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Ursula Schröder

Wer rechnet schon

mit Liebe

Roman

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© 2014 Brunnen Verlag Gießen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

1

An diesem Morgen war Jenny die Erste im Büro. So konnte sie in aller Ruhe vier Klebestreifen vom Spender reißen und ihr neues Bild an die Tür des Aktenschranks hinter ihrem Schreibtisch kleben. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk, bevor sie den Computer einschaltete.

Das Gemälde selbst war alles andere als großartig. In der linken unteren Ecke befand sich eine etwas lieblos gemalte Figur mit zwei sehr unterschiedlich großen Füßen, darüber etwa ein Dutzend m-förmiger Vögel in allen Farben, die das Filzschreiberetui hergegeben hatte. Selbst wenn man wusste, dass es von einem fünfjährigen Mädchen stammte, löste das Bild keine Stürme der Anerkennung aus. Aber sie hatte es auch nicht wegen seines künstlerischen Wertes aufgehängt, sondern wegen der Signatur, denn in der rechten Ecke prangte die Widmung: „Von Melina für Jenny“, groß und deutlich lesbar. Und das machte es zur Trophäe.

Natürlich bemerkte Susi das Bild sofort, als sie kurze Zeit später an ihren Arbeitsplatz stürmte. „Hallo! Was haben wir denn da? Ein Überraschungsangriff gegen die liebe Meike?“

„Man tut, was man kann“, sagte Jenny. Ihr Tonfall verriet eine gewisse Zufriedenheit.

Susi kannte sie gut genug, um zu wissen, wie ihr Meike auf die Nerven ging. Vor vierzehn Tagen war sie mit Simon Ortega auf Geschäftsreise gewesen, ein seltenes Ereignis für eine Buchhalterin, und seitdem nutzte sie jede Gelegenheit, um das allen unter die Nase zu reiben. Anfangs hatte sie ihr Ziel noch erreicht und die restlichen Ortega-Fans im Büro angemessen neidisch gemacht. Aber inzwischen führten Bemerkungen, die mit dem Halbsatz „Als ich mit Simon in Schweinfurt war …“ eingeleitet wurden, nur zu ungeduldigem Augenrollen und bissigen Repliken.

„Und die kleine Melina hat für die liebe Tante Jenny tatsächlich ein Bild gemalt?“, fuhr Susi fort, während sie sich das Objekt näher ansah.

„So sieht’s aus“, sagte Jenny. Immerhin hatte sie extra einen Zeichenblock und eine neue Packung Filzstifte mitgenommen, um das möglich zu machen. Und brav, wie das Kind nun mal war, hatte es seine Pflicht (einschließlich Kopieren der vorgemalten Widmung) innerhalb von fünf Minuten erfüllt, damit es anschließend wieder machen durfte, was es wollte.

„Hat denn das Babysitten bei deinem Chef sonst noch irgendwelche Vorteile mit sich gebracht?“, fragte Susi weiter. „Zum Beispiel einen Hinweis darauf, wer von euch beiden den Finanzbuchhalterlehrgang machen darf?“

Jenny schüttelte den Kopf. „Erstens ist das noch gar nicht offiziell“, sagte sie. „Und zweitens denke ich, man sollte doch Privates und Geschäftliches auseinanderhalten.“

„Quatsch“, erwiderte Susi unbeeindruckt. „Erstens weiß die ganze Firma, dass Herr Grumsiepen krank ist und in absehbarer Zeit in den Ruhestand geht und deshalb ein Nachfolger gebraucht wird. Und zweitens wird Meike auf keinen Fall solche Skrupel haben. Wenn die sich bei Simon Ortega einschleimen kann, wird sie’s auch tun.“ Ihr war klar, dass nicht zuletzt deshalb diese außergewöhnliche Dienstreise nach Schweinfurt immer wieder Thema war. Da hatte Meike gegenüber ihrer Kollegin Jenny eindeutig die Nase vorn gehabt – und das schmerzte Jenny mehr, als sie zugeben wollte.

Jenny atmete tief durch und sagte so gelassen wie möglich: „Hier geht es nicht ums Einschleimen. Ich hoffe einfach, dass die Geschäftsleitung die fähigste Person auswählt.“

„Und gib’s zu, das bist du!“ Susi grinste. „Du hast es total drauf, das weiß jeder. Nur weil Meike mal ein paar Semester BWL studiert hat, ist sie deshalb nicht die Königin der Finanzbuchhaltung.“

„Meike ist ziemlich gut. Deshalb hat Simon sie schließlich zu dieser kniffligen Prüfung mitgenommen. Vielleicht denkt er, dass sie so was besser kann als ich.“

„Deshalb musst du ihn vom Gegenteil überzeugen“, sagte Susi. „Oder erlaubt dir dein Glaube nicht, dich für so was ins Zeug zu legen?“

Jenny seufzte. Musste Susi bei jeder Gelegenheit damit anfangen? Sie mochte ihre Kollegin wirklich sehr, aber ihr dauerndes Herumsticheln an ihrer Überzeugung konnte auch dem friedfertigsten Menschen auf die Nerven gehen. Wenn sie wenigstens noch interessante Gespräche miteinander führen könnten … Aber nein, Susi wurde immer gleich sarkastisch und unsachlich, wenn es um solche Themen ging. „Das hat mit meinem Glauben nichts zu tun“, erklärte sie.

„Ach nein? Ich dachte, ihr habt da so Grundsätze wie ‚immer den untersten Weg gehen‘ und ‚freiwillig verzichten‘ und so was. Dazu passt es natürlich nicht, wenn sich jemand für eine Beförderung bewirbt.“

„Da geht es eher um vermeidbare Konflikte und nicht um Bilanzbuchhalterlehrgänge, weißt du. Wenn du mal bereit wärest, dich ernsthaft mit biblischen Texten zu beschäftigen, dann wüsstest du das.“

„Nicht nötig“, sagte Susi rasch und wandte sich ihrem PC-Bildschirm zu. „Ich hab im Konfi-Unterricht für mein Leben genug gehört von dem Gesülze. Eigentlich staune ich immer wieder, dass ich es mit dir in einem Raum aushalte, obwohl du zu diesen Harfensängern gehörst.“

Gegen neun kam tatsächlich Meike vorbei, um sich Geld für die Kaffeekasse wechseln zu lassen. „Ich hab einen Kopf wie ein Hammerwerk“, teilte sie ihren Kolleginnen mit, „aber ich musste unbedingt heute zur Arbeit kommen, um für Simon diese Geschichte für EMT fertigzumachen.“

„Ach, schreibst du auch Geschichten?“, fragte Susi sarkastisch.

„Ich meine doch die Kontenprüfung!“, sagte Meike, den Unterton ignorierend. „Das ist vielleicht eine komplizierte Angelegenheit! Vielleicht hab ich daher meine Kopfschmerzen. Man sagt ja nicht umsonst, dass sich jemand den Kopf zerbricht. Solche Sprichwörter haben alle einen tieferen Sinn.“

„Apropos umsonst: Ich hab kein Kleingeld“, bemerkte Susi, die sich vorgenommen hatte, grundsätzlich nicht auf Meikes Themen einzugehen.

