image

C. S. Lewis

Überrascht von Freude

image

Titel der englischen Ausgabe

© der deutschen Ausgabe:

Basierend auf Taschenbuch-Lizenzausgabe Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Für
Dom Bede Griffith, O. S. B
.

Der Übersetzer dankt
Herrn Dr. Gisbert Kranz, Aachen,
für die Übersetzung der den
Kapiteln
1, 4, 8 und 10 vorangestellten Motti.

INHALT

Vorwort

Die ersten Jahre

Konzentrationslager

Mountbracken und Campbell

Ich erweitere meinen Horizont

Renaissance

Bloodery

Licht und Schatten

Befreiung

Der große Knock

Fortunas Lächeln

Schach

Gewehre und gute Kameradschaft

Der New Look

Schachmatt

Der Beginn

VORWORT

Ich habe dieses Buch zum einen geschrieben, um dem Wunsch nachzukommen, ich möge berichten, wie ich vom Atheismus zum Christentum gekommen bin, zum anderen, um einige falsche Vorstellungen zu korrigieren, die offenbar in Umlauf geraten sind. Inwieweit diese Geschichte irgendjemandem außer mir selbst etwas zu sagen hat, hängt davon ab, in welchem Maße andere das erlebt haben, was ich „Freude“ nenne. Falls dieses Erlebnis auch nur einigermaßen verbreitet sein sollte, so wäre es sicherlich von Nutzen, sich etwas eingehender damit zu befassen, als es meines Wissens bisher versucht wurde. Ich habe den Mut gefasst, darüber zu schreiben, weil mir aufgefallen ist, dass selten ein Mensch über die Dinge spricht, die er für seine ureigensten Empfindungen hält, ohne dass zumindest einer (meist mehrere) der Anwesenden antwortet: „Was? Dieses Gefühl kennen Sie auch? Ich dachte immer, ich wäre der Einzige.“

Das Buch soll die Geschichte meiner Bekehrung berichten; es stellt keine Autobiografie im herkömmlichen Sinn dar und schon gar keine „Bekenntnisse“ wie etwa die von Augustinus oder Rousseau. In der Praxis bedeutet das, dass es dem, was man im Allgemeinen von einer Autobiografie erwartet, immer weniger entspricht, je weiter man liest. In den ersten Kapiteln muss das Netz ziemlich weit ausgespannt werden, damit der Leser später, wenn es um den eigentlichen geistlichen Umbruch geht, verstehen möge, wie meine Persönlichkeit durch meine Kindheit und Jugend geformt wurde. Sobald dieses Fundament gelegt ist, beschränke ich mich strikt auf das Wesentliche und übergehe alles, was in diesem Stadium irrelevant erscheint (so wichtig es nach gewöhnlichen biografischen Maßstäben auch sein mag). Ich glaube nicht, dass dem Leser dabei viel entgeht; ich habe noch niemals eine Autobiografie gelesen, in der nicht die Teile, die sich mit den frühen Jahren befassten, die bei Weitem interessantesten gewesen wären.

Die Geschichte ist, fürchte ich, erdrückend subjektiv; ich habe dergleichen noch nie zuvor geschrieben und werde es wahrscheinlich auch nie wieder schreiben. Ich habe versucht, das erste Kapitel so abzufassen, dass diejenigen Leser, die eine solche Geschichte nicht ertragen können, sofort merken, was auf sie zukommt, und das Buch zuklappen können, ohne mehr Zeit daran zu verschwenden als irgend nötig.

Clive Stapleton Lewis

ERSTES KAPITEL

Die ersten Jahre

Glücklich, doch für solch Glück
zu schlecht geschützt
.

Milton

Ich wurde im Winter 1898 in Belfast als Sohn eines Rechtsanwalts und einer Pfarrerstochter geboren. Meine Eltern hatten nur zwei Kinder, beides Söhne, und ich war der um drei Jahre jüngere.

Unsere Prägung war von zwei sehr verschiedenen Zügen bestimmt. Mein Vater gehörte zur ersten Generation in seiner Familie, die den akademischen Stand erreichte. Sein Großvater war ein walisischer Bauer gewesen; sein Vater, ein Selfmademan, hatte als Arbeiter angefangen, war dann nach Irland ausgewandert und wurde schließlich Teilhaber der Firma Macilwaine und Lewis, „Kesselmacher, Ingenieure und Eisenschiffsbauer“.

Meine Mutter war eine Hamilton und hatte viele Generationen von Pfarrern, Anwälten, Seeleuten und dergleichen hinter sich; mütterlicherseits, durch die Warrens, ging ihre Linie bis auf einen normannischen Ritter zurück, dessen Gebeine in der Battie Abbey liegen.

Dem Temperament nach waren die beiden Familien, von denen ich abstamme, ebenso verschieden voneinander wie nach ihrem Ursprung. Die Verwandten meines Vaters waren echte Waliser, sentimental, leidenschaftlich und wortgewaltig, zu Zorn und Milde gleichermaßen leicht zu bewegen; Menschen, die viel lachten und viel weinten und nicht viel Talent zum Glücklichsein besaßen.

Die Hamiltons waren von kühlerer Art. Ihr Denken war von Urteilsvermögen und Sinn für Ironie geprägt, und das Talent zum Glücklichsein hatten sie in reichem Maß – sie gingen geradewegs darauf zu wie erfahrene Reisende auf die besten Plätze in einem Zug.

Schon in meinen ersten Lebensjahren war ich mir des lebhaften Gegensatzes zwischen der heiteren und gelassenen Zuneigung meiner Mutter und den Höhen und Tiefen im Gefühlsleben meines Vaters bewusst, und dies erzeugte in mir, lange bevor ich alt genug war, dem einen Namen zu geben, ein gewisses Misstrauen oder eine Abneigung gegen Emotionen als etwas Unangenehmes, Peinliches, ja Gefährliches.

Nach den Maßstäben jener Zeit und Gegend waren meine Eltern beide belesene oder „kluge“ Leute. Meine Mutter war in ihrer Jugend eine vielversprechende Mathematikerin gewesen und hatte sich am Queens College in Belfast den Grad eines B. A. erworben; und bevor sie starb, konnte sie mir noch meinen ersten Unterricht in Französisch und Latein erteilen. Sie war eine unersättliche Leserin guter Romane und ich glaube, die Merediths und Tolstois, die ich geerbt habe, waren für sie angeschafft worden.

