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Tanja Schurkus

Schwester Melisse

Die Klosterfrau von Köln

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© 2014 Brunnen Verlag Gießen

Inhalt

ZWISCHEN KREUZ UND ADLER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

DIEU ET LIBERTÉ – GOTT UND FREIHEIT

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

SCHWESTER MELISSE

Kapitel 29

Kapitel 30

NACHWORT

„Ich bin nur eine arme, alte Klosterfrau“

Lebensdaten

ZWISCHEN KREUZ UND ADLER

1

Die drei Jungen drängten sich dicht aneinander, jeder fasste den anderen am Ärmel, an der Weste. Sie bestärkten sich so darin, dass sie das Bevorstehende nur gemeinsam tun würden. Die Angst teilten sie ebenso wie den Mut.

Sie nutzten den Schutz der Hausecke an der Olivengasse, ihre Blicke auf das Kasernentor gerichtet. Die Kompanie, die auf dem Neumarkt exerziert hatte, trampelte mit genagelten Stiefeln über das Pflaster, übertönt vom Spiel der Regimentsmusiker. Die Soldaten erhielten den Befehl zu einem Schwenk und passierten das Tor.

„Jetzt!“, feuerte einer der Jungen seine Freunde an.

„Nein, noch nicht!“ Der Älteste hielt die beiden anderen mit einer Geste zurück.

Schaulustige waren am Kasernentor stehen geblieben, manche wippten im Takt der Marschmusik. Zwei Hunde bellten. Nun hatten alle Soldaten dem Platz den Rücken zugedreht.

„Los!“ Die drei stürmten hinter der Hausecke hervor und riefen lauthals im Chor, der selbst die Musik übertönte: „Rote Kragen, nix im Magen! Goldne Tressen, nix zu fressen! Stinkpreußen!“

Und dann warfen sie die Pferdeäpfel, die sie gesammelt hatten. Markus schleuderte den ersten ziellos. Er wollte sich beweisen, dass er es wagte; doch dann sah er, dass Gustav sich einen Moment Zeit ließ, Maß nahm. Der Pferdeapfel, den er warf, traf einen der Marschierenden am Stiefel.

Noch einmal riefen sie: „Rote Kragen, nix im Magen! Goldne Tressen, nix zu fressen! Stinkpreußen!“ Einige Kinder, die der Musik gefolgt waren, fielen in den Spottvers ein, sprangen übermütig hinter den Soldaten herum.

„Ihr Janhagels!“, mahnte einer der Zuschauer, aber es klang gutmütig. Die Kinder sprachen aus, was die Erwachsenen nicht zu sagen wagten.

Gustav hatte sein zweites Geschoss geworfen und das Scheppern eines Metallteils vermeldete seinen Erfolg. Markus wollte ihn noch übertreffen. Also begnügte er sich nicht damit, aus der Entfernung auf gut Glück zu werfen, sondern näherte sich dem Kasernentor. Die Hand, in der er den getrockneten Pferdeapfel hielt, war vor Aufregung eiskalt. Er hatte den Unteroffizier ins Auge gefasst, der den Vorbeimarsch seiner Soldaten begutachtete. Wie nah musste er ihm kommen, um die Hand zu treffen, die am Seitschwert lag?

„Markus, komm!“, riefen die anderen, die ihre Munition schon verschossen hatten.

Seine Holzschuhe schienen plötzlich unförmig geworden zu sein, bei jedem Schritt stießen sie gegeneinander. Es fiel ihm schwer, sie zu heben, aber er war entschlossen. Der Unteroffizier wandte sich plötzlich in seine Richtung. Markus nutzte diesen letzten Moment und warf. Er traf nicht die Hand – der Pferdeapfel zerplatzte an der Schulter, am Schulterstück, zersprang in viele braune Teile, die Hals und Gesicht trafen.

„Habt ihr’s gesehen? Dem Preußen mitten ins Gesicht!“ Markus war stolz auf seinen Erfolg. Aber von seinen Kameraden kam keine Antwort, sie hatten das Weite gesucht. Der Unteroffizier klopfte sich unwillig über den Ärmel und warf einen drohenden Blick auf ihn. Markus fuhr herum, wollte weglaufen, prallte aber gegen einen menschlichen Berg.

Durch die Sonne in seinem Rücken wurde der Offizier übergroß. Er fasste ihn roh am Arm. „Na, warte, Bürschchen! Dir fütter ich heut noch Pferdeäppel!“

Markus versuchte sich loszureißen, aber er war gepackt wie eine Holzpuppe. Er schrie. Der Offizier schüttelte ihn. Markus schrie lauter. Leute murrten. Dass den Preußen das Recht zu prügeln gegeben war, sorgte in den Gassen Kölns immer wieder für Schreckgeschichten. „Lass den Kleinen doch“, sagte einer und wurde zurechtgewiesen.

„Packt euch!“, befahl der Offizier. „Und du kommst mit!“

„Hier find ich dich also, du nutzloser Bengel!“ Markus wurde plötzlich am anderen Arm gefasst und dem Offizier entrissen. „Solltest du nicht am Rhein beim Netzeflicken sein?“

Markus erkannte die Frau sofort, die ihn gepackt hatte. Er wusste, sie war seine Rettung. Er wagte ein Grinsen, wurde aber gleich wieder geschüttelt und von Maria am Ohr gezogen.

„Au, au!“

Der Offizier ließ einen zufriedenen Laut hören. „Ist das Ihr Bengel?“

„Nein, aber ich weiß, wo er hingehört. – Bürschchen, wenn ich deinem Vater erzähle, was für Flausen du im Kopf hast, dann setzt es was!“

„Recht so!“, kommentierte der Offizier.

Markus ließ sich mitziehen, wusste er doch, dass ihn keine der angedrohten Strafen erwartete. Erst als sie in der Cäcilienstraße den Blicken des Offiziers entzogen waren, lockerte Maria ihren Griff.

„Was sollte der Unfug?“, fragte sie streng. Markus jedoch fand, dass die Sache nicht besser hätte laufen können. Davon würden sich die Jungs in den Gassen noch lange erzählen. Besser noch: Sie würden ihn von seiner Heldentat erzählen lassen.