Jenny streckte die Hand aus. „Hier, ich kann wechseln.“

„Oh, gut!“, sagte Meike und bemerkte in diesem Moment das Kinderbild. „Nanu. Ist das neu?“

„Nein, das hab ich gemalt, als du mit Simon in Schweinfurt warst“, sagte Susi.

Meike nahm diese Unverschämtheit nicht wirklich wahr, weil sie gerade die krakelige Signatur der Künstlerin studierte. „Melina? Etwa Simons Tochter? Wie kommst du denn an ein Bild von der?“

Das war natürlich genau die Vorlage, auf die Jenny gewartet hatte. „Ich habe gestern Abend auf sie aufgepasst“, erklärte sie liebenswürdig. „Damit Simon und Marion mal allein essen gehen konnten.“

„Ach ja?“, fragte Meike etwas säuerlich, weil ihr natürlich sofort klar war, dass sie mit dieser Entwicklung die Poleposition im Ortega-Fanklub verloren hatte. Sie konzentrierte sich auf das Bild. „Ach ja, die Melina … Sie ist so ein nettes Kind, findest du nicht auch? Und dass sie dir ein Bild gemalt hat … Wirklich schön, nicht? Diese Farben!“

„Möchtest du es haben?“, bot Jenny ihr spontan an. „Ich schenk es dir.“ Immerhin brauchte sie es von diesem Augenblick an nicht mehr.

Susi machte ein merkwürdiges Geräusch hinter ihrem Bildschirm.

Meike starrte Jenny für eine Sekunde an und schüttelte dann den Kopf. „O nein, das hat sie für dich gemalt. Das geht doch nicht.“

„Ich dachte nur, wenn es dir so gut gefällt“, sagte Jenny unschuldig und zupfte den Fünfeuroschein aus Meikes Hand, um endlich die finanzielle Transaktion zu Ende zu bringen und ihr stattdessen ihr gesammeltes Kleingeld zu übergeben.

„Nein, nein, lass mal“, sagte Meike und zog sich eilig zurück. „Dann geh ich mir jetzt meinen Kaffee holen.“

„Tu das“, sagte Susi vergnügt und grinste der sich schließenden Tür hinterher. Dann wandte sie sich wieder ihrer Kollegin zu. „Manchmal überraschst du mich.“

„Sei froh“, sagte Jenny. Sie wandte sich zum Schrank, löste das Foto vorsichtig an den vier Klebestreifenecken und legte es in ihre Schublade – es hatte seinen Zweck erfüllt. „Wie langweilig wäre dein Leben doch sonst.“

„Allerdings.“

Bevor Daniel sich auf den Weg in die Weinhandlung machte, rief er kurz bei seinem Bruder an. „Wie ist es gelaufen?“, fragte er ohne Umschweife.

Schon als Simon seufzte und sagte: „Warte, ich mache eben meine Bürotür zu“, wusste Daniel, dass es nicht gut gelaufen war.

„Ihr wart doch essen gestern, oder hat das etwa nicht geklappt?“

„Wir waren im ‚Toscana‘ “, sagte Simon. „Und das war ein Fehler, weil der Laden einfach nichts taugt. Die Weinkarte ist eine Katastrophe, und das Vitello Tonnato war zäh wie Leder, das mussten wir zurückgehen lassen. Da hatte Marion natürlich von vornherein schlechte Laune. Wir sind überhaupt nicht weitergekommen.“

„Scheiße“, sagte Daniel aus tiefstem Herzen. „Ihr habt also immer noch Stress?“

„Ich verstehe es nicht“, gestand Simon. „Aber das Gespräch von gestern hat nicht unbedingt dazu beigetragen, die Probleme zu klären. So langsam weiß ich nicht mehr, was ich noch tun soll.“

„Vielleicht solltet ihr mal ein Wochenende zusammen wegfahren“, schlug Daniel vor. „Ihr braucht Zeit für euch allein. So was muss sich doch regeln lassen.“

„Tja, ich weiß nicht“, sagte Simon noch einmal. „Wenn da ein anderer Mann wäre, dann wüsste ich wenigstens, woran ich bin. Aber sie sagt immer nur, dass es um ihre Freiheit geht und wie ich sie einschränke und dass ich mich ändern muss und – verflixt noch mal – ich weiß nicht, was sie genau damit meint.“

„Ich sehe das ganz anders“, sagte Daniel. „Gegen einen anderen Mann hättest du keine Chance. Da ist einfach der Kick noch neu und das Herzklopfen und all das. Während sie dir so die Gelegenheit gibt, daran zu arbeiten.“

„Und was soll ich machen?“

„Na, dich verändern“, sagte Daniel so sachlich, wie er konnte. Tatsächlich fühlte er eine leise Panik in sich aufsteigen. Was wäre, wenn Marion ernst machte und ihren Mann verließ? Wenn Simon wirklich nicht kapieren konnte, was sie an ihm so unerträglich fand? Eine weitere kaputte Ehe und ein kleines Mädchen, das das alles nicht verstehen würde und trotzdem davon betroffen wäre.

„Toller Tipp“, stieß Simon verächtlich hervor. „Aber er kommt ja auch von einem, der sich mit Frauen super auskennt … und trotzdem nicht in einer festen Beziehung lebt.“

„Du kannst dir deinen Sarkasmus sparen“, sagte Daniel und atmete tief durch. Er hatte ja vorher schon geahnt, dass er für dieses Gespräch mit seinem Bruder Geduld brauchen würde. „Hör zu, ich mach dir ein Angebot. Du buchst fürs Wochenende ein schickes Hotel, besorgst Karten für ein Konzert oder eins von diesen Musicals und nimmst dir mit ihr eine total romantische Auszeit. Und ich kümmere mich um Melina.“

Simon schwieg einen Moment, um darüber nachzudenken. „Das ist nett von dir, Daniel. Aber kriegst du das mit dem Geschäft hin? Du kannst sie nicht mit in den Laden nehmen.“

„Das Problem ist der Samstagmorgen, da ist immer viel los. Vielleicht könnte Mutter …“

„Auf keinen Fall!“, unterbrach ihn Simon. „Ich will nicht, dass sie was davon erfährt. Dann frage ich lieber noch mal Jenny, mit der hat es gestern wirklich gut geklappt.“

„Von mir aus“, sagte Daniel erleichtert. Hauptsache, Simon machte noch einen Versuch. „Frag Jenny. Wer immer das ist.“

Nachdem er das Gespräch mit seinem Bruder beendet hatte, blieb Simon noch eine Weile reglos sitzen und starrte auf seinen Schreibtisch. Wie immer befand sich dort nur das Notwendigste: das Telefon, der Computer, ein Designerbehältnis mit seinen Schreibgeräten und das Foto seiner Familie in einem klassischen silbernen Bilderrahmen.

Auf dem Foto trug Marion die Haare noch hochgesteckt, das mochte er besonders gern. Inzwischen hatte sie leider eine kürzere Frisur, sodass es nicht mehr ging, aber sie war auf jeden Fall eine gut aussehende Frau, ob sie nun zu Hause in Jeans und flachen Schuhen herumlief oder wie gestern Abend mit Pumps und Kostüm. Aber in letzter Zeit war es schwierig geworden zwischen ihnen. Und dagegen musste er etwas tun.

Er zog einen Aktenordner aus dem Regal und machte sich auf den Weg in die Konstruktion, mit einem Abstecher in die Kreditorenbuchhaltung, um herauszufinden, wie Jenny ihr Wochenende geplant hatte.