Mein Vater hatte ganz andere Vorlieben. Seine Schwäche war die Redekunst, als junger Mann hatte er selbst vor politischen Kreisen in England gesprochen. Wäre er finanziell unabhängig gewesen, er hätte sicherlich eine politische Laufbahn angestrebt. Er wäre wahrscheinlich sogar erfolgreich gewesen – es sei denn, sein Sinn für Ehrenhaftigkeit, der so fein war, dass es ans Quijotehafte grenzte, hätte ihn unlenkbar gemacht – denn er besaß viele der Gaben, die ein Parlamentarier früher brauchte: ein ansprechendes Äußeres, eine volltönende Stimme, eine beträchtliche Geistesgegenwart, Wortgewandtheit und ein gutes Gedächtnis. Trollopes politische Romane liebte er sehr; heute nehme ich an, dass er stellvertretend seine eigenen Sehnsüchte erfüllte, indem er der Laufbahn des Phineas Finn folgte. Er schätzte Lyrik, soweit sie rhetorische oder pathetische Elemente oder beides aufwies; Othello, glaube ich, war sein Lieblingsstück von Shakespeare.

An humoristischen Autoren von Dickens bis W.W. Jacobs hatte er fast durchweg große Freude; und er war selbst beinahe konkurrenzlos der beste Geschichtenerzähler, den ich je gehört habe; jedenfalls der beste von seiner Art, der Art nämlich, die alle Figuren abwechselnd durch reichlichen Einsatz von Grimassen, Gesten und Pantomime darstellt. Das größte Vergnügen für ihn war es, wenn er sich für ein Stündchen mit einem oder zwei meiner Onkel in ein Zimmer zurückziehen und Anekdoten mit ihnen austauschen konnte.

Freilich hatten weder er noch meine Mutter auch nur das Geringste für die Art Literatur übrig, der ich mich verschrieb, kaum dass ich mir meine Bücher selbst aussuchen konnte. Keiner von ihnen hatte je auf den Klang der Hörner aus Elfenland gelauscht. Es gab kein Exemplar von Keats oder Shelley im Haus, und was von Coleridge vorhanden war, wurde, soviel ich weiß, niemals aufgeschlagen. Wenn ich also ein Romantiker bin, tragen meine Eltern keine Schuld daran. Tennyson freilich schätzte mein Vater, aber nur den Tennyson von In Memoriam und Locksley Hall. Über die Lotus Eaters oder den Morte d’Arthur habe ich von ihm nie ein Wort gehört. Meine Mutter hatte, wie man mir sagte, für Lyrik überhaupt keinen Sinn.

Zusätzlich zu guten Eltern, gutem Essen und einem Garten (der mir damals riesengroß erschien), in dem ich spielen konnte, genoss ich zu Beginn meines Lebens noch zwei weitere Segnungen. Eine davon war unser Kindermädchen Lizzie Endicott, an der selbst die unbestechliche Erinnerung der Kindheit keinen Makel entdecken kann – nichts als Freundlichkeit, Fröhlichkeit und gesunden Menschenverstand. Diesen Unsinn mit den vornehmen „Kinderfräulein“ gab es damals noch nicht. Durch Lizzie konnten wir unsere Wurzeln im Landvolk von County Down schlagen. Dadurch gingen wir in zwei ganz verschiedenen sozialen Sphären ein und aus. Diesem Umstand verdanke ich meine lebenslange Immunität gegen die bisweilen anzutreffende Gleichsetzung von Kultiviertheit mit Tugend. Noch bevor mein Erinnerungsvermögen einsetzte, hatte ich begriffen, dass man bestimmte Scherze mit Lizzie machen konnte, die im Wohnzimmer völlig fehl am Platze waren; und ebenso, dass Lizzie, soweit das einem Menschen möglich ist, schlicht und einfach gut war.

Der andere Segen war mein Bruder. Obwohl er drei Jahre älter war als ich, erschien er mir nie wie ein großer Bruder; wir waren von Anfang an Verbündete. Dennoch waren wir sehr verschieden. Unsere frühesten Bilder (und ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der wir nicht unausgesetzt gemalt und gezeichnet hätten) bringen es an den Tag. Er zeichnete Schiffe, Züge und Schlachten; ich dagegen zeichnete, wenn ich ihn nicht gerade nachahmte, das, was wir beide „Tiere in Kleidern“ nannten – die anthropomorphen Tiere der Kinderliteratur. Seine erste Geschichte – als der Ältere ging er vor mir vom Zeichnen zum Schreiben über – trug den Titel Der junge Radscha. Schon damals hatte er Indien zu „seinem“ Land gemacht; das meine war „Tierland“.

Ich glaube nicht, dass unter den heute noch existierenden Zeichnungen welche sind, die aus den hier geschilderten ersten sechs Jahren meines Lebens stammen, doch ich habe eine Menge, die nicht viel jünger sein können. Nach ihnen zu urteilen, scheint mir, dass ich der Begabtere von uns beiden war. Schon sehr früh konnte ich Bewegung zeichnen – Figuren, die so aussahen, als liefen oder kämpften sie tatsächlich – und die Perspektive ist gut. Doch nirgends, weder in den Arbeiten meines Bruders noch in meinen eigenen, findet sich auch nur ein einziger Strich, der einer noch so rudimentären Vorstellung von Schönheit gefolgt wäre. Da sind Dramatik, Komik, Einfallsreichtum; aber ein Gefühl für Gestaltung ist nicht einmal im Keim vorhanden, und die sichtliche Unkenntnis natürlicher Formen ist erschreckend. Bäume sehen aus wie Wattebäusche, die auf Pfosten stecken, und nichts weist darauf hin, dass einer von uns die Form auch nur eines der Blätter des Gartens kannte, in dem wir täglich spielten.

Jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir, dass dieses Fehlen der Schönheit kennzeichnend für unsere Kindheit war. Kein Bild an den Wänden meines Vaterhauses zog je unsere Aufmerksamkeit auf sich – und es gab auch keines, das sie verdient hätte. Wir bekamen nie ein schönes Gebäude zu Gesicht oder ließen uns auch nur träumen, dass ein Gebäude schön sein könnte.