„Gab heut keine Netze zu flicken.“

An drei Tagen in der Woche musste er zur Schule, das war bei den Preußen Pflicht. An den anderen Tagen ging er morgens zum Rhein und verdiente ein paar Pfennige damit, Netze auszubessern, Fische auszunehmen und in Körbe zu sortieren. An besseren Tagen konnte er den Holländern auf ihren Schiffen helfen. Die Bootsleute hatten immer etwas zu erzählen, manche waren sogar zur See gefahren. Markus wollte diese Länder sehen, in denen die Menschen Felle und Federn trugen; er wollte in einem Land leben, in dem nicht an jeder Hausecke ein Uniformierter stand.

„Dir kann man wohl nicht damit drohen, dass ich’s deinem Vater sage. Wahrscheinlich hat der dich dazu angestiftet!“

Maria kam nicht oft in das Haus seiner Eltern und war doch immer auf irgendeine Weise anwesend. Ihr Rat galt etwas im Haus eines jeden guten Katholiken. Manchmal allerdings wurde über sie im gesenkten Tonfall gesprochen. Es ging dann um Dinge, die eine Nonne nicht tun sollte, oder darum, ob sie überhaupt noch eine Nonne war. Sie hatte zwar ihre Haare verschleiert, trug aber keine Ordenstracht. Einen Mann hatte sie auch nicht, das wusste Markus, stattdessen stellte sie Kölnisch Wasser her und Wundertränke. Sein Freund Gustav hatte einmal mit eigenen Augen gesehen, wie sie eine Kröte aus dem Bauch einer Frau herausholte. Die Kröte war dann nach St. Severin gesprungen und zu Wachs geworden. Für Markus war sie eine der abenteuerlichsten Personen in Köln. Er war sich daher sicher, dass sie für das Husarenstück Verständnis haben würde.

„Angestiftet hat mich der Vater nicht“, sagte er, „aber er sagt ja, dass man es den Preußen ungemütlich machen muss …“

Maria fasste ihn noch einmal beim Ärmel und beugte sich zu ihm, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Markus wusste, dass Frauen mit diesen Fähigkeiten auch den bösen Blick hatten, aber Schwester Maria hatte einmal die ewigen Gelübde abgelegt. Flüche verhängte sie bestimmt nicht.

„Es könnte vor allem für deinen Vater ungemütlich werden“, sagte sie. „Hätten die Preußen dich dabehalten, hätte er dich auslösen müssen! Du weißt ja, was das bedeutet!“

Markus nickte. Dafür gab es ein Wort: Spießrutenlaufen. Jeder, der mit der preußischen Armee zu tun gehabt hatte, erzählte davon. Deswegen wollte Markus auch fort aus dem, was sich preußische Rheinprovinz nannte, bevor er alt genug war, um verpflichtet zu werden.

Maria richtete sich wieder auf. „Dein Vater und die Preußen werden das also ungeahndet lassen. Aber beim Herrgott musst du dafür in der Beichte einstehen!“

„Aber welche Sünde habe ich denn gemacht?“, fragte Markus mit ehrlicher Verwunderung und wartete einige Schritte lang ehrfürchtig auf die Antwort, die Maria von höchster Stelle einzuholen schien.

„Du hast gegen eins der Zehn Gebote verstoßen. Weißt du, gegen welches?“

Zumindest hatte sie nicht wie der Pfarrer den Rohrstock in der Hand, als sie das fragte.

„Du sollst Vater und Mutter ehren?“

„Jawohl … damit du lange leben wirst in dem Lande, das Gott, der Herr, dir gab. Und Gott, dem Herrn, hat es nun einmal gefallen, dieses Land an den preußischen König zu geben.“ Markus hörte aus diesen Worten heraus, dass es ihr Gefallen nicht war; wie sollte eine fromme Nonne auch Gefallen an einem nichtkatholischen Herrscher finden? Sie sprach also etwa so wie der Pfarrer in der Schule, der ein wenig eilig leierte, wenn es darum ging, den König von Preußen als Beschützer aller Gottesfürchtigen darzustellen.

„Ein König ist der Vater seiner Untertanen. Und wenn man seine Soldaten mit Schmutz bewirft, so hat man den König, also den Landesvater, mit Schmutz beworfen. Und er straft es nicht selten damit, dass er solche Leute des Landes verweist.“

Will ja weg, dachte Markus; der Vater hatte noch aus der Zeit des Krieges gegen die Preußen einen Kameraden, der nach Kanada gegangen war. Zweimal im Jahr kam von ihm ein Brief, der der Familie vorgelesen wurde. Die Mutter aber wollte vom Auswandern nichts wissen.

„Aber Schwester Maria! Der König von Preußen ist doch nicht katholisch, der kann nicht unser Vater sein.“

Maria fasste die Ledertasche nach, die sie unter dem Arm hielt. Vor ihnen lag das ehemalige Cäcilienkloster, in dem die Franzosen vor fünfzehn Jahren ein Bürgerhospiz in Köln eingerichtet hatten. „Es ist eben die Art des Allmächtigen, unser Vertrauen zu prüfen.“

„Der Theodor sagt, wenn wir den Dom vollenden, verschwinden die Preußen von selbst.“

„Ja, das klingt so recht nach Theodor.“

„Waren Sie denn schon bei Johann? Der ist sterbenskrank!“ Markus war stolz auf diese aufregende Neuigkeit.

Maria hielt ihn kurz bei der Schulter, denn über die Cäcilienstraße schaukelten Fuhrwerke und Kutschen. Köln war zu eng für eine eilige Fahrt und immer gefährlich für alle, die zu Fuß unterwegs waren.

„Was fehlt Johann denn?“

„Er hat’s in der Lunge. Seit zwei Tagen liegt er mit Fieber.“

„War ein Arzt bei ihm?“

„Zu teuer.“

„Der Amtsarzt verlangt gar nichts.“ Amtsarzt – allein das Wort war für Markus derart Ehrfurcht gebietend, dass er darauf nichts sagte. „Ich werde gleich nachher bei Johann vorbeisehen“, meinte Maria.

Markus sah, dass Gustav sich in einem nahen Torbogen herumdrückte. Anscheinend fürchtete er sich vor Marias Ermahnungen, aber sie winkte ihn heran. Er nahm die Filzmütze ab.