Während er noch überlegte, wie er um die neugierige Anteilnahme ihrer Kollegin Susi herumkommen könnte, kam ihm Jenny entgegen. Die Macht war mit ihm! „Bist du in Eile oder könntest du auf einen Sprung mit in mein Büro kommen?“, fragte er.

„Kein Problem“, sagte sie, wie immer mit dem netten Lächeln, das ihm von Anfang an bei ihr aufgefallen war. „Worum geht’s denn?“

Er hielt ihr die Tür auf und schloss sie sorgfältig hinter ihr, bevor er antwortete. „Wieder mal was Privates. Setz dich doch.“

Er nahm ihr gegenüber auf seinem Sessel Platz und musterte sie: ihre kurzen, meistens leicht verstrubbelten blonden Haare, die sie aussehen ließen, als käme sie gerade von einem Waldlauf. Ihre strahlend blauen Augen in einem eher jungenhaften Gesicht, das zu ihrem knochigen Körperbau passte. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie früher Leistungssportlerin gewesen wäre, aber als er einmal danach gefragt hatte, hatte sie lachend den Kopf geschüttelt.

Zurück zum Thema, mahnte er sich selbst. „Ich wollte mich noch mal für gestern bedanken“, begann er. Sein Blick fiel auf den Aktenordner, der auf der Schreibtischplatte nichts zu suchen hatte. Er erhob sich kurz, um ihn ins Regal zurückzustellen.

„Keine Ursache“, wehrte Jenny ab. „Du kannst mich ruhig wieder anfragen, wenn Not am Mann ist.“

„Genau darum geht es“, sagte er verlegen. „Weißt du, es kommt mir schon so vor wie in dem Spruch mit dem kleinen Finger und dem ganzen Arm, aber …“

„Simon.“ Jenny schüttelte freundlich den Kopf. „Sag doch erst mal, worum es dir geht.“

Er hing etwas unglücklich in seinem Sessel. „Es geht darum, dass ich gern mit Marion am kommenden Wochenende wegfahren würde. Ich weiß, es ist ziemlich kurzfristig, aber …“

„Euch würde ein Ausflug zu zweit mal guttun“, folgerte Jenny mit einem Kopfnicken. „Wie dachtest du dir das? Soll ich so lange bei euch bleiben? Bei mir ist es ein bisschen schwierig, weil ich die Wohnung mit einer Freundin teile, und deren Freund kommt dieses Wochenende.“

Simon blickte überrascht auf. War das schon eine Zusage? „Nein, es geht gar nicht um das ganze Wochenende. Mein Bruder Daniel wird sie nehmen, aber der muss natürlich in seinen Laden. Am Freitag ist sie bei einer Freundin eingeladen. Aber wir hatten gedacht, du könntest vielleicht am Samstag auf sie aufpassen. Wenigstens bis nachmittags.“

Jenny nickte schon wieder. „Aber sicher, das kann ich. Mach dir keine Sorgen, das geht klar. Was macht eigentlich ihr Zahn? Ist der jetzt raus?“

„Nein“, sagte er. „Der hängt immer noch an einem letzten Faden.“

„Die Arme! Sie wollte mich absolut nicht dranfassen lassen. Aber das durfte früher bei mir auch keiner.“ Sie grinste. „Vielleicht klappt es ja bis Freitag. Wo wollt ihr denn hin?“

Simon dachte darüber nach. Was würde Marion am besten gefallen? „Vermutlich nach Amsterdam. Wenn ich da was kriege.“

„Dann viel Glück“, sagte Jenny und stand auf.

„Wie meinst du das?“, fragte er verunsichert. Wusste sie etwa schon über seine Eheprobleme Bescheid?

„Na, mit der kurzfristigen Buchung.“

„Ach so“, sagte er erleichtert. „Vielen Dank, Jenny. Das ist wirklich wichtig für mich, weißt du.“

„Keine Ursache, das mach ich doch gern.“ Sie stand bereits in der Tür und drehte sich noch mal um. „Wo hat dein Bruder eigentlich seinen Laden?“

„Bredenscheid“, sagte er. „Berliner Straße, schräg gegenüber von diesem großen Supermarkt. Wirklich gute Lage. Und genug Parkplätze.“

„Und der verkauft Wein?“

„Hauptsächlich deutsche Lagen, außerdem hochwertige Spanier und Franzosen. Aber auch so ein bisschen Drumherum, weißt du – Oliven und Trüffelöl und echten Balsamico. Was man im normalen Laden nicht so gut kriegt.“

„Sieh mal an“, sagte sie und verschwand aus seinem Büro.

Fünf Minuten später sah sich Susi mit einer Quizfrage konfrontiert. „Balsamico? Das ist doch so ein Edelessig.“

„Er hat ‚echter Balsamico‘ gesagt“, berichtete Jenny. „Gibt’s denn auch falschen?“

„Keine Ahnung“, sagte Susi, ein wenig unkonzentriert, weil sie gerade einen Fehler in ihrer Excel-Tabelle entdeckt hatte. „Aber wenn’s dich interessiert, dann fahr doch mal zu diesem Laden und frag nach.“

„Vor allen Dingen fahr ich extra von Kappenhagen nach Bredenscheid, um herauszufinden, was echten von unechtem Balsamico unterscheidet“, sagte Jenny spöttisch.

Aber je länger sie darüber nachdachte, desto intensiver wurde die Vorstellung, genau das zu tun. Zum einen könnte sie sich diesen Bruder mal ansehen, der mit ihr zusammen am Wochenende Melina hüten würde, und außerdem – wenn sie sowieso schon in Bredenscheid war – hätte sie einen Grund, wieder bei Schuh-Dörner vorbeizuschauen und zu prüfen, ob es dort dieses spezielle Paar Stiefel noch gab, mit dem sie seit einiger Zeit liebäugelte. Es war zwar nicht zu erwarten, dass es schon Anfang November herabgesetzt werden würde, aber vielleicht … Man konnte ja hoffen.

Sie wollte sich gerade daranmachen, ein Schreiben aufzusetzen, mit dem sie eine unbegründete Mahnung zurückweisen wollte, als ihr Telefon ging und ihre Mutter anrief. „Ich wollte dich für Freitag zum Mittagessen einladen“, sagte sie. „Dein Vater muss bei einer Beerdigung spielen und kriegt bei der Nachfeier was zu essen, Larissa ist an der Uni, und da werde ich die Gelegenheit nutzen und Steckrüben kochen.“

„Steckrüben?“, wiederholte Jenny erfreut. „Natürlich komme ich.“

„Sei aber pünktlich“, sagte ihre Mutter. „Ich hab um zwei Uhr einen Friseurtermin.“

„Du kannst dich auf mich verlassen.“ Jenny legte vergnügt den Hörer auf. Vielleicht war das die Lösung: Sie ging häufiger zu ihren Eltern zum Essen und legte für jede dort geschnorrte Mahlzeit fünf Euro zurück. Obwohl … Sie durfte das auch nicht überziehen … Und vermutlich würde es auf diese Weise auch Februar werden, bis sie das Geld für die Stiefel zusammenhatte.