Meine ersten ästhetischen Erfahrungen, wenn sie denn ästhetisch waren, waren nicht von dieser Art; sie bezogen sich nicht auf die Form, sondern waren bereits unheilbar romantisch. Eines Tages in jener allerersten Zeit brachte mein Bruder den Deckel einer Keksdose ins Kinderzimmer, den er mit Moos bedeckt und mit Zweigen und Blumen geschmückt hatte, sodass daraus ein Spielzeuggarten oder ein Spielzeugwald wurde. Das war das erste Mal, dass mir Schönheit begegnete. Was der echte Garten nicht vermocht hatte, brachte der Spielzeuggarten fertig. Er machte mir die Natur bewusst – freilich nicht als Schatzkammer von Formen und Farben, sondern als etwas Kühles, Tauiges, Frisches, vor Leben Sprühendes.

Ich glaube nicht, dass mir dieser Eindruck in jenem Moment sehr wichtig war, aber in der Erinnerung gewann er bald eine große Bedeutung. Solange ich lebe, wird meine Vorstellung vom Paradies etwas von dem Spielzeuggarten meines Bruders haben.

Und jeden Tag hatten wir die „grünen Hügel“, wie wir sie nannten, vor Augen; die niedrige Linie der Castlereagh Hills, die wir vom Kinderzimmer aus sehen konnten. Sie waren nicht sehr weit weg, aber für Kinder waren sie völlig unerreichbar. Sie lehrten mich die Sehnsucht und machten mich, zum Wohl oder Wehe, bevor ich sechs Jahre alt war, zu einem andächtigen Verehrer der Blauen Blume.

Waren ästhetische Erfahrungen selten, so gab es religiöse Erfahrungen überhaupt nicht. Manche Leute haben aus meinen Büchern den Eindruck gewonnen, ich sei streng puritanisch erzogen worden, aber das ist keineswegs der Fall. Ich lernte das Übliche, wurde zum Beten angehalten und als die Zeit dafür reif war, wurde ich in die Kirche mitgenommen. Ich nahm selbstverständlich hin, was man mir sagte, aber ich kann mich nicht erinnern, ein besonderes Interesse dafür verspürt zu haben.

Mein Vater, weit entfernt davon, besonders puritanisch zu sein, war nach den Maßstäben des neunzehnten Jahrhunderts und der Church of Ireland recht hochkirchlich eingestellt und wie bei der Literatur war auch sein Zugang zur Religion demjenigen, den ich später für mich fand, gerade entgegengesetzt. Er hatte eine spontane Freude am Reiz der Tradition und der poetischen Schönheit der Bibel und des Gebetbuchs (alles Dinge, die ich erst spät und mit Mühe schätzen lernte) und man müsste wohl lange nach einem gleichermaßen intelligenten Menschen suchen, der sich so wenig aus Metaphysik machte wie er.

Über die religiöse Einstellung meiner Mutter kann ich so gut wie nichts aus eigener Erinnerung sagen. Jedenfalls hatte meine Kindheit ganz und gar nichts Überirdisches an sich. Von dem Spielzeuggarten und den grünen Hügeln abgesehen war sie noch nicht einmal sehr fantasieanregend. In meiner Erinnerung lebt sie vornehmlich als eine Zeit alltäglichen, prosaischen Glücks und sie erweckt in mir nicht die schmerzliche Sehnsucht, mit der ich auf meine viel weniger glückliche Jugendzeit zurückblicke. Nicht das gefestigte Glück, sondern die momentane Freude ist es, die die Vergangenheit verklärt erscheinen lässt.

In diesem allgemeinen Glück gab es eine Ausnahme. Meine früheste Erinnerung ist der Schrecken gewisser Träume. Das ist ein verbreitetes Problem in diesem Alter, aber immer scheint es mir noch merkwürdig, dass sich in dem umhegten und behüteten Raum der Kindheit so oft ein Fenster öffnet und den Blick freigibt auf etwas, das der Hölle sehr nahekommt.

Meine bösen Träume waren von zweierlei Art, nämlich Träume von Gespenstern und Träume von Insekten. Davon waren die Letzten mit Abstand die schlimmeren; noch heute würde ich lieber einem Geist begegnen als einer Tarantel. Und noch heute bin ich versucht, meine Phobie zu rationalisieren und zu rechtfertigen. Es ist wie Owen Barfield mir einmal sagte: „Das Schlimme an den Insekten ist, dass sie wie französische Lokomotiven sind – die ganze Mechanik sitzt an der Außenseite.“ Die Mechanik – das ist es, was mir zu schaffen macht. Ihre eckigen Gliedmaßen, ihre ruckartigen Bewegungen, ihre trockenen, metallischen Geräusche – all das lässt mich entweder an lebendig gewordene Maschinen denken oder an Lebewesen, die zu Mechanismen degeneriert sind. Man könnte hinzufügen, dass wir im Bienenstock und im Ameisenhügel die beiden Dinge voll umfassend verwirklicht sehen, die mancher für unsere eigene Spezies am meisten fürchtet: die Herrschaft des Weibchens und die Herrschaft des Kollektivs.

Ein Umstand im Zusammenhang mit der Geschichte dieser Phobie ist vielleicht berichtenswert. Als ich viel später, als Jugendlicher, Lubbocks Ants, Bees, and Wasps las, entwickelte ich für kurze Zeit ein regelrecht wissenschaftliches Interesse an Insekten. Es wurde bald von anderen Lerngebieten verdrängt; doch während meiner entomologischen Phase war meine Furcht fast verschwunden und ich neige zu der Auffassung, dass eine wirklich objektive Wissbegier stets diese reinigende Wirkung haben wird.

Ich fürchte, die Psychologen werden sich nicht damit zufriedengeben, meine Insektenangst mit dem zu erklären, was eine schlichtere Generation als ihre Ursache diagnostizieren würde – nämlich ein gewisses abscheuliches Bild in einem meiner Kinderbücher. Darin stand ein winziges Kind, eine Art Däumling, auf einem Pilz und wurde von unten her von einem Hirschkäfer bedroht, der viel größer war als es selbst. Das war schon schlimm genug; aber es kommt noch schlimmer. Die Fühler des Käfers bestanden aus separaten Pappstreifen, die an einer Nabe befestigt waren. Indem man nun einen teuflischen Mechanismus auf der Rückseite betätigte, konnte man sie dazu bringen, sich zu öffnen und zu schließen wie eine Pinzette: Schnipp-schnapp – schnipp-schnapp – ich sehe es vor Augen, während ich schreibe. Wie eine gewöhnlich so umsichtige Frau wie meine Mutter ein solches Gräuel im Kinderzimmer dulden konnte, ist schwer zu begreifen. Es sei denn (denn jetzt regt sich ein Zweifel in mir), dieses Bild ist selbst das Produkt eines Albtraums. Aber ich glaube es nicht.