„Und du, Gustav, solltest deine Freunde nicht zu solchem Unfug anstiften! Du bist der Älteste, also benimm dich auch so!“

Bei dem Vierzehnjährigen schien die Schelte Eindruck zu machen. Er sah auf das kotbeschmierte Pflaster herab. „Ja, Madame, ich hab ihn aber nicht angestiftet.“

„Das war mein Einfall!“, verkündete Markus. „Und letzte Woche haben wir dem Struensee einen Drisspott an die Tür gekippt – das war auch mein Einfall!“

„Dem Polizeipräsidenten Struensee?“ Dieser war in Köln denkbar unbeliebt, daher war sich Markus sicher gewesen, allen damit einen Gefallen zu tun. „Gustav, wenn’s auch nicht dein Einfall war: Du solltest so etwas nicht zulassen!“

„Ja, Madame.“ Peter Gustav stammte aus der alteingesessenen Brennereifamilie Schaeben. Er war alt genug, um zu verstehen, dass seine Familie es sich mit den neuen Herren nicht verderben durfte, wenn die Geschäfte weiter gut laufen sollten.

„Und sag deinem Vater, dass ich einen neuen großen Kolben brauche.“

„Für das Melissenwasser? Hat es denn nun die Amtsprüfung?“

„Musst nicht alles wissen, Gustav!“ Sie stupste den Jungen an die Wange. Gustav gab recht oft damit an, dass er Schwester Maria dabei half, ihre Heil- und Wunderwasser zu brauen, und dass er eine Menge von dem Spiritus wusste, der aus jedem Kraut die Heilkräfte herausholen konnte.

Weil Markus nicht wollte, dass sein älterer Freund so ganz den angehenden Destillateur herauskehrte, unterbrach er das Gespräch: „Gusti, guck mal!“ Er deutete auf eine Reisekutsche aus edlem Ebenholz mit Messingbeschlägen, die auf hohen gefederten Rädern vorüberrollte, offenbar dem Rheinberg entgegen. Der war zwar längst von den Preußen abgetragen worden, um einen Zugang für die neue ständige Brücke zu schaffen, aber in den älteren Reiseberichten wurde dieser Ort immer noch der Aussicht wegen empfohlen.

„Da bleib ich dran!“, rief Markus. „Mesdames et Messieurs: Bienvenue dans la bonne ville …“ Dabei streckte er lachend die Hand aus und lief los.

Gustav zögerte noch, schien sich mit einem Blick die Erlaubnis von Maria holen zu wollen, entschuldigte sich mit einem: „Ich geb schon auf ihn acht!“, doch das Aufblitzen in seinen Augen verriet, dass auch ihn die wohlhabenden Reisenden reizten. Dann lief er seinem Freund hinterher.

Maria hörte noch einen Wortwechsel zwischen den beiden. „Du kannst doch nicht Madame zu Schwester Maria sagen“, beschwerte sich Markus.

„Ja, wie denn sonst? Sie ist doch keine Nonne mehr.“

„Ist sie wohl …“ Dabei verschwanden die beiden in abenteuerlicher Unachtsamkeit zwischen Zugochsen und Handkarren, zwischen Mägden mit großen Weidenkörben und Pfeife rauchenden Handwerksgesellen.

Maria war unzufrieden mit sich, weil sie die beiden Jungen nicht schärfer ermahnt hatte. Sie kamen in ein Alter, in dem man ihre Streiche nicht mehr für harmlos hielt, sondern als Majestätsbeleidigung einstufte. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendein eifriger preußischer Beamter über die schwierigen Kölner Verhältnisse nach Berlin berichtete und Härte empfahl.

Doch die Kinder wiederholten nur das Gerede, das sie in den Gassen hörten. Es war eine Leidenschaft der Kölner, in den unteren Fenstern ihrer Häuser zu liegen und die Vorübergehenden in ein Gespräch zu verwickeln, in dem es um das Wohl und Weh – meistens das Weh – der Nachbarn ging: um das schlimme Auge, einen missratenen Sohn … und natürlich um die Preußen. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass das „Heilige Köln“, die Stadt der Heiligen Drei Könige im Jahr 1815 zur gemeinsten preußischen Provinz wurde, die von Koblenz und Düsseldorf aus verwaltet wurde? Die Kinder, die in den Gassen umherstreiften, hörten diese Worte und wiederholten sie. Es war Teil des großen Spiels, in dem sie lebten, so wie das Hungern ein Spiel war, das Arbeiten, das Kranksein, das Beten und Lernen – etwas, das man nicht hinterfragte. Die Kinder spielten nie Amtsstube, deswegen konnten sie nicht ermessen, welche Gefahr für sie daraus hervorging: Dort wurde entschieden, ob es nur ein Dummerjungenstreich war, wenn man Pferdeäpfel nach den Soldaten des Königs warf, oder ob es der Beginn eines Aufruhrs war.

Als Maria 1825 nach Köln gekommen war, hatten die Kinder Waterloo gespielt, denn in den zehn Jahren seit jener Schlacht war nicht mehr viel geschehen. Alle wollten bei den Franzosen sein, auch wenn sie die Schlacht verloren hatten. Aber ihre Väter waren eben die Soldaten des Kaisers gewesen, dessen Namen man hier immer noch mit Wohlgefallen nannte – oder eher: wieder mit Wohlgefallen nannte. Erst vor Kurzem hatte sie Boisserée sagen hören: „Was die Franzosen in zwanzig Jahren nicht geschafft haben, haben die Preußen in einem halben Jahr hingekriegt: dass wir die Franzosen gern zu haben gelernt haben!“

Maria überquerte die Cäcilienstraße. Eine der Frauen, die Maria in den letzten Wochen in ihrem Heim gepflegt hatte, war nun dorthin gebracht worden. Es gab nicht mehr viel zu tun für sie; die Entzündungen, die ihre Gelenke entstellt hatten, hatten nun auch die Organe befallen. Um diese Uhrzeit öffnete das Bürgerhospiz seine Tore für Besucher. Der Pförtner kannte sie, auch wenn sie keine staatlich bestellte und entlohnte Wartsnonne war, und grüßte freundlich: „Gott zum Gruße, Schwester Maria!“

Sie trug nicht die Tracht des Annunziaten-Ordens, dem sie einst angehört hatte, sondern ein einfaches braunes Wollkleid mit einer Schürze darüber. Das Haar hatte sie unter einem dunklen Schleier verborgen, den sie im Nacken zusammengebunden trug. Der Schleier hinderte sonst in der Arbeit mit den Kranken, wenn er in offene Wunden oder nässende Geschwüre fiel. Sie hatte sich für diese zweckmäßige Kleidung entschieden, als sie die Verwundeten der Schlachten gepflegt hatte.