„Steckrüben?“, fragte Susi angewidert. „Das isst du freiwillig?“

„Gerne sogar“, sagte Jenny. „Auf jeden Fall, wenn meine Mutter sie macht. Mit Kartoffeln durcheinandergerührt und mit Mettwurst.“

„Ihr Sauerländer“, seufzte Susi. Sie selbst war erst vor elf Jahren aus Norddeutschland zugezogen. „Manchmal seid ihr schwer zu verstehen.“

„Ja, wir sind ein besonderes Völkchen. Immerhin haben wir keine Angst, dass uns der Himmel auf den Kopf fallen könnte.“

„Nee, das wird der Himmel auch schön bleiben lassen“, meinte Susi. „Wem könnte er denn sonst die Hucke voll regnen?“ Sie warf einen Blick aus dem Fenster, wo genau das gerade passierte, und wünschte sich nicht zum ersten Mal einen Job auf Teneriffa.

Die Weinhandlung war nach Simons Beschreibung leicht zu finden. Jenny parkte ihren Polo neben dem Eingang mit der Aufschrift „Bodega Ortega“, wo ein junger Mann mit einem knallroten Hemd damit beschäftigt war, einen Stapel mit Weinkisten aus einem Caddy mit der gleichen Aufschrift in den Laden zu tragen. Jenny hielt ihm die Tür auf.

„Vielen Dank“, sagte er und stellte seine Kisten auf einem großen Esstisch ab, der in der Mitte des Raumes stand. „Kommen Sie doch herein. Kann ich Ihnen helfen?“

„Tja, ich weiß nicht …“ Jenny beschloss, ihn nicht zu fragen, ob der Inhaber auch da wäre. Sie war sich noch nicht mal sicher, ob sie wirklich hineingehen sollte, wenn sie gar nicht vorhatte, etwas zu kaufen. Aber die „Bodega Ortega“ sah sehr einladend aus und der junge Mann ebenso. Sie warf einen vorsichtigen Blick auf die dunkel gebeizten Regale voller Flaschen, den Terrakottafußboden und die insgesamt sehr mediterran wirkende Dekoration. „Ich wollte eigentlich nur meinem Allgemeinwissen auf die Sprünge helfen. Weil ich mit meiner Kollegin nicht einig war, was genau man unter ‚echtem Balsamico‘ versteht.“

Der freundliche Mitarbeiter besaß ein sympathisches Grübchenlächeln. „Kein Problem, diesen Wissenssprung können Sie hier machen.“ Er zog eine bauchige Flasche aus einem Regal hinter sich. „Da, schauen Sie. Das ist echter Balsamico Tradizionale, zwölf Jahre alt, aus Modena. Was Sie dagegen im Supermarkt kaufen können, hat höchstens damit gemein, dass vielleicht die Etiketten aus der gleichen Druckerei stammen.“

Jenny betrachtete das Etikett, aber da es vollständig auf Italienisch beschriftet war, half ihr das nicht weiter. „Und was ist das Besondere daran?“

„Das komplizierte Verfahren und das Alter“, sagte er. „Soll ich es Ihnen genauer erklären?“

Gerade hatte sie das dezente Preisschild gesehen. „Lassen Sie nur. Ich fürchte, bei meinen Einkommensverhältnissen muss ich mich weiterhin im Supermarkt umsehen.“

„Nicht unbedingt“, sagte er und holte eine andere Flasche aus dem Regal. „Wenn Sie daraus Salatdressing machen möchten, reicht auch dieser völlig aus. Er enthält zwar nur eine kleine Menge Balsamico, ist aber sehr angenehm im Geschmack. Und kostet nur einen Bruchteil.“

„Wofür braucht man den denn sonst, wenn nicht für Salatdressing?“, fragte sie verblüfft. Ihre seltenen Kochversuche hatten ihr bisher keine andere Möglichkeit zur Verwendung von Essig eröffnet.

Der junge Mann lächelte geduldig. Sie fragte sich flüchtig, an wen er sie erinnerte, aber spontan fiel ihr niemand ein. „Echte Feinschmecker füllen diesen Balsamico in eine Sprühflasche und sprühen zum Beispiel einen Hauch davon über frische Erdbeeren.“

Jenny blieb erschüttert der Mund offen stehen. „Essig über Erdbeeren? Ich glaube, ich bin hier im falschen Laden – das ist nicht so meine Welt, wissen Sie. Dann geh ich mal lieber, bevor ich Ihnen noch mehr Zeit stehle.“

Er nahm diese Ankündigung mit Fassung und wies auf den menschenleeren Verkaufsraum. „Wie Sie sehen, ist hier noch nicht das Chaos ausgebrochen. Und Sie können sich gern noch etwas umschauen, wenn Sie mögen. Hier finden Sie beispielsweise unsere Monatsangebote – einen sehr schönen Nahe-Riesling, einen ganz weichen Rioja von 2005 und ein französisches Walnussöl.“

Das ließ Jenny innehalten. „Walnussöl? Dafür schwärmt meine Mutter!“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche. „Ich frag sie mal eben, ob ich ihr was mitbringen soll.“

„Tun Sie das“, sagte der Verkäufer und begann, die Weinkisten auf dem Tisch zu öffnen und die Flaschen in das dahinterliegende Regal einzusortieren. Jenny beobachtete ihn, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter ans Telefon ging. Er sah nicht übel aus: dunkle Haare, breite Schultern und muskulöse Arme, die offensichtlich gewohnt waren, schwere Kisten zu schleppen.

„Mama? Hier ist Jenny. Hör mal, ich bin gerade in Bredenscheid in einem Laden, wo es französisches Walnussöl im Angebot gibt. Fünf fünfundneunzig für einen Viertelliter. Soll ich … Ja gut, ich bring es dir morgen mit.“

Sie schaltete das Telefon aus und strahlte den netten Verkäufer an, froh, dass sie ihm für seine Mühe nun doch noch etwas Umsatz bescheren konnte. „Sie möchte zwei Flaschen.“

„Gern“, sagte er und nahm das Walnussöl aus dem Angebotsregal, um es in ein Tütchen zu packen. Gleichzeitig hatte er nachdenklich die Stirn gerunzelt. „Sie heißen Jenny? Sie sind nicht zufällig die Babysitterin meines Bruders?“

Na, so was. „Ihr Bruder? Dann sind Sie Daniel?“

„Na klar. Und ich hatte mir eine Gymnasiastin vorgestellt! Was für eine positive Überraschung.“ Er strahlte sie an. „Wär das nicht ein guter Grund, uns zu duzen?“

„Warum nicht? Wenn wir uns schon das Babysitten teilen …“

„Moment“, sagte Daniel und tauchte plötzlich hinter seinen Tresen ab, wo sich ein Kühlschrank befand. Er erschien sofort wieder mit einer Flasche. „Darauf sollten wir wenigstens anstoßen.“

Jetzt, nachdem sie es wusste, konnte sie die Ähnlichkeit zu Simon erkennen, auch wenn da klare Unterschiede waren. Simon war grauäugig, dunkelblond und extrem schlank. Und vor allem, dachte Jenny, war er einer der bestaussehenden Männer, die sie kannte. Er hätte sich auch als Model in einem Katalog nicht schlecht gemacht. Daniel war nicht so eine klassische Schönheit, eher etwas verwegen und eine Spur zu kräftig, außerdem schlugen die spanischen Gene seines Vaters deutlicher durch mit dunklen Haaren, braunen Augen und einem Teint, der im Sommer bestimmt in Rekordzeit bräunte. Was sie gemeinsam hatten, war eine klassisch gerade Nase und, wie Jenny erkennen konnte, der gleiche Haaransatz mit einem Wirbel auf der rechten Seite.