1905, in meinem siebenten Lebensjahr, fand die erste große Veränderung in meinem Leben statt. Mein Vater, dessen Wohlstand wuchs, wie ich annehme, beschloss, das halbe Doppelhaus, in dem ich geboren war, zu verlassen und sich ein viel größeres Haus zu bauen, außerhalb der Stadt, wo damals noch freies Land war. Das „neue Haus“, wie wir es noch Jahre später nannten, war selbst nach meinen heutigen Maßstäben groß; für ein Kind wirkte es weniger wie ein Haus als wie eine Stadt.

Mein Vater, der mehr Talent hatte, sich betrügen zu lassen, als irgendjemand sonst, den ich je kannte, wurde von den Bauunternehmern nach Strich und Faden betrogen; die Rohre funktionierten nicht, die Schornsteine funktionierten nicht, in jedem Zimmer zog es.

Uns Kindern machte freilich nichts von alledem etwas aus. Für mich war das Wichtige an diesem Umzug, dass er meinen Lebensrahmen erweiterte. Das neue Haus ist fast so etwas wie eine Hauptfigur in meiner Geschichte. Ich bin ein Produkt von langen Fluren, leeren, sonnendurchfluteten Zimmern, der Stille in den oberen Räumen, den Dachbodenzimmern, die ich in Einsamkeit erforschte, des fernen Gurgelns der Wasserbehälter und Rohre und dem Geräusch des Windes unter den Dachziegeln. Und ebenso ein Produkt unendlich vieler Bücher. Mein Vater kaufte alle Bücher, die er las, und gab keines davon je wieder her. Es gab Bücher im Arbeitszimmer, Bücher im Wohnzimmer, Bücher in der Garderobe, Bücher (zwei Reihen tief) in dem großen Bücherregal auf dem Treppenabsatz, Bücher in einem der Schlafzimmer, Bücher in Stapeln so hoch wie meine Schultern auf dem Speicher, wo der Wasserbehälter war; Bücher aller Art, in denen sich jedes vorübergehende Interesse meiner Eltern spiegelte, lesbare und unlesbare, für ein Kind geeignete und ganz und gar ungeeignete. Nichts davon war mir verboten. An den schier endlosen verregneten Nachmittagen holte ich mir einen Band nach dem anderen aus den Regalen. Ich konnte stets ebenso gewiss sein, ein neues Buch zu finden, wie ein Mann, der auf einer Wiese spazieren geht, gewiss sein kann, einen neuen Grashalm zu finden. Wo all diese Bücher gewesen waren, bevor wir in das neue Haus einzogen, ist ein Problem, das mir noch nie als solches aufgefallen ist, bevor ich mich daran machte, diesen Absatz zu schreiben. Ich habe keine Antwort darauf.

Draußen war „die Aussicht“, die zweifellos der Hauptgrund für die Auswahl dieses Bauplatzes gewesen war. Von unserer Haustür aus blickten wir über weite Felder auf den Belfast Lough hinab und darüber hinaus auf die lang gezogene Kette der Berge am Antrim-Ufer – Divis, Colln, Cave Hill.

Das war in den weit zurückliegenden Tagen, als Großbritannien noch der Spediteur der Welt und der Lough voller Schiffe war; sehr zur Freude von uns Jungen, besonders aber meines Bruders. Der Klang einer Dampfersirene in der Nacht beschwört für mich immer noch meine ganze Jungenzeit herauf. Hinter dem Haus, grüner, flacher und näher als die Berge von Antrim, waren die Holywood Hills, aber sie gewannen meine Aufmerksamkeit erst viel später. Was zuerst zählte, war die Aussicht nach Nordwesten; die unendlichen Sommersonnenuntergänge hinter den blauen Bergkämmen und die heimfliegenden Krähen. Mitten in diese Welt begannen die Schläge der Veränderung zu fallen.

Zuerst wurde mein Bruder auf ein englisches Internat verschickt und verschwand so für den größten Teil eines jeden Jahres aus meinem Leben. Ich erinnere mich gut an die überschwängliche Freude, die ich empfand, wenn er in die Ferien nach Hause kam, aber nicht an eine entsprechende Niedergeschlagenheit, wenn er wieder abreiste. Sein neues Leben änderte nichts an unserer Beziehung zueinander. Ich wurde inzwischen weiterhin zu Hause unterrichtet; in Französisch und Latein von meiner Mutter und in allen anderen Fächern von Annie Harper, einer hervorragenden Hauslehrerin. Damals sah ich in dieser sanften und bescheidenen kleinen Dame ein ziemliches Schreckgespenst, aber nach allem, woran ich mich erinnere, bin ich sicher, dass ich ihr unrecht tat. Sie war Presbyterianerin; und ein langatmiger Vortrag, den sie eines Tages zwischen Rechnen und Aufsätzen einschob, ist in meiner Erinnerung das erste Ereignis, das mir die andere Welt auf eine Weise nahebrachte, dass sie mir als wirklich erschien.

Doch es gab viele andere Dinge, über die ich mehr nachdachte. Mein wirkliches Leben – oder das, was in meiner Erinnerung als wirkliches Leben erscheint – spielte sich zunehmend in der Einsamkeit ab. Nicht dass ich nicht genug Leute gehabt hätte, mit denen ich mich unterhalten konnte: Da waren meine Eltern, mein Großvater Lewis, wenn auch frühzeitig alt und taub geworden, der bei uns wohnte; die Hausmädchen und ein etwas trinkfreudiger alter Gärtner. Ich glaube, ich war eine unerträgliche Quasselstrippe. Doch wenn ich wollte, konnte ich mich fast immer in die Einsamkeit zurückziehen, entweder irgendwo im Garten oder im Haus. Inzwischen konnte ich lesen und schreiben; ich hatte allerhand zu tun.