Zweien davon war sie wieder begegnet, als sie vor vier Jahren nach Köln gekommen war: Gottfried, dem Vater von Markus, und Theodor. Zwei, denen sie das Leben gerettet hatte in einem Moment, der aus dem glühenden Sterben jenes Tages bei Waterloo herausragte wie ein Nagel, an dem sie sich immer wieder ritzte. Mitunter fragte sie sich, ob sie nicht deswegen nach Köln gekommen war – und nicht nur, weil es einen alten Domvikar zu pflegen gab. Diese beiden waren für sie wie eine Aufgabe, die sie noch nicht gelöst hatte, oder sogar wie ein Unheil, das sein Ende noch nicht erreicht hatte. Und nun, da Theodors jüngerer Bruder Johann offenbar schwer erkrankt war, wuchs in ihr die Befürchtung, dass das schlafende Unheil jener zurückliegenden Ereignisse wieder erwacht war.

2

Maria hob den Rock an, um sich hinter Johann auf das Bett zu knien. Die ausgebesserten Laken waren ebenso gelb wie das durchgeschwitzte Hemd, das der Kranke trug, und seine Haut, die zum Vorschein kam, als sie den Stoff hochschob.

Durch das Fenster über dem Bett fiel graues Licht: Der Winter war eingeschlafen, aber der Frühling hatte noch nicht die Kraft, die Welt wieder aufzuwecken. Maria holte das kleine Holzrohr hervor, das neuerdings von einem französischen Arzt für die Untersuchung der Lungen empfohlen wurde, und setzte es auf die blasse, blau geäderte Haut. Ein Film von Fieberschweiß lag darauf, die Rückenwirbel zeichneten sich ab. Sie forderte ihn auf, tief zu atmen, dann zu husten. Es wurde ein Anfall daraus. Dumpf dröhnte es in dem Rohr. Sie musste es absetzen, dann klopfte sie auf die Bereiche der Lunge, hörte den Widerhall, wie sie es schon Hunderte Male in ihrem Leben getan hatte.

Sie hatte gelernt, durch den Klang zu unterscheiden, ob sie es mit einer gesunden oder kranken Lunge zu tun hatte. Sie schloss die Augen, um dem Klang ein Bild zu geben. Sie sah die Illustrationen in den Büchern: die Lungen, sorgsam von einer Feder vor vielen Hundert Jahren gezeichnet und als Kupferstich gedruckt. Die Äste und die kleinen Beeren daran, Bronchus und Bronchiole.

„Und jetzt die Brust“, sagte sie und setzte das Rohr auf die Rippenbögen. Da waren kaum Haare, als wäre es Johann seiner Bestimmung als jüngster Bruder schuldig, auch ewig ein Knabe zu bleiben. Johann war gut zwanzig Jahre alt, das letzte Kind aus einer langen Kette von Geburten und Wiegentoden, schwächlich, wie die letzten Bemühungen seiner ausgelaugten Mutter.

Anna stand in der Tür, auf den Armen ein wimmerndes Kind. Sie war Johanns Frau und hegte doch eine Fürsorge für ihn wie eine Mutter oder eine ältere Schwester. Johann war eben jene Art von Mensch, die in den Augen aller immer ein Kind blieb.

Maria richtete sich wieder auf und beendete ihre Untersuchung mit einem Lächeln, um zu zeigen, dass die Sache nicht übermäßig ernst stand. „Es ist eine Lungenentzündung“, sagte sie. „Das lässt sich auskurieren. Du kannst wieder gesund werden.“ Nur wer sie sehr gut kannte, wusste, dass sie einen bewussten Unterschied machte zwischen „Du kannst wieder gesund werden“ und „Du wirst wieder gesund werden.“ Um Johann würden Leben und Tod noch viele Tage und Nächte kämpfen.

„Gegen die hitzigen Körpersäfte braucht es eine Quecksilbersalbe, auf die Lungen aufzutragen, Bilsenkrautextrakt löst den Schleim. Die katarrhalischen Krankheiten kommen aus der Überreiztheit, daher brauchst du viel Bettruhe.“ Mit Handgriffen, die keinen Widerstand duldeten, streckte sie Johann auf das Lager, zog eine Wolldecke über das Laken, drückte diese sehr eng an den ausgemergelten Körper des jungen Mannes und öffnete das Fenster. „Und saubere Luft muss in die Lungen.“ Das war jedoch in Köln nicht einfach. Unweit der Severinstraße lag das Gerbereiviertel; stinkende Abwasserbäche flossen durch die Hinterhöfe.

„Habt Ihr denn diese Salben bei Euch?“, fragte Anna, die sich stets der sehr formellen Anrede bediente, weil Maria eine Geborene von Martin war.

„Nein, es sind Arzneien, die zu vertreiben ich kein Recht habe. Du musst zu einem Apotheker gehen.“

„Dazu haben wir nicht das Geld.“

„Dann geh in die Apotheke im Bürgerhospiz.“ Maria vermied das Wort „Armenapotheke“.

„Dazu brauch ich einen Schein vom Arzt.“

„Ja, wenn es Johann besser gehen soll, musst du einen Arzt rufen.“

Anna nickte, aber Maria wusste, dass sie es nicht tun würde – einen Arzt ließ man nicht ins Haus. „Der luurt einem ne Stund hinten in dat Föttchen und sagt einem dann, dat man krank ist!“, spotteten viele. Aber hinter dem Spott steckte das Unbehagen mit der unergründlichen Kunst der Ärzte.

Das Kind auf Annas Arm begann zu schreien. „Was ist denn mit dem Weckelditzche?“, murmelte Johann mit einer fahrigen, vom Fieber gelenkten Bewegung.

„Nur das übliche Bauchweh …“

„Wir gehen hinunter“, sagte Maria. „Johann braucht Schlaf.“

„Es ist also eine Lungenentzündung? Nicht das Zehrfieber?“, vergewisserte sich Anna, während sie Maria die schmale Stiege hinunter folgte. Maria hielt sich bei jedem Schritt an dem Seil fest, das neben der Treppe gespannt war. In solchen Momenten konnte sie das nahe Alter spüren.