Daniel füllte zwei Gläser zur Hälfte. „Das ist etwas ganz Interessantes“, erklärte er gleichzeitig. „Ein Grüner Veltliner mit einem deutlichen Pfirsichton, den habe ich erst vorige Woche reinbekommen.“

Jenny drehte vorsichtig das Probierglas. „Wie gesagt, ich fürchte, ich bin hier im falschen Laden“, sagte sie. „Für mich sieht das wie ganz normaler Weißwein aus. Ich kann noch nicht mal was Grünes erkennen.“

Er war so höflich, sie nicht auszulachen. „Das ist nur die Bezeichnung der Traube. Es gibt auch Frühroten Veltliner, aber meistens nicht in guten Qualitäten. Schnupper einfach mal und versuch, das Pfirsicharoma zu erkennen.“

Pfirsich bei Weißwein? Skeptisch steckte sie ihre Nase in das Glas. Zunächst nahm sie nur den typisch säuerlichen Weingeruch wahr, aber … tatsächlich … wenn man es wusste … Es war wohl wie mit den Verwandtschaftsverhältnissen. Sie schwenkte das Glas so, wie er es ihr vormachte, und meinte nun wirklich eine Spur von Pfirsich zu riechen. Zaghaft probierte sie einen Schluck. „Ich verstehe überhaupt nichts von Wein“, gestand sie kläglich.

„Das lässt sich alles lernen“, meinte er beruhigend. „Wenn man Spaß daran hat, versteht sich.“

„Und du hast Spaß daran, vermute ich. Wenn du dein Hobby zum Beruf gemacht hast.“

Er nahm noch einen Schluck. „Zufrieden bin ich wohl erst, wenn ich fünf Jahre lang schwarze Zahlen geschrieben und meine Kredite zurückgeführt habe. Aber für den Anfang läuft es ganz gut.“

Die Ladenglocke bimmelte sanft. Ein Ehepaar mittleren Alters trat ein und sah sich suchend um.

„Zeit für mich zu gehen“, stellte sie fest. „Nimm mir eben das Geld für mein Walnussöl ab.“

„Du musst noch nicht gehen“, sagte er, während er den Betrag in die Kasse tippte. „Hier geht alles etwas gemächlicher zu. Das gehört auch mit zum Konzept.“

„Doch, ich muss“, sagte sie und schob ihm einen Zwanziger über die Theke. „Da gibt es ein Schuhgeschäft, das immer lauter nach mir ruft.“

Jetzt lachte er laut. „Ach, so ist das“, sagte er mit einem Funkeln in den Augen. „Männer hören den Ruf der Wildnis und Frauen den des Wildleders?“

„Du kennst dich gut aus“, stellte sie fest. „Ist deine Partnerin auch Schuhfanatikerin?“

„Es gab durchaus welche darunter“, sagte er trocken und reichte ihr das Wechselgeld. „Dann sehen wir uns am Wochenende? Soll ich Melina zu dir bringen oder …“

„Ich kann sie auch abholen“, schlug sie vor. „Vielleicht gehe ich ein bisschen mit ihr bummeln, so ganz unter Frauen.“

„Wird so jung schon das Shopping-Know-how weitergegeben?“, bemerkte er, den Blick aber schon deutlich in Richtung seiner neuen Kunden.

Sie nickte ihm zu und nahm das Päckchen mit dem Öl. „Damit kann man gar nicht früh genug anfangen. Also bis Samstag.“

„Alles klar“, sagte er und zog los, um dem Ehepaar mindestens zwei Kisten Merlot zu verkaufen.

Jenny machte im Vorbeigehen die Hecktür des Caddy zu, damit es nicht länger hineinregnete, und kletterte dann in ihr eigenes Auto. Die Stiefel bei Schuh-Dörner waren noch da. Sie waren immer noch wunderschön – weiches schwarzes Leder, mit einem bordeauxroten Rand und dem perfekten Absatz – und kosteten nach wie vor zweihundertsechzig Euro. Man musste wohl erst Leiter der Finanzbuchhaltung sein, bevor man sich solches Schuhwerk leisten konnte. Sie verabschiedete sich schweren Herzens von ihnen und fuhr zurück nach Kappenhagen.

„Ich weiß jetzt Bescheid über echten Balsamico“, war die erste Mitteilung, die Jenny ihrer Mitbewohnerin Inga machte, als sie nach Hause kam.

„Na super“, sagte Inga mäßig beeindruckt. Sie saß auf dem Sofa und versuchte gerade, einen Faden in ein extrem enges Nadelöhr einzufädeln, weil sie ausgerechnet an ihrer Lieblingsbluse einen Knopf verloren hatte. „Wird dir das für dein zukünftiges Leben weiterhelfen?“

„Das kann man nie wissen“, rief Jenny durch die offene Tür ihres Zimmers, wo sie sich gerade die Schuhe auszog. „Es könnte ja sein, dass ich mir eines Tages eine Flasche zwölf Jahre alten Balsamico für satte sechzig Euro leisten kann, um ihn auf meine Erdbeeren zu sprühen.“

„Da kauf dir doch lieber einen zwölf Jahre alten Whisky und gieß ihn auf Eis“, schlug Inga vor. „Essig auf Erdbeeren! Wer hat dir denn so einen Mist erzählt?“

„Daniel Ortega“, gestand Jenny, während sie ins Wohnzimmer zurückkam. „Ich war heute in Bredenscheid und hab mir seinen Laden angesehen, und da …“

„Daniel Ortega?“, fragte Inga alarmiert, und prompt rutschte ihr wieder der Faden aus der Nadel. „Der hat dich angequatscht?“

„Eigentlich hab ich ihn angequatscht“, berichtigte Jenny sie. „Kennst du ihn etwa?“

„Nicht wirklich“, sagte Inga grimmig. „Aber ich kenne etliche Mädel, die das zweifelhafte Vergnügen hatten. Lass bloß die Finger von dem, das ist ein Killer.“

„Aber ich will doch gar nichts von ihm“, verteidigte sich Jenny. „Ich wollte ihn nur kennenlernen, weil wir am Wochenende zusammen auf Melina aufpassen sollen.“

Ingas Stirn legte sich in tiefe Falten. „Was ist denn das für ein Plan? Traut dir Marion schon nicht mehr zu, dass du das allein schaffst? Überhaupt, du hast doch gestern erst den Babysitter gemacht … wieso schon wieder? Sind die vergnügungssüchtig geworden, oder was?“

Jenny beschloss, sich erst mal nach etwas Essbarem umzusehen. Weil die Wohnung recht klein war, schränkte auch das die Gesprächsmöglichkeiten nicht ein. „Er macht mit seiner Frau eine Städtereise übers Wochenende. Nach Amsterdam. Ganz spontan.“

„Das ist doch mal was“, sagte Inga. „Auch wenn ich mir Amsterdam im November nicht gerade so berauschend vorstelle. Aber wenn Jörn das vorschlagen würde, wär ich sofort dabei.“

„Schlag du es ihm doch vor“, rief Jenny, während sie einen Joghurt aus dem Kühlschrank holte.