Was mich zum Schreiben trieb, war eine ausgesprochene manuelle Ungeschicklichkeit, unter der ich seit jeher leide. Ich schreibe sie einem körperlichen Defekt zu, den mein Bruder und ich beide von unserem Vater geerbt haben; wir haben nur ein Gelenk im Daumen. Das obere Gelenk (das vom Nagel weiter entfernte) ist zwar zu sehen, aber das ist nur Blendwerk; wir können es nicht bewegen. Doch was der Grund auch sein mag, die Natur hat mich von Geburt an mit einer völligen Unfähigkeit bedacht, irgendetwas herzustellen. Mit Feder und Stift konnte ich durchaus umgehen und meinen Krawattenknoten bekomme ich immer noch so gut hin, wie ein Männerkragen es sich nur wünschen kann, doch im Umgang mit Werkzeug, Kricketschlagholz oder Gewehr, mit Manschettenknöpfen oder Korkenziehern bin ich immer völlig hilflos gewesen. Das war es, was mich zum Schreiben zwang. Ich sehnte mich danach, Dinge zu basteln, Schiffe, Häuser, Maschinen. Viele Bögen Pappe und Scheren ruinierte ich, nur um immer wieder in Tränen meine hoffnungslosen Versuche aufzugeben. Als letzten Ausweg nahm ich meine Zuflucht dazu, stattdessen Geschichten zu schreiben. In was für eine Welt des Glücks ich damit eintreten durfte, ahnte ich freilich nicht. Mit einem Schloss in einer Geschichte lässt sich mehr anfangen als mit dem schönsten Schloss aus Pappe, das je auf einem Kinderzimmertisch stand.

Bald beanspruchte ich einen der Dachspeicherräume für mich und machte ihn zu „meinem Arbeitszimmer“. An den Wänden hingen Bilder, die ich entweder selbst gemalt oder aus den bunten Weihnachtsausgaben der Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Dort hatte ich meine Feder, mein Tintenfass, meine Schreibhefte und meinen Malkasten; und dort –

Welch größres Glück kann ein Geschöpf befallen, als sich in Freiheit freun zu können?

Hier schrieb und illustrierte ich meine ersten Geschichten und war von beidem hochbefriedigt. Sie waren ein Versuch, meine zwei größten literarischen Vorlieben miteinander zu verbinden – Tiere in Kleidern und Rittergeschichten. Infolgedessen schrieb ich über heldenhafte Mäuse und Kaninchen, die in voller Rüstung auszogen, nicht um Riesen, sondern um Katzen zu erschlagen. Doch schon damals hatte ich einen starken Hang zum Systematisieren; die gleiche Neigung, die Trollope dazu trieb, sein Barsetshire so endlos in allen Einzelheiten auszumalen.

Das Tierland, das in den Ferien in Aktion trat, wenn mein Bruder zu Hause war, war ein modernes Tierland; es musste schon Eisenbahnen und Dampfschiffe zu bieten haben, wenn es ein Land sein sollte, an dem auch er Anteil hatte. Das bedeutete natürlich, dass das mittelalterliche Tierland, über das ich meine Geschichten schrieb, das gleiche Land in einer früheren Epoche sein musste; und selbstverständlich mussten die beiden Epochen richtig miteinander verbunden werden. Das brachte mich vom Geschichtenerzählen zur Geschichtsschreibung; ich machte mich daran, eine vollständige Geschichte Tierlands zu verfassen.

Obwohl mehr als eine Version dieses lehrreichen Werkes erhalten ist, gelang es mir nie, es bis in die moderne Zeit zu führen; als Historiker hat man allerhand zu tun, die Jahrhunderte zu füllen, wenn man sich alle Ereignisse selbst ausdenken muss.

Doch es gibt ein Merkmal an diesem Geschichtsbuch, an das ich mich heute noch mit einem gewissen Stolz erinnere. Die Ritterabenteuer meiner Erzählungen wurden in dem Geschichtswerk ganz am Rande erwähnt und der Leser wurde gewarnt, es handele sich dabei möglicherweise „nur um Legenden“. Irgendwie – der Himmel weiß, wie – erkannte ich schon damals, dass ein Historiker eine kritische Einstellung gegenüber Erzähltexten einnehmen sollte.

Von der Geschichte war es nur ein Schritt zur Geografie. Bald entstand eine Karte von Tierland – sogar mehrere Karten, die alle einigermaßen miteinander harmonierten. Dann musste Tierland in eine geographische Beziehung zum Indien meines Bruders gebracht werden, das zu diesem Zweck seinen Platz in der wirklichen Welt zu räumen hatte. Wir machten es zu einer Insel, deren Nordküste hinter dem Himalaya verlief; die wichtigsten Dampfschiffrouten zwischen Indien und Tierland hatte mein Bruder schnell erfunden. Bald gab es eine ganze Welt und eine Karte dieser Welt, für die ich jede Farbe in meinem Malkasten brauchte. Und die Teile jener Welt, die wir als unsere eigenen betrachteten – Tierland und Indien – wurden zunehmend mit konsistenten Figuren bevölkert.

Von den Büchern, die ich zu dieser Zeit las, sind mir nur sehr wenige völlig aus dem Gedächtnis entschwunden, aber nicht alle sind mir heute noch so lieb wie damals. Ich habe nie Lust verspürt, Conan Doyles Sir Nigel, das mich zuerst auf Rittergeschichten stieß, nochmals zu lesen. Noch weniger würde ich heute Mark Twains Connecticut Yankee at King Arthur’s Court lesen, das damals meine einzige Quelle für die Arthur-Geschichte war und das ich um der durchscheinenden romantischen Elemente willen und ohne jegliche Beachtung des billigen Spotts, der sich gerade dagegen richtete, voller Seligkeit las.

Viel besser als diese beiden war die Trilogie von E. Nesbit: Five Children and It, The Phoenix and the Wishing Carpet und The Amulet. Das Letzte bedeutete mir am meisten. Es öffnete mir zum ersten Mal die Augen für die ferne Vergangenheit, jenes „dunkle Rückwärts und den Abgrund der Zeit“. Ich kann es noch heute mit Genuss lesen.