„Ich bin mir recht sicher, dass es nicht die Schwindsucht ist.“

„Es heißt ja nur … von der Schwindsucht bei den Männern …“ Durch das Weinen des Kindes konnte Maria nicht jedes Wort verstehen, aber vielleicht hatte Anna diesen Einblick in ihr Eheleben auch nur geflüstert. Trotz der ernsten Sorge musste Maria lächeln, als sie entgegnete: „Bis zu seiner Genesung ist aber vom Beischlaf abzusehen.“

Die Küche im unteren Stockwerk war der einzige weitere Raum in dem schmalen Haus, das sich wie viele Gebäude in Köln nur aufrecht halten konnte, weil es zwischen anderen eingepfercht war. Aus der Küche fiel Lichtschein, es war das Feuer in dem gusseisernen Herd. Der Ruß hatte immer wieder einen Weg aus dem Ofenrohr gefunden, sodass die Wand hinter dem Ofen geschwärzt war. Da an den Quer- und Tragbalken allerlei Küchengerät hing, hatte sich der Ruß ungleich verteilt. Ein überreizter Verstand hätte in dem willkürlichen Niederschlag des Rußes allerlei Fratzen und Gestalten erkennen können, Unheilsboten, die aus der Wand herauszutreten suchten. Der Schein des Feuers tat ein Übriges dazu, sie lebendig erscheinen zu lassen.

Maria schlug ein Kreuz – sie wusste aus ihren Jahren im Kloster, dass manche Gemüter für solche Schrecken empfänglich waren. Die Visionen und Eingebungen des Himmels und der Hölle waren nie ihre Sache gewesen. Durch die Arbeit in der Apotheke hatte sie gelernt, die Natur vorurteilsfrei zu betrachten. Die Gärung, die Salzbildung, das Verschwefeln waren in sich weder Hexenwerk noch Heilkunst, es waren Gesetze: Prozesse, deren Ablauf und deren Ergebnisse unter bestimmten Bedingungen immer die gleichen waren. In der Philosophie war es nur ein kleiner Schritt gewesen zu der Annahme, dass auch der Mensch als Teil der Natur nach solchen Gesetzen funktionierte. Sie hatte nie recht verstanden, warum man solchen Gedanken vorwarf, gottlos zu sein. In den letzten Jahren waren zahlreiche Systematiken der Pflanzenwelt erschienen. Diese ließen ohne Zweifel erkennen, dass allem in der Natur ein Gesetz zugrunde lag. Es ermutigte sie immer wieder: Mochte auch mit der Cholera etwa wieder eine neue Geißel über Europa gekommen sein – Gott bot für jede Gefährdung auch eine Rettung. Maria sah es als ihre Aufgabe an, unermüdlich danach zu suchen.

Als sie ihre Tasche auf den Tisch stellte, bemerkte sie in der dunkelsten Ecke der Küche eine Bewegung. Sie musste den Besucher nicht erkennen, um zu wissen, wer es war: Theodor saß dort, vor sich die Wiege mit dem älteren Kind. Er wirkte wie ein ausgedientes Möbel, von dem man sich aus sentimentalen Gründen nicht trennen mochte. Sie nickte ihm zu, konnte aber nicht sagen, ob er den Gruß erwiderte. Er ließ die kleine Wiege schaukeln, aber Maria war, als hätte man das Kind darin gegen einen Holzscheit austauschen können, ohne dass er es bemerkt hätte.

„Johann wird es bald besser gehen“, sagte sie und bekam auch darauf keine Antwort. Sein Schweigen schleuderte ihr entgegen: Keinem von uns wird es besser gehen. Ihr fiel es schwer, für die Melancholie dieses Mannes Verständnis aufzubringen. Er verbreitete ein schwarzes Fluidum, das sich über alles und jeden in seiner Umgebung legte und an dem sich jedes Licht brach. Maria drehte ihm den Rücken zu, schob das schmutzige Geschirr auf dem Tisch beiseite und öffnete ihre Tasche.

„Ich lasse dir Melissenwasser hier, das gibst du ihm dreimal am Tag in heißem Wasser zu trinken, es löst den Schleim. Außerdem tropfst du etwas auf warme Umschläge, die du ihm auf die Brust legst.“ Maria stellte die Phiole auf den Tisch. „Hier hast du schon eine Salbe, aber du musst dir beim Apotheker eine aus Quecksilber machen lassen.“

Anna nickte und wiegte das Kind in der Hüfte, dessen Weinen zu einem kleinen Sturm anwuchs.

„Falls sein Fieber aber steigt, musst du ihm kalte Umschläge machen – und du musst einen Arzt rufen!“

Anna schob sich die Haarsträhnen unter die weiße Haube und nickte, wie man nickte, wenn man sich etwas anhören musste, während man sich eine ganz andere Frage stellte.

„Eine gute Hühnerbrühe lässt ihn schnell wieder zu Kräften kommen.“

„Ich habe das da“, sagte Anna und deutete auf einen Steinguttopf. Darin lag ein Stück Hammel, das vom vielen Auskochen ganz grau geworden war. Was Anna noch sagte, verlor sich im Geschrei des Kindes. Nun kam Bewegung in Theodor. Er nahm ihr das Kind aus dem Arm. Sobald es in die stille Welt dieses Mannes eingetreten war, beruhigte es sich.

„Soll ich nicht ein Wachsbild stiften? So steht es im Christoffelsbüchlein!“, sagte Anna endlich. „Welches wär denn eine Fürbitte für eine gesunde Lunge?“

Auch wenn das Christoffelsbüchlein von der Frömmigkeit der einfachen Leute zeugte und ihnen für die Nöte des Alltags Rat und Trost gab, so wusste Maria doch, dass man sich in diesem Haus ein Wachsbild vom Munde hätte absparen müssen. Also sagte sie: „Eine Kerze ist das Rechte. Hol dir eine geweihte in St. Severin; eine Flamme nimmt ihre Kraft aus der Luft und gibt sie dahin zurück. Du brennst sie in eurer Stube ab und betest dabei am Morgen und am Abend den Rosenkranz.“

Anna nickte verstehend. Man hörte Schritte über den kleinen Flur und Gottfried trat in die Küche, den Hut in der Hand.