„Machst du Witze? Meinst du, er hat Zeit für so was? Ich bin schon froh, dass er dieses Wochenende herkommt.“

Jenny öffnete den Joghurt und leckte die Deckelfolie ab, bevor sie sie in den Mülleimer warf. „Dann werde ich am Samstag was mit Melina unternehmen, um euch hier nicht zu stören. Was machen denn normale Eltern mit ihren Kindern am Wochenende?“

„Die setzen sie vor die Glotze und waschen ihr Auto“, sagte Inga. Jenny betrachtete sie besorgt. Wenn sie nicht bald ihre Stirn wieder entrunzelte, würde sie spätestens zum Dreißigsten den ersten Schuss Botox brauchen.

„Du bist nicht besonders hilfreich, wenn man bedenkt, dass es um deinen ungestörten Samstag mit Jörn geht“, stellte Jenny fest. Sie setzte sich mit ihrem Joghurt auf einen Sessel und nahm vorsichtig einen ersten Löffel.

„Tut mir leid, du hast natürlich recht“, sagte Inga zerknirscht. „Aber ich habe so wenig Erfahrung mit Kindergartenkindern.“ Sie holte schwungvoll mit ihrem Faden aus, der so lang war, dass sie damit einen Rock hätte säumen können.

„Ich etwa?“, gab Jenny zurück.

„Seit gestern liegst du jedenfalls im Vergleich deutlich vorn“, sagte Inga. „Ich habe seit zwanzig Jahren auf kein Kind mehr aufgepasst. Nein, seit achtundzwanzig Jahren. Ich habe nämlich nie auf ein Kind aufgepasst. Das konnte ich immer vermeiden.“

„Und mit der Einstellung hast du ausgerechnet Sozialarbeit gewählt“, stellte Jenny kopfschüttelnd fest.

„Mein Schwerpunkt lag von Anfang an bei Senioren“, verteidigte Inga sich. „Die sind oft kindisch genug. Und die Demografen geben mir recht. Es gibt stetig mehr alte Leute, während hier doch kein Mensch mehr Kinder kriegen will.“ Sie testete die Haltbarkeit des neu angenähten Knopfes und befand, dass sie den Faden abschneiden konnte.

„Tja, dann frage ich mal meine Mutter“, beschloss Jenny. „Die hat wenigstens schon Kinder aufgezogen.“

„Na ja“, sagte Inga. „Wenn ich an deine Schwester denke, hat sie wohl eher ein Monster herangezüchtet.“ Sie betrachtete ihr Werk und stieß einen Klagelaut aus. „O nein, das darf doch nicht wahr sein! Wusstest du, dass sogar minikleine Perlmuttknöpfe zwei unterschiedliche Seiten haben? Ich hab meinen gerade mit der falschen Seite nach oben angenäht. So ein Mist!“

„Tja, das kommt davon, wenn man ein Mitglied der Familie Kurz ein Monster nennt“, belehrte Jenny sie. „Solche Sünden werden sofort bestraft.“

Gebetsliste

 

Dank:

für meine Wohngemeinschaft mit Inga

 

dass Simon mich schon wieder zum Babysitten gefragt hat

Fürbitte:

für meine Beförderung, wenn Herr Grumsiepen in

 

Ruhestand geht

 

für Simons und Marions Wochenende

 

dass Melina ohne Probleme ihren Zahn verliert

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Seit Menschengedenken war der Donnerstagabend in der Familie Kurz dem Chor gewidmet. Von halb acht bis halb zehn traf sich eine passabel große Gruppe von Sängern im Gemeindehaus der Petruskirche in Kappenhagen. Es gab nur wenige Wochen im Jahr, in denen Siegfried Kurz bereit war, die Probe auszusetzen. Sobald es wie jetzt auf Weihnachten zuging, tendierte er eher dazu, die Probenzeiten zu verlängern, weil er sich eine Vorweihnachtszeit ohne Adventskonzert nicht vorstellen konnte.

Auch dieses Jahr hatte er rechtzeitig eine Bachkantate ausgesucht, die von der Orchesterbesetzung her bezahlbar war und musikalisch genug hermachte, um das übliche regionale Publikum anzulocken. Seit Jahren träumte er davon, die ersten Teile des Weihnachtsoratoriums aufzuführen, aber dazu fehlten ihm sowohl einige sichere Sänger in den Männerstimmen als auch die finanziellen Mittel, um entsprechend gute Solisten anzuheuern. Jenny hatte irgendwann zu Susi gesagt, vermutlich sei ihr Vater der einzige Mensch auf Erden, der einen Lottogewinn zuerst mal für eine Konzertaufführung verwenden würde.

„Und ich dachte, man macht Konzerte, um damit Geld zu verdienen“, hatte Susi verwundert gemeint.

„Ja, wenn man Helmuth Rilling heißt, vielleicht“, sagte Jenny dazu. „Ansonsten kann man froh sein, wenn man die Kosten wieder hereinkriegt.“

„Das klingt ziemlich frustrierend“, war Susis Meinung dazu. „Warum macht ihr das dann überhaupt?“

Auch Jenny hatte manchmal den beinahe blasphemischen Gedanken gehegt, sich aus dem Chor zurückzuziehen, aber das konnte sie ihrem Vater nicht antun. Schon mit vierzehn, kurz nach ihrer Konfirmation, hatte sie begonnen mitzusingen, erst im Sopran und seit einigen Jahren im Alt. Vermutlich könnte er besser damit leben, wenn sie ihm eröffnete, schwanger, lesbisch oder Wählerin der Linken zu sein, als sie nicht mehr donnerstags vor sich sitzen zu haben.

So schlüpfte sie auch an diesem Donnerstagabend gerade noch rechtzeitig an ihren Platz, bevor das Einsingen begann. Brav drückte sie ihre Hände gegen den Rippenbogen und machte ihr „ma-me-mi-mo-mu“ zusammen mit den anderen, die entweder enthusiastisch mitarbeiteten oder sich resigniert in diese neumodischen Spielereien fügten.

„Und noch mal einen halben Ton höher“, kommandierte Siegfried und schlug eine Taste des Klaviers an. „Ma-me-mi-mo-mu.“

Mechanisch wiederholte Jenny die Übung und ließ ihre Blicke genauso wie ihre Gedanken schweifen. Seit vierzehn Jahren gehörte sie diesem Chor an. Ihr halbes Leben, wurde ihr klar. Drüben im Bass stand Gernot, in den sie mal schwer verliebt gewesen war, was sie mittlerweile nicht mehr ganz nachvollziehen konnte. Aber das war gewesen, bevor er die Drogerie seines Vaters übernommen, die Nachbarstochter geheiratet, zwei Kinder gezeugt und dreißig Kilo zugenommen hatte. Daneben zog Wilhelm seine Stirn in Falten, ein Urgestein des Chors und der Petruskirche. Er gehörte eindeutig zu der Fraktion derer, die Einsingübungen ebenso überflüssig fanden wie alle Chorliteratur, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen war. In der letzten Reihe erkannte sie Sylvia und Xenia, kichernde Teenager aus der Musikschule, die vermutlich hauptsächlich deshalb mitsangen, weil es auch Dennis gab, den langhaarigen Musikstudenten, der sich mit Siegfried den Orgeldienst teilte.