Eines meiner Lieblingsbücher war eine ungekürzte und reich illustrierte Ausgabe des Gulliver; und ich konnte endlos über einer fast vollständigen Sammlung alter Punch-Hefte brüten, die im Arbeitszimmer meines Vaters stand. Tenniel befriedigte mit seinem russischen Bären, dem britischen Löwen, dem ägyptischen Krokodil und all den anderen meine Leidenschaft für Tiere in Kleidern, während seine nachlässige und lustlose Behandlung der Pflanzenwelt mich in meiner eigenen Unkenntnis bestärkte. Dann kamen die Bücher von Beatrix Potter und damit endlich die Schönheit.

Es ist nicht zu übersehen, dass ich zu dieser Zeit – mit sechs, sieben und acht Jahren – fast völlig in meiner Imagination lebte; oder zumindest, dass die imaginativen Erlebnisse jener Jahre mir heute wichtiger erscheinen als alles andere. So übergehe ich eine Urlaubsreise in die Normandie (obwohl ich mich sehr deutlich daran erinnere) als bedeutungslos; könnte sie aus meiner Vergangenheit herausgeschnitten werden, so wäre ich dennoch fast genau derselbe Mensch, der ich bin.

Doch Imagination ist ein vages Wort und ich muss hier einige Unterscheidungen treffen. Man kann damit die Welt der Tagträume und wunscherfüllenden Fantasien meinen. Die war mir mehr als genügend vertraut. Ich dachte mir oft Geschichten aus, in denen ich eine gute Figur machte. Doch ich muss nachdrücklich betonen, dass diese Aktivität mit der Erfindung Tierlands nicht das Geringste zu tun hatte. Tierland war (in diesem Sinne) überhaupt keine Fantasiewelt. Ich kam nicht selbst als Figur darin vor. Ich war sein Schöpfer, nicht jemand, der in dieses Land aufgenommen werden wollte. Erfinden ist etwas grundsätzlich anderes als Tagträumen; wenn manche diesen Unterschied nicht erkennen können, liegt es daran, dass sie nicht selbst beides erlebt haben. Jeder, der beides kennt, wird mich verstehen. In meinen Tagträumen übte ich mich darin, ein Narr zu sein; indem ich Landkarten und Chroniken zu Tierland entwarf, übte ich mich darin, ein Romanautor zu sein. Ein Romanautor wohlgemerkt, nicht ein Dichter. Meine erfundene Welt war zwar (für mich) voller interessanter Dinge, Geschäftigkeit, Humor und Charakter; aber es war nichts Lyrisches darin, nicht einmal etwas Romantisches. Sie war geradezu erstaunlich prosaisch.1

Wenn wir also das Wort Imagination in einem dritten, höchsten Sinn verwenden, dann war diese erfundene Welt nicht imaginativ. Aber gewisse andere Erlebnisse waren es und ich will nun versuchen, davon zu berichten. Traherne und Wordsworth haben das viel besser getan, aber jeder muss seine eigene Geschichte erzählen.

Das Erste ist selbst nur die Erinnerung an eine Erinnerung. Als ich eines Sommertages neben einem blühenden Johannisbeerstrauch stand, stieg in mir plötzlich, ohne Vorwarnung und wie aus einer Tiefe nicht von Jahren, sondern von Jahrhunderten, die Erinnerung an jenen zurückliegenden Morgen im alten Haus auf, als mein Bruder seinen Spielzeuggarten mit ins Kinderzimmer brachte. Es ist schwer, Worte zu finden, die stark genug wären, um die Empfindung zu beschreiben, die über mich kam; nahe kommt der Sache vielleicht Milton mit seiner „gewaltigen Seligkeit“ des Paradieses. Natürlich war es ein Gefühl der Sehnsucht; aber Sehnsucht wonach? Gewiss nicht nach einer Keksdose voller Moos, nicht einmal (obwohl das dabei mitspielte) nach meiner eigenen Vergangenheit. „Ach, ich ersehne zu viel“ – und bevor ich wusste, was ich ersehnte, war die Sehnsucht selbst verschwunden, der Blick durch den Schleier vorbei, und die Welt wurde wieder alltäglich, leise bewegt vielleicht nur durch ein Sehnen nach der eben entglittenen Sehnsucht. Es hatte nur einen Augenblick gedauert; doch in einem gewissen Sinn war alles andere, was mir je widerfahren war, im Vergleich dazu belanglos.

Zum zweiten Mal lüftete sich der Schleier durch Squirrel Nutkin, und nur durch dieses Buch, obwohl ich auch alle anderen Bücher von Beatrix Potter liebte. Doch die anderen waren lediglich ein Vergnügen; dieses erschreckte mich, es machte mir zu schaffen. Es machte mir zu schaffen durch das, was ich nur als die Vorstellung des Herbstes beschreiben kann. Es klingt fantastisch zu sagen, dass ein Mensch sich in eine Jahreszeit verlieben könne, aber ungefähr das war es, was mir geschah; und wie zuvor war es ein Gefühl übermächtiger Sehnsucht.

Und man griff immer wieder nach dem Buch, nicht um die Sehnsucht zu befriedigen (das war unmöglich – wie könnte man den Herbst besitzen?), sondern um sie von Neuem zu erwecken. Auch in diesem Erlebnis schwang dieselbe Überraschung und dieselbe unvorhersehbare Bedeutsamkeit mit. Es war etwas ganz anderes als das gewöhnliche Leben und selbst die gewöhnliche Freude; wie man heute sagen würde, etwas „aus einer anderen Dimension“.

Der dritte Blick durch den Schleier kam durch Dichtung. Ich hatte Gefallen an Longfellows Saga of King Olaf gefunden; es war eine beiläufige, seichte Freude an der Handlung und an den kräftigen Rhythmen. Doch dann kam ein Moment, ganz anders als diese Freuden und wie eine Stimme aus viel weiter entfernten Regionen, als ich ziellos durch das Buch blätterte und dabei auf die ungereimte Übersetzung von Tegners Drapa stieß und dort las:

Ich hörte eine Stimme rufen:

Balder der Schöne ist tot,

ist tot ...

Ich hatte keine Ahnung, wer Balder war; doch sofort wurde ich in die riesigen Weiten des nördlichen Himmels entrückt und ersehnte mit quälender Intensität etwas, das ich niemals hätte beschreiben können (außer als etwas, das kalt, weiträumig, streng, blass und fern war); und dann fand ich mich, wie in den anderen Fällen, im selben Augenblick schon wieder dieser Sehnsucht beraubt und wünschte mir, sie wieder zu spüren.