„Du kommst gerade recht“, sagte Theodor. „Wir werden eben über den Rosenkranz belehrt von einer Nonne, die alle ihre Gelübde gebrochen hat.“

„Ich habe keines meiner Gelübde gebrochen!“, antwortete Maria gereizt. Sie fing Gottfrieds Blick auf, der sagte: Lass dich von ihm nicht herausfordern! Maria griff in die Tasche und legte zwei Münzen auf den Tisch. „Da, Anna, das ist für das Huhn und für den Apotheker.“ Als Anna sich fragend zu Theodor umsah, nahm Maria das Geld und drückte es ihr in die Hand.

„Wie geht es Johann?“, wollte Gottfried wissen.

Es gab keine Blutsbande, die ihn in diesen Haushalt führten. Er war Theodors Stimme, er war das, was Theodor von der Welt geblieben war. Sie beide waren in den Krieg gezogen, aber nur Gottfried war zurückgekehrt. Und Maria wusste, dass er sich für Theodor verantwortlich fühlte. Die Zeit des Krieges hatte sie wie mit Eisenketten aneinandergeschmiedet. Wenn der Krieg auch vorüber war, diese Ketten konnte kein Friedensschluss von ihnen lösen – und es schien Maria, dass die beiden das auch gar nicht wollten.

„Er wird wieder gesund“, sagte Maria zu Gottfried und schloss ihre Tasche. „Aber um das Wohl deines Sohnes mache ich mir ebensolche Sorgen: Ich erwischte ihn heute dabei, wie er mit Pferdedreck nach den Preußen warf!“ Wie nicht anders zu erwarten, lachten die beiden Männer leise. „Und wäre ich nicht dazwischengegangen, hätten sie den Markus festgehalten. – Wenn es dich auch amüsiert, du solltest ihn zurechtweisen, denn sonst werden seine Streiche toller!“

„Natürlich werde ich ihn bestrafen“, sagte Gottfried und sein belustigter Tonfall ließ einen Schluss auf die Art der Strafe zu.

„Wahrscheinlich muss er eine Stunde lang Zuckerwerk essen“, versetzte Maria und gab sich an der Tasche beschäftigt, damit sie ihr Lächeln verbergen konnte. Es gelang ihr einfach nicht, Gottfried etwas übel zu nehmen, nicht einmal seine Loyalität zu Theodor. Dennoch sagte sie: „Ob es dir nun gefällt oder nicht: Markus wird als preußischer Bürger leben müssen. Und es ist deine Aufgabe, ihn dazu anzuhalten!“

„Du solltest auf sie hören“, sagte Theodor, seinen kleinen Neffen liebkosend. „Bei dem Lebensweg, den sie gewählt hat, versteht sie gewiss mehr als wir vom Wesen der Kinder.“

„Ob ich genug vom Wesen der Kinder verstehe, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass die Preußen die Schmähung ihrer Soldaten nicht dulden, denn ich verstehe etwas vom Wesen der Preußen!“

„Ja, deswegen hat sie auch eine Tasche voller Geld und wir sind arm.“

Maria verstand sehr wohl, dass sich dies auf die jährliche Zuwendung bezog, die sie vom preußischen König erhielt.

„Die Leute hier waren schon immer arm, aber seit einigen Jahren sind sie auch noch verstockt!“

„Das liegt daran, dass man mit dem Stock nach uns schlägt.“

Nun kam Gottfried ihrer Erwiderung zuvor: „Schwester Maria, in Johanns Namen darf ich Ihnen dafür danken, dass Sie sich um ihn sorgen!“ Er legte die Hand an ihren Ellenbogen.

Sie begriff, dass sie sich von Theodor in törichter Weise hatte aufstacheln lassen. „Ich werde bald wieder nach euch sehen“, versprach sie.

Anna verabschiedete sie mit einem Knicks.

„Du darfst es ihm nicht übel nehmen“, sagte Gottfried, der ihr bis zur Tür folgte. „Johann ist alles, was er noch hat …“

„Warum beschimpft er mich deswegen?“ Sie fasste die Tasche, als sollte sie ihr zum Schild dienen. „Was macht er mir zum Vorwurf? Dass ich ihn damals gerettet habe?“

„Dass du ihn dazu in die Uniform eines Preußen gesteckt hast.“

„Sie hätten euch sonst hingerichtet! Ihr wart zu den Franzosen übergelaufen!“

„An die Revolution band uns der ältere Schwur, aber ich beschwere mich ja auch gar nicht – Gott sei es geklagt, ich beschwere mich nicht.“

„Wollte er lieber sterben? Ich verstehe ihn nicht! Käme der König von Preußen mit einer Truhe voll Gold zu ihm, er würde eher alle in diesem Haus Hungers sterben lassen, als es anzunehmen! Ich verstehe ihn nicht. Es ist Sünde, sich dem Leben so zu verweigern!“

„Wenn er sich dem Leben verweigern würde, wäre er in den Rhein gegangen. Aber weil das Sünde ist, quält er sich tagaus, tagein zum Lobe Gottes …“

Sie runzelte die Stirn. „Und dein Spott ist nicht minder Sünde!“

„Aber es ist keine Sünde, dass du Theodor sein Unglück zum Vorwurf machst? Lass ihn, er tut niemandem etwas zuleide.“

Maria sah Gottfried ins Gesicht. „Bist du dir da sicher?“

Auch Gottfried hatte die vierzig lange überschritten, und Falten hatten sich um seine Mundwinkel und seine Augen eingegraben. Die Falten eines Spötters, aber Maria wusste: Er hatte ein warmes Herz, das lieber über die Welt lächelte, als über sie zu Gericht zu sitzen und dabei zu verbittern.

Er wich ihrem Blick aus und schaute zur Severinstraße hinaus. Hühner scharrten dort zwischen den Füßen der Passanten und den Rädern der Fuhrwerke. Frauen mit kräftigen, rosigen Armen trugen Körbe und diejenigen, die in gutes Tuch gekleidet waren, blieben vor den Auslagen der Läden stehen. Über allem lag der Duft der Garnisonsbäckerei. Die Straße davor war mit einem weißen Flor bedeckt, denn täglich wurden dort Karren mit Mehl entladen und Wagen mit Brot beladen.

Maria wusste, dass sie über Theodor nie zu einem Einvernehmen finden würden. Außerdem gab es wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern musste. Tatsächlich hatte sie Gottfried heute noch in seiner Buchhandlung aufsuchen wollen. So war er ihr zuvorgekommen.