Endlich durften die Sänger sich setzen und den ersten Choral aufschlagen. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Marion kam herein. Sie lächelte entschuldigend und setzte sich neben die beiden Mädchen.

Jenny versuchte sich auf die Noten zu konzentrieren, aber Marions angespanntes Gesicht ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie konnte es kaum abwarten, bis ihr Vater endlich die Pause ankündigte, die ihm in zähen Verhandlungen abgerungen worden war. Während die Raucher nach draußen stürzten und einige weitere Chorsänger die Gelegenheit nutzten, in der Küche etwas trinken zu gehen, schob Jenny sich auf den Stuhl neben Marion. „Alles klar?“, fragte sie. „Klappt das mit eurem Wochenende?“

Marion nickte hastig. „Oja, wir werden nach Amsterdam fahren. Ich wollte mir schon lange mal das Rijksmuseum anschauen, und Simon hat tatsächlich Karten für ein Sinfoniekonzert am Samstagabend bekommen.“

„Das hört sich gut an“, sagte Jenny erfreut, auch wenn sie bei Amsterdam eher an das Rotlichtviertel dachte, in das sie ganz unverhofft geraten war, als sie damals mit der Berufsschule eine Klassenfahrt gemacht hatten. „Find ich toll, dass es so auf die Schnelle geklappt hat.“

Marion sah sie etwas kritisch an. „Das ist noch von unserem Hochzeitstag. Wir haben es nur nicht eher hingekriegt.“

„Aber …“, stotterte Jenny verwirrt, doch bevor sie etwas zu dem heiklen Thema Ehestress sagen konnte, drehte sich Frau Gerhard aus der Reihe davor um und schaltete sich in das Gespräch ein.

„Sie fahren nach Amsterdam? Dann müssen Sie unbedingt eine Grachtenfahrt machen.“

„Mal sehen, wie das Wetter so mitspielt“, sagte Marion etwas abweisend. Dann lächelte sie Jenny an. „Danke, dass du dich noch mal um Melina kümmerst. Wie ich hörte, hast du dich schon mit Daniel abgesprochen?“

„Ja, ich hole sie morgens bei ihm im Laden ab und bringe sie dann auch wieder zurück.“

„Der Käsemarkt in Alkmaar ist auch immer einen Abstecher wert“, fuhr Frau Gerhard unbeirrt fort.

„Das ist gut zu wissen“, erwiderte Marion höflich, bevor sie zu Jenny sagte: „Wir hatten uns überlegt, dass wir euch beide am kommenden Samstag zum Essen zu uns einladen möchten … als kleines Dankeschön. Hast du da Zeit?“

Jenny musste nicht lange überlegen, weil sie ihre überschaubaren Termine noch gut im Kopf behalten konnte. „Ja, das geht.“

„Wunderbar, dann merk dir das doch schon mal vor“, sagte Marion. Es klang nicht überschwänglich einladend, aber die Idee an sich war ja nett.

„Schade, dass jetzt nicht Tulpenzeit ist, sonst könnten Sie auch am Keukenhof vorbeifahren“, meinte Frau Gerhard.

Vorne klopfte Siegfried schon wieder an sein Pult, um zu demonstrieren, dass die Pause vorbei war. Jenny erhob sich zögernd. Sie hatte den Eindruck, dass Marion nicht gerade enthusiastisch auf die Reise reagierte, aber in dieser Situation war leider kein persönlicheres Wort möglich. „Dann wünsche ich euch viel Spaß“, sagte sie und wanderte zu ihrem Platz zurück. Sie hörte noch, wie Frau Gerhard sagte: „Und eine Diamantenschleiferei müssen Sie sich unbedingt ansehen.“

„Lasst uns weitermachen“, befand Siegfried, schon wieder an den gesamten Chor gerichtet. „Der Tenor hat mir in Takt achtundvierzig noch gar nicht gefallen.“

Jenny setzte sich, schlug ihre Noten auf und warf noch einmal einen Blick zu Marion. Aber die hatte sich hinter ihrem Klavierauszug verschanzt, als wollte sie jeden Blickkontakt vermeiden. Vielleicht war sie gedanklich schon in Amsterdam. Oder vielleicht wollte sie Frau Gerhard nicht die Gelegenheit geben, einen weiteren Reisetipp loszuwerden.

Pünktlich um zwölf ließ Jenny am nächsten Mittag ihren Stift fallen, sicherte ihre Dateien und angelte ihre Handtasche aus der Schublade.

„Wohin so eilig?“, fragte Susi. „Ach so, du hast ja ein Stielmus-Date.“

„Steckrüben“, korrigierte Jenny. „Stielmus mag ich nicht.“

„Dass ihr Sauerländer da überhaupt einen Unterschied schmeckt“, höhnte Susi.

„Wir haben sehr feine Geschmacksnerven“, widersprach Jenny.

„Kaum zu glauben, dass der dauernde Regen euch die nicht längst weggewaschen hat“, fuhr Susi mit ihren Schmähreden fort.

Jenny kannte Susi gut genug, um sich nicht provozieren zu lassen. „Warum bist du eigentlich noch hier?“

„Ich bin jung und brauche das Geld“, konterte Susi, ohne mit der Wimper zu zucken. „Und man muss nun mal zugeben, dass die Firma Butterkind weit und breit am besten zahlt.“

„Und die nettesten Kollegen hat.“ Jenny hangelte sich in ihre Jacke.

Draußen kam Simon eilig den Flur entlang, ohne einen Blick durch die offene Tür zu werfen.

„Und die attraktivsten Chefs“, ergänzte Susi. „Auch wenn sie ungefähr so erreichbar sind wie die Sonne. Aber man kreist doch recht gern um sie.“

Jenny schmunzelte. „Bis heute Nachmittag, Planet Susi. Lass dir dein dröges Butterbrot schmecken.“

„Manche Kollegen haben allerdings die Qualität von Weltraumschrott“, sinnierte Susi weiter. „Aber man ignoriert sie und wartet, bis sie in der Atmosphäre verglühen.“

„Mir ist schon ganz heiß“, sagte Jenny und verließ das Büro.

Auf dem Parkplatz traf sie Simon, mit Laptop und Barbour-Jacke auf dem Weg zu seinem Auto. „Na, geht’s gleich los?“

„Sobald wir Melina bei ihrer Freundin abgegeben haben“, sagte er. „Danke schon mal für deine Unterstützung.“

„Dann wünsch ich euch ein schönes Wochenende“, rief sie ihm nach, in diesem Fall fast neidlos.

Während sie die relativ kurze Strecke von der Firma bis zu dem Reihenhaus ihrer Familie fuhr, wurde ihr klar, dass ihre Eltern das nie gehabt hatten. Schon Familienferien waren immer recht knapp ausgefallen, zum Teil aus finanziellen Gründen, zum Teil, weil ihr Vater auch in Ferienzeiten meistens irgendwelche Verpflichtungen hatte.