Der Leser, der an diesen drei Episoden nichts Interessantes findet, braucht dieses Buch nicht weiterzulesen, denn in einem gewissen Sinn handelt die zentrale Geschichte meines Lebens von nichts anderem. Für diejenigen, die immer noch Lust verspüren, mehr zu erfahren, möchte ich die Qualität hervorheben, die diesen drei Erlebnissen gemeinsam ist. Es ist ein unerfülltes Begehren, das an sich schon begehrenswerter ist als jede andere Erfüllung. Ich nenne sie Freude, und das ist hier ein spezieller Begriff, der sowohl von „Glück“ als auch von „Vergnügen“ scharf unterschieden werden muss. Freude (in meinem Sinne) hat in der Tat ein und nur ein Merkmal mit diesen beiden gemeinsam, nämlich die Tatsache, dass jeder, der sie erlebt hat, sie wieder erleben möchte. Davon abgesehen und nur ihrer eigenen Qualität nach betrachtet könnte man sie ebensogut eine besondere Art von Unglück oder Trauer nennen. Doch selbst dann wäre es noch eine Art, die wir begehren. Ich bezweifle, dass irgendjemand, der die Freude je geschmeckt hat, sie gegen alle Vergnügungen der Welt eintauschen würde, wenn er über beides verfügen könnte. Freilich können wir über die Freude niemals verfügen, über das Vergnügen dagegen oft.

Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob die Dinge, über die ich gerade berichtet habe, sich vor oder nach dem großen Verlust ereigneten, der unsere Familie befiel und dem ich mich jetzt zuwenden muss. Es kam eine Nacht, in der ich krank war und vor Kopfschmerzen und Zahnweh weinte, und auch deswegen, weil meine Mutter nicht zu mir kam. Das lag daran, dass auch sie krank war; und das Merkwürdige war, dass sich mehrere Ärzte in ihrem Zimmer befanden, und es war ein Kommen und Gehen im ganzen Haus, und ständig hörte ich, wie sich Türen öffneten und schlossen. Es schien Stunden zu dauern. Und dann kam mein Vater in Tränen in mein Zimmer und versuchte, meinem verstörten Geist Dinge begreiflich zu machen, die mir noch nie in den Sinn gekommen waren. Es war tatsächlich Krebs und die Krankheit folgte dem üblichen Verlauf: Operation (damals operierte man noch im Haus des Patienten), scheinbare Besserung, Rückkehr der Krankheit, zunehmende Schmerzen und Tod. Mein Vater erholte sich nie mehr völlig von seinem Verlust.

Kinder leiden, glaube ich, nicht weniger als Erwachsene, aber anders. Für uns Jungen war der Verlust schon geschehen, bevor unsere Mutter starb. Wir verloren sie allmählich, so wie sie allmählich aus unserem Leben in die Hände von Krankenschwestern, in fiebrige Delirien und in den Dämmerschlaf des Morphiums entschwand, wie unser ganzes Dasein sich in etwas Fremdes und Bedrohliches verwandelte, als das Haus sich mit merkwürdigen Gerüchen und mitternächtlichen Geräuschen und geflüsterten Gesprächen füllte.

Dies hatte zwei weitere Wirkungen, von denen eine sehr schlimm und die andere sehr gut war. Zum einen trennte es uns von unserem Vater ebenso wie von unserer Mutter. Man sagt, geteiltes Leid bringe die Menschen einander näher; aber ich kann kaum glauben, dass das häufig zutrifft, wenn diejenigen, die das Leid teilen, in sehr unterschiedlichem Alter sind. Nach meiner eigenen Erfahrung zu urteilen, hat der Anblick des Elends und Entsetzens Erwachsener auf Kinder nur eine lähmende und entfremdende Wirkung.

Vielleicht war das unser Fehler. Vielleicht hätten wir, wären wir bessere Kinder gewesen, die Leiden unseres Vaters in dieser Zeit erleichtern können. Doch wir taten es gewiss nicht. Seine Nerven waren nie die besten und seine Emotionen immer unbeherrscht gewesen. Unter dem Druck der Angst wurde sein Temperament unberechenbar; er redete wild und handelte ungerecht. So verlor der Unglückliche während jener Monate, ohne es zu wissen, durch eine eigentümliche Grausamkeit des Schicksals nicht nur seine Frau, sondern auch seine Söhne.

Wir, mein Bruder und ich, suchten zunehmend ausschließlich beieinander all die Dinge, die das Leben erträglich machten, und vertrauten nur einander. Ich vermute, dass wir (oder zumindest ich) schon damals lernten, ihn zu belügen. Wir fühlten uns von allem im Stich gelassen, was das Haus zu einem Zuhause gemacht hatte; von allem außer jeweils dem Bruder. So schlossen wir uns mit jedem Tag enger aneinander (das war die gute Folge) wie zwei verängstigte Straßenjungen, die sich in einer trostlosen Welt aneinanderkauern, um Wärme zu finden.

Trauer in der Kindheit wird durch manches zusätzliche Elend erschwert. Man brachte mich in das Schlafzimmer, in dem meine tote Mutter lag; „um sie noch einmal zu sehen“, wie man sagte, in Wirklichkeit jedoch, wie mir sofort klar wurde, um „es“ noch einmal zu sehen. Da war nichts an ihr, das ein Erwachsener als Entstellung bezeichnet hätte – außer jener vollkommenen Entstellung, die der Tod selbst ist. Meine Trauer ging in Entsetzen unter. Bis heute weiß ich nicht, was die Leute meinen, wenn sie einen Leichnam „schön“ nennen. Der hässlichste lebendige Mensch ist ein wahrer Engel der Schönheit im Vergleich mit dem lieblichsten aller Toten.

All die folgenden Begleiterscheinungen wie der Sarg, die Blumen, der Leichenwagen und die Beerdigung flößten mir Grauen ein. Ich hielt sogar einer meiner Tanten einen Vortrag über die Absurdität von Trauerkleidung, in einem Stil, der den meisten Erwachsenen ebenso herzlos wie frühreif vorgekommen wäre; aber das war unsere liebe Tante Annie, die kanadische Frau meines Onkels mütterlicherseits, die fast so klug und heiter war wie meine Mutter selbst.