„Du musst mir ein paar Bücher beschaffen.“ Sie zog einen Zettel aus der Ledertasche hervor. „Warum lächelst du jetzt?“

„Weil du nie fragst oder bittest. Du kannst es nicht verleugnen, dass dein Vater ein Offizier war.“

„Es ist nicht erst Ignatius von Loyola aufgefallen, dass der fromme Dienst am Nächsten von der militärischen Disziplin profitiert“, erwiderte sie. Ihr Vater, der Offizier! Er war ihr immer Vorbild und Bürde zugleich gewesen. Das Leben in dem Orden, in den sie mit sechzehn Jahren eingetreten war, unterschied sich in der Strenge der Regeln nicht vom Militärdienst, den ihr Vater für verschiedene Herren geleistet hatte. Aber wenn die Armeen ihr Zerstörungswerk begannen, begann sie zu retten – als müsste sie vor Gott einen Ausgleich leisten für das Tun ihres Vaters.

„Und welchen frommen Dienst will Schwester Maria nun am Nächsten tun?“, fragte Gottfried und nahm die Liste.

„Ich will mehr aus dem Melissenwasser machen“, sagte sie.

„Warum ‚mehr‘?“

„Weil Gott, der Herr, nun einmal will, dass wir mehr aus dem machen, was er uns anvertraut hat. Man darf seine Talente nicht vergraben!“ Auch das hatte sie in einem spaßhaften Tonfall gesagt. Doch es war ihr ernst damit, mehr noch: ein Bedürfnis. Darum zog es sie immer wieder in ihr kleines Laboratorium. Und dabei entstanden nicht nur Heiltränke. Ein Schnupfpulver und Duftwässer vertrieb sie ebenso in ihrem kleinen Geschäft auf der Litsch – und nun wollte sie dieses Geschäft vergrößern. „Das Rezept für den Melissengeist ist viele Hundert Jahre alt“, fuhr sie fort. „Aber in den letzten Jahren haben wir so vieles über die Grundelemente erfahren. Ich will sehen, wie ich das Carmeliter-Wasser verbessern kann.“

Gottfried sah auf die Liste. „Verbessern? Mit einer Prise Ketzerei?“

„Zunächst einmal durch einen besonders reinen Spiritus. Ein Destillat ist immer nur so gut wie sein Branntwein, verstehst du?“

Gottfried ließ es sich nicht anmerken, aber er verstand nicht. Maria wusste, dass Männer nicht gerne belehrt wurden. Aber es hätte schon viele Leben gekostet, wenn sie darauf Rücksicht genommen hätte, daher sagte sie: „Der Spiritus ist in der Destillation wie eine Kutsche, ein Reisegefährt. Die Passagiere können noch so sauber gekleidet einsteigen, wenn sie in einem schmutzigen Wagen reisen, sind sie am Ende verdreckt. Ich brauche also einen besonders reinen Branntwein, um die Wirkstoffe der Pflanzen in bester Weise aufzubereiten. Deswegen muss ich selber destillieren.“

„Das wird dir wenig Freunde machen unter den Branntweinbrennern und den Eau-de-Cologne-Fabrikanten.“

„Es hat Gott, dem Herrn, gefallen, mich vor Revolutionen und der Soldateska zu beschützen, da wird er mir gegen die Kölner Unternehmer seine Hilfe kaum versagen.“ Sie zeigte auf das Papier. „Kannst du mir diese Bücher besorgen? Ich brauche alles bis zum Sommer, im Juli steht die Melissenernte an.“

„Burbachs System der Arzneimittellehre – das dürfte kein Problem sein; Magendie? Vorschriften zur Bereitung und Anwendung einiger Arzneimittel …“

„Es darf auch das französische Original sein.“

„Und einen streunenden Hund gleich dazu?“ – Magendie hatte dadurch von sich reden gemacht, dass er die isolierten Wirkstoffe an Hunden erprobte, für die das nicht selten einen qualvollen Tod bedeutete.

„Ich will sein Wissen, nicht seine Methoden“, erwiderte Maria knapp.

„Du hast einen Weg gefunden, das zu trennen?“

„Ja, ich kann in meinem Kopf destillieren.“ Maria tippte sich daran.

Gottfried sah wieder auf den Zettel, und dann mit gespieltem Tadel zu ihr: „La Mettrie? Verehrte Schwester Melisse, dieses Buch fällt auf dem Gebiet der Heiligen Allianz“, er deutete mit der freien Hand nach oben, „unter die Zensur! Ein Arzt, der den Menschen als Maschine beschreibt, die mit der Dampfmaschine mehr gemein hat als mit Gottes Krone der Schöpfung!“

„Deswegen sollst du es mir ja auch besorgen“, entgegnete Maria mit zugespitztem Lächeln.

„Nun, dann wird es ein wenig dauern. Ich muss auf einen vertrauenswürdigen Holländer warten.“ Es gab etwa ein halbes Dutzend Flussschiffer, die für Gottfried verbotene Schriften aus Amsterdam beschafften. Dort holte man sie meist aus England, denn in diesem Land hatte man eine Schwäche für verfemte Franzosen.

Maria griff noch einmal in ihre Tasche und gab ihm fünf Taler in die Hand. „Mehr habe ich nicht bei mir, aber als Wegegeld für deinen Holländer müsste es reichen.“

„Mehr als das. Ich werde dir die Bücher in dein Geschäft auf der Litsch …“

„Nein, bring es in den Domhof Nummer 19, dort werde ich meine eigene Destillerie einrichten und auch verkaufen.“

„Im Haus des verstorbenen Domvikars?“

„Ja, ich habe ihn jahrelang gepflegt, und vor seinem Tode hat er sich noch beim Bischof darum verwendet, dass ich es kaufen kann.“

„In was für Zeiten wir nur leben!“, sagte Gottfried scherzhaft. „Da kauft eine säkularisierte Nonne mit dem Geld des Königs von Preußen dem Erzbischof ein Haus am Dom ab, um dort La Mettrie zu lesen!“

„Ist alles Napoleons Schuld. Da siehst du, dass er doch ein Schlimmer war!“ Maria wusste um Gottfrieds Anhänglichkeit an den gestürzten und verstorbenen Kaiser von Frankreich und schloss daher ihre Worte mit einem kleinen Augenzwinkern.

Was die Bücher betraf, konnte sie nun einen Haken auf ihre innere Liste machen. „Anzeigen“ – das war das Nächste, was es zu erledigen gab. Die neuen Texte hatte sie in den vergangenen Tagen öfter im Kopf bewegt als das Stundengebet.