Ein weiterer Grund dafür war der Garten, Gittas große Leidenschaft. Man konnte doch nicht verreisen, wenn die Erdbeeren reif oder der Salat kurz vorm Schießen war, wenn Bohnen gepflückt oder Stachelbeeren geerntet werden mussten, oder? Jenny erinnerte sich noch gut an das Jahr, als sie tatsächlich mal mit der Familie eine Flugreise gebucht hatten, zehn Tage Halbpension auf Gran Canaria. Schon am zweiten Tag hatte die Nachbarin telefonisch die Katastrophe verkündet: Das Treibhaus war von einem Hagelsturm beschädigt worden, während sich Familie Kurz am Strand ihren ersten Sonnenbrand holte. Ihre Mutter wäre am liebsten sofort nach Hause geflogen, die ganze Urlaubsfreude war ihr vermiest. Noch Jahre später hielten ihre Töchter ihr vor, dass der Mutter die Zucchini wichtiger gewesen waren als ihre Kinder.

Obwohl das nicht stimmte, dachte Jenny jetzt, während sie sich mit ihrem Schlüssel ins elterliche Haus ließ. Familie war Mamas erste Priorität und würde es immer bleiben, während Papa sich im Zweifelsfall wohl nur schwer zwischen der Musik und seinen Frauen würde entscheiden können.

Sie hängte ihre Jacke an die Garderobe und entdeckte dort ein unbekanntes Kleidungsstück, eine Art wollener Trenchcoat in Senfgelb mit einem mutigen Blumenmuster in Orange, Aubergine und Moosgrün. Kein Zweifel, wem der gehörte. Jenny probierte es an, auch wenn sie von vornherein wusste, dass ihre Arme ein ganzes Stück aus den Ärmeln herausragen würden und sie die Knöpfe vermutlich nur schließen konnte, wenn sie sonst nichts darunter anhatte.

Sie stellte sich vor, vor Heidi Klums Augen über einen Laufsteg zu stolzieren, und betrat hüftenschwingend die Küche, wo ihre Mutter gerade den Tisch deckte.

Gittas Augen weiteten sich überrascht. „Jenny, du hast dir doch nicht auch so einen …“ Sie brach ab, als sie ihre Tochter genauer betrachtete. „Ach, das ist Larissas Mantel.“

„Du hast doch wohl nicht im Ernst geglaubt, ich würde mir so ein Teil kaufen?“, fragte Jenny empört und zog den zu engen Trenchcoat wieder aus. „Wo gibt es überhaupt so was? Frankenstein-Moden?“

„Ich glaub, den hat sie bei eBay ersteigert“, sagte Gitta und holte eine Schüssel aus dem Schrank. „Das ist ihr Trostpflaster, nachdem Tobi mit ihr Schluss gemacht hat. Setz dich, wir können sofort essen.“

„Es könnte auch andersrum gewesen sein“, vermutete Jenny. „Er hat erst den Mantel gesehen und dann …“ Sie rutschte auf ihren Stammplatz auf der Eckbank und beäugte wohlwollend den Inhalt der Schüssel, die Gitta jetzt auf den Tisch stellte. „War es sehr dramatisch?“

„Ging so“, sagte Gitta und setzte sich ihrer Tochter gegenüber. „Zwei Tage war es äußerst tragisch, dann hat sie sich den Mantel bestellt und ist wieder zur Vorlesung gegangen. Kein Vergleich zum letzten Mal.“

„Als sie ihr Studium abbrechen und nach Israel in ein Kibbuz ziehen wollte?“

„Genau“, sagte Gitta und steckte einen großen Löffel in die Schüssel. „Insofern sehe ich diesen Mantel mit einem gewissen Wohlwollen, weil er deutlich günstiger ist als ein verschenktes Semester.“

„Mag sein“, brummte Jenny und lud sich eine ordentliche Portion auf den Teller. Die Farbstellung aus hellem Kartoffelpüree, den kräftig gelben Steckrübenstückchen und der Mettwurst erinnerte sie an eine Pastellversion von Larissas Mantel. „Ist denn inzwischen abzusehen, wann sie ihr Examen macht?“

„Ich rede darüber nicht mehr mit ihr“, sagte Gitta und nahm sich ebenfalls eine Portion. „Komm, lassen wir das Thema. Was hast du denn dieses Wochenende vor?“

„In erster Linie darf ich noch mal Kinder hüten“, sagte Jenny. „Ich passe morgen auf Melina Ortega auf, damit Simon und Marion nach Amsterdam fahren können.“

„Wieso fahren die denn um diese Zeit nach Amsterdam?“, wunderte Gitta sich, nachdem sie gerade noch den Dauerregen auf ihrem Gemüsebeet betrachtet hatte. „Da kann man sich doch wahrlich eine bessere Jahreszeit aussuchen.“

„Es hat wohl mit ihrem Hochzeitstag zu tun“, sagte Jenny kauend.

„Für einen Tag nach Amsterdam?“

„Nein, die fahren das ganze Wochenende. Den Rest der Zeit kümmert Daniel sich um Melina.“

„Simons Bruder mit der Weinhandlung“, folgerte Gitta.

„Genau der. Ach, erinnere mich daran, dass ich dir gleich das Walnussöl aus dem Auto hole. Jedenfalls muss Daniel morgen in seinem Laden stehen, und da übernehme ich dann für die Zeit. Was meinst du, was kann man wohl mit einem fünfjährigen Mädchen am besten machen? Ich wollte nicht mit ihr in meine Wohnung zurück, weil Jörn an diesem Wochenende kommt.“

Gitta lächelte. „Ist das eher Rücksichtnahme oder hast du moralische Bedenken?“

„Beides“, grinste Jenny. „Wenn man Jörn mal begegnet ist, wenn er nur einen Tangaslip trägt – das kann einen fürs Leben traumatisieren.“

Gitta wedelte mit ihrer Gabel. „Komm doch mit ihr hierher, dann backen wir die erste Ladung Weihnachtsplätzchen.“

Jenny krauste die Stirn. „Weihnachtsplätzchen Anfang November?“

„Erstens ist es als Beschäftigungstherapie gedacht“, sagte Gitta. „Und zweitens gibt es schon seit August Spekulatius in den Läden. Wo ist der Unterschied?“

Jenny lachte. „Du hast recht. Und es wird Melina bestimmt Spaß machen. Danke, Mama, das ist eine gute Idee.“

„Ach, ich mach das doch auch gern“, sagte Gitta. „Es erinnert mich ein bisschen an die Zeit, als ihr noch klein wart. Wie ist Melina denn so?“

„Nett“, sagte Jenny und nahm noch ein wenig nach. „Ruhig und lieb, blonde Locken, blaue Augen … Wie aus dem Bilderbuch. Sie ist ein perfektes Kind. Na ja, kein Wunder bei dem Vater.“

„Was hat der eigentlich, was andere nicht haben?“, hakte Gitta nach. „Wenn du von Simon redest, hört sich das immer an, als sei er der Pascha in eurem Betrieb und ihr die Haremsdamen. Was ist das Besondere an ihm? Flirtet er mit euch allen?“

Flirten? Das hörte sich völlig un-simonisch an. „Nein, das tut er nicht“, sagte Jenny mit Nachdruck. „Er ist … er ist einfach nur nett, weißt du. Er sieht gut aus, er ist freundlich … nicht so arrogant wie dieser blöde Eickelmann aus dem Vertrieb. Simon ist irgendwie … unser Vorbild vielleicht. Wir mögen ihn, das ist alles.“