit ins eigene Fleisch schneidet. Wer auf guten Rat hört und Zurechtweisung annimmt, kann für den Rest seines Lebens weise werden:

Höre auf guten Rat und nimm Zurechtweisung an, damit du für den Rest deines Lebens weise wirst.

Sprüche 19,20 (NLB)

Das stellt eine erfreuliche und längerfristige Perspektive in Aussicht.

Der kluge Mensch will sich weiterentwickeln und nimmt deshalb Rat an.

Darüber hinaus hat das Annehmen oder Ablehnen von Kritik soziale Auswirkungen, von denen auch andere betroffen sein können. Kluges Verhalten hat Einfluss auf das ganze Lebensumfeld.

Wer eine Zurechtweisung annimmt, geht den Weg des Lebens, doch wer sie missachtet, führt andere in die Irre.

Sprüche 10,17 (NLB)

Außerdem werden wir in den Sprüchen mit unseren Gefühlen bei Kritik konfrontiert. Denn:

Wer weisen Herzens ist, nimmt Gebote an.

Sprüche 10,8a

Das ist leichter gesagt als getan, denn es widerspricht dem Gefühl, das gerade bei negativer Kritik ausgelöst werden kann. Für mich war es lange Zeit sehr schwer mit negativen Kritikaussagen umzugehen. Ich erlebte sie als Angriffe. Das änderte sich, als ich vor einigen Jahren einen weisen, älteren Mann kennenlernte, der Kritik als „kostenlose Unternehmensberatung“ bezeichnete.

Diese weise Formulierung verhalf mir zu einem persönlichen Paradigmenwechsel. Nach und nach lernte ich, negative Kritik nicht mehr als Bedrohung zu erleben, sondern sie als gute Basis für persönliche Weiterentwicklung anzunehmen.

Kritik ist kostenlose Unternehmensberatung.

Zwischenruf 1: In jeder Kritik steckt etwas Wahres!?

Martina Kessler

Bevor wir nun konkret die verschiedenen Kritikarten betrachten, möchte ich Sie auf einen wichtigen Aspekt im Umgang mit Kritik hinweisen. Oft kann man den Satz hören: „In jeder Kritik steckt etwas Wahres“ – weshalb man sie dann auch unbedingt annehmen sollte. Mit dieser Aussage sollen Kritikempfänger motiviert werden, Kritik nicht achtlos zu übergehen, sondern darüber nachzudenken. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen.

Dennoch muss die Kombination von Wahrheit und Kritik-unbedingt-Annehmen differenziert betrachtet werden. Es stimmt, an jeder Kritik ist etwas Wahres – allerdings nicht immer etwas Wahres über den Empfänger. Das Wahre einer Kritik ist immer, dass der Absender eine Wahrheit über sich selbst sagt. In jeder Kritik steckt also eine wahre Selbstaussage. So muss z. B. der Satz: „Zieh keinen so kurzen Rock an, das steht dir nicht so gut.“ überprüft werden. Wer entscheidet, ob jemand etwas gut steht oder nicht? Und ist das überhaupt die Grundlage für einen richtigen Kleidungsstil? Kommt es nicht auf ganz andere Dinge an? Die Empfängerin dieser Botschaft wird diesen Satz hören, und es ist auch gut, darüber nachzudenken. Ob der Satz tatsächlich der Wahrheit entspricht, bleibt offen und sollte unbedingt von der Empfängerin der Kritik anhand eigener Maßstäbe entschieden werden.

Wahr ist an dieser Aussage allerdings, dass die kritisierende Person der Ansicht ist, dass der Empfängerin kurze Röcke nicht stehen. Weshalb die Kritikerin dieser Meinung ist, sagt sie nicht. Vielleicht würde sie selbst solche Röcke nie tragen. Oder sie fürchtet um ihr Alleinstellungsmerkmal. Oder sie hat sexualethische Gründe dafür. Wie auch immer. Es ändert nichts an ihrer Selbstaussage zur Rocklänge der Trägerin.

In jeder Kritik steckt eine (wahre) Selbstaussage des Absenders.

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