„Gib nur weiter gut auf dich und die Deinen acht“, sagte sie etwas fahrig zum Abschied. Was sie damit meinte, war: Halte dich von Theodor fern! Dann fasste sie die Tasche enger und schlug den Weg in Richtung Dom ein. Gottfried sah ihr nach, bis sie hinter den Karren, Reitern und Fußgängern verschwunden war, dabei wog er die Münzen in seiner Hand und dachte: Wenn das alte Mädchen sich da mal nicht Ärger einhandelt!

Er kehrte in die Küche zurück, wo Theodor seinen Neffen auf einem Knie sitzen hatte. Er hielt ihn an den Ärmchen fest und ließ ihn dabei nach hinten fallen: „Dann macht der Reiter plumps!“ Der Kleine strampelte mit den Beinen und lachte.

„Du darfst es der Maria nicht übel nehmen“, begann Gottfried und legte seinen Hut ab. „Sie meint es nur gut.“

„Das sind die Schlimmsten!“, gab er zurück, ohne aufzusehen.

„Ich sollte von dem Geld doch ein Wachsbild machen lassen“, sagte Anna, die immer noch die Münzen betrachtete. „Aber was für eins? Vom Sankt Blasius vielleicht?“

„Kauf das Huhn, wie Maria es gesagt hat“, meinte Gottfried.

„Dann lass ich aber eins ganz frisch schlachten! So haben wir auch die Federn und können für die Kleinen ein Kissen damit füllen!“ Sie legte ihre Schürze ab, öffnete die Truhe, nahm eine weiß gestärkte Haube hervor und ein schlichtes Ohreisen, das sie jedoch wieder fortlegte. Dann griff sie zu einem anderen, das mit geschliffenem Buntglas besetzt war und das sie sonst nur an Sonntagen trug.

„Gebt mir auf die Kinder acht!“ Mit unternehmungslustigen Schritten verließ sie das Haus.

„Die Anna!“, kommentierte Theodor diesen Abgang. „Die kommt uns noch mit einem Huhn aus Marzipan zurück.“

Anna hatte, das wusste jeder im Schatten von St. Severin, eine Schwäche fürs Geldausgeben – vor allem für Zuckerzeug, und deswegen hatte sie auch den Beinamen „Et Zückersche“. Ihr Mann Johann verdingte sich als Maurergehilfe, dadurch kam nicht viel herein. Theodor war immerhin Maurergeselle, aber seit Wiedereinführung der Zünfte hatte er sich nicht mehr um einen Meister bemüht. Er hatte nie geheiratet und war von der Familie seines Bruders Johann aufgenommen worden. Er gab vieles von seinem Verdienst an sie ab. Sein Schlaflager war in der Küche, mehr Platz gab es nicht.

Theodor bettete seinen Neffen neben seinen schlafenden Bruder in die Wiege. „Da können jetzt nur zwei Dinge geschehen: Der eine weckt den anderen auf, oder …“ Aber das unausgesprochene Letztere schien einzutreten: Nach der Kolik und dem kleinen Spiel war der Junge müde, schmiegte sich an seinen Bruder und schlief ein.

Gottfried zog sich einen Schemel heran. „Hast du gelesen, was heute in der Kölnischen Zeitung stand?“

Theodor beantwortete die Frage nur mit einem Murren: Seit die Zeitung unter der preußischen Zensur stand, verweigerte sich Theodor ihren Nachrichten von den Segnungen der neuen Herrschaft.

Gottfried griff in seine Westentasche und zog eine gefaltete Seite hervor. Er öffnete das Blatt, legte es auf den Tisch und tippte auf eine Anzeige. Theodor warf einen Blick darauf, tief gebeugt, weil es wenig Licht gab. „Ein Wunderkind?“

„Lies weiter.“

Herr Louis zeigt dem hiesigen und auswärtigem Publikum ergebenst an, dass seine kleine Tochter, die mit einem außerordentlichen Naturwunder versehen ist, seit dem Tage dieser Anzeige in der Stadt weilt. Er ladet daher diejenigen verehrlichen Personen ein, welche dieses Wunderkind zu sehen wünschen, ihn mit ihrem Besuche zu beehren und sich daselbst davon zu überzeugen, dass in den Augen des Mädchens …“ Theodor las stumm weiter und sah auf.

„Ich denke, das ist die Nachricht, auf die wir so lange gewartet haben. Wir sollten Herrn Louis aufsuchen“, meinte Gottfried.

„Ja. Aber warum in der Zeitung? Da lesen es auch die Preußen!“

„Die geschickteste Verschwörung ist doch die, die nicht heimlich ist“, antwortete Gottfried. „Und unser Vorteil ist, dass die Preußen glauben, wir hätten es aufgegeben und unsere Sache taugte nur noch für Jahrmarktsattraktionen.“

„Da werden wir sie bald eines Besseren belehren!“

3

Vom Neumarkt her klang das Rufen der Befehle. Es wurde exerziert, wie beinahe an jedem Tag. Daraus sollten nicht nur die Soldaten etwas lernen, sondern auch das Volk, das an diesem größten Platz vorüberkam. Der Gleichschritt war der neue Herzschlag der Stadt. Sie beherbergte nicht einfach eine Garnison – die stetig zunehmende Zahl von Kasernen und Festungswerken hielt sich vielmehr eine Stadt. Man legte ihr ein Geschirr an, jeden Tag wurden die Riemen enger gezogen und ein Eisenteil angefügt.

Eines Tages würde man das Geschirr in einen Wagen hängen, und in diesem Wagen saß der Krieg. Vielleicht war es ein Krieg gegen Österreich, wahrscheinlicher war es ein Krieg gegen Frankreich. Gewiss war es auch ein Krieg gegen einen anderen deutschen Staat: Hessen lag recht störend zwischen dem preußischen Stammland im Ostelbischen und der neuen Provinz am Rhein. Man musste die Rheinländer also dazu bringen, sich nach einer Vereinigung mit dem großen Preußen zu sehnen, und schon würden sie den Wagen willig ziehen. Daher begann und endete das Exerzieren immer mit Musik. Dann blieben die Kölner mit fröhlichen Gesichtern stehen, und die Kinder folgten den Kapellen, bis diese in den Kasernen verschwunden waren.