Auf meinen Abscheu vor all dem, was ich damals schon als Getue und falsche Feierlichkeit der Beerdigung empfand, lässt sich vielleicht eine Eigenheit zurückführen, die ich heute als Mangel erkenne, ohne sie jedoch jemals völlig überwunden zu haben – einen Widerwillen gegen alles Öffentliche, alles Kollektive; eine tölpelhafte Unfähigkeit zum Zeremoniellen.

Der Tod meiner Mutter gab den Anlass zu etwas, das mancher (freilich nicht ich) als meine erste religiöse Erfahrung ansehen könnte. Als man ihren Fall für hoffnungslos erklärte, erinnerte ich mich an das, was ich gelernt hatte; dass nämlich das Gebet des Glaubens erhört werde. Folglich machte ich mich daran, durch schiere Willenskraft in mir den festen Glauben zu erzeugen, dass meine Gebete um ihre Heilung Erfolg haben würden; und ich glaubte, das auch geschafft zu haben. Als sie dennoch starb, änderte ich meine Strategie und steigerte mich in den Glauben hinein, es werde ein Wunder geschehen.

Interessant daran ist, dass die Enttäuschung, die ich erlebte, ohne weitere Folgen blieb. Die Sache hatte nicht funktioniert, aber ich war es gewohnt, dass Dinge nicht funktionierten und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.

Ich denke, die Wahrheit ist, dass der Glaube, zu dem ich mich selbst hypnotisiert hatte, in sich zu unreligiös war, als dass sein Scheitern ein religiöses Aufbegehren in mir hätte hervorrufen können. Ich hatte mich Gott oder meiner Vorstellung von Gott genähert, ohne Liebe, ohne Ehrfurcht, ja ohne Furcht. In dem geistigen Bild, das ich mir von diesem Wunder machte, sollte er weder als Erlöser noch als Richter, sondern lediglich als Zauberer auftreten; und sobald er getan hatte, was von ihm erwartet wurde, würde er, so meinte ich, einfach – nun, weggehen. Mir kam nie der Gedanke, die gewaltige Begegnung, die ich gesucht hatte, könnte noch irgendwelche anderen Konsequenzen haben als nur die Wiederherstellung des Status quo. Ich stelle mir vor, dass ein „Glaube“ von dieser Art oft in Kindern entsteht und dass sein Scheitern keinerlei religiöse Bedeutung hat – genausowenig wie die geglaubten Dinge eine religiöse Bedeutung hätten, wenn sie denn geschehen könnten und so einträfen, wie das Kind sie sich vorstellt.

Mit dem Tod meiner Mutter verschwand alles gefestigte Glück, alles Ruhige und Verlässliche aus meinem Leben. Spaß, Vergnügen und viele Stiche der Freude sollten noch kommen; aber die alte Geborgenheit war dahin. Es gab nur noch Meer und Inseln; der große Kontinent war versunken wie Atlantis.

1Für Leser meiner Kinderbücher lässt sich das vielleicht am besten verdeutlichen, indem ich sage, dass Tierland nicht das Geringste mit Narnia gemein hat, von den anthropomorphen Tieren einmal abgesehen. Tierland schloss durch seinen ganzen Charakter auch den entferntesten Schimmer des Wunderbaren aus.

ZWEITES KAPITEL

Konzentrationslager

Arithmetik mit farbigen Ruten.

Times Educational Supplement,

19. November 1954

Klop-klop-klop-klop ... wir sitzen in einer vierrädrigen Droschke und rattern über die unebenen Kopfsteinstraßen von Belfast durch das dunstige Zwielicht eines Septemberabends im Jahr 1908; mein Vater, mein Bruder und ich. Zum ersten Mal bin ich auf dem Weg in die Schule. Die Stimmung ist gedämpft. Mein Bruder, der den meisten Anlass dazu hat, weil er als Einziger weiß, was auf uns zukommt, zeigt seine Gefühle am wenigsten. Er ist bereits ein Veteran. Mich hält vielleicht die Aufregung noch ein wenig aufrecht, aber nicht sehr.

Im Moment beschäftigen mich am meisten die schrecklichen Kleider, die ich anziehen musste. Noch heute morgen – ja, noch vor zwei Stunden – bin ich in Shorts und Blazer und Sandalen herumgetollt. Jetzt ersticke ich fast und schwitze und es juckt mich überall unter dem dicken, dunklen Zeug, während der Eton-Kragen mir den Hals zuschnürt und die Füße in den ungewohnten Stiefeln mir jetzt schon wehtun. Ich trage Knickerbocker, die am Knie zugeknöpft werden. Von nun an soll ich etwa vierzig Wochen im Jahr und manches Jahr lang jeden Abend, wenn ich mich ausziehe, die rote, schmerzende Druckstelle von diesem Knopf vor Augen haben. Doch das Schlimmste ist der offenbar aus Eisen gemachte steife Hut, der meinen Kopf umklammert.

Ich habe von Jungen in derselben misslichen Lage gelesen, die dergleichen als Zeichen des Erwachsenwerdens willkommen hießen; aber ich empfand nicht so. Nichts in meiner Erfahrung hätte mich auf den Gedanken gebracht, es sei schöner, ein Schuljunge zu sein als ein Kind, oder schöner, ein Mann zu sein als ein Schuljunge. Mein Bruder sprach während der Ferien nie viel von der Schule. Mein Vater, an dessen Wort ich nicht zweifelte, stellte das Leben eines Erwachsenen als eine unaufhörliche Plackerei unter der ständigen Drohung des finanziellen Ruins dar. Nicht dass es seine Absicht gewesen wäre, uns zu täuschen. Sein Temperament war nun einmal so, dass er tatsächlich glaubte oder zumindest fühlte, was er sagte, wenn er, wie er es häufig tat, ausrief: „Bald landen wir noch im Armenhaus!“

Aber ich nahm das alles für bare Münze und blickte dem Erwachsensein mit den düstersten Erwartungen entgegen. Das Anlegen der Schulkleidung kam indessen, wie ich wohl wusste, der Einkleidung in eine Gefängnisuniform gleich.

Wir erreichen den Kai und gehen an Bord des alten „Fleetwood-Schiffes“; und nach einem freudlosen Rundgang über das Deck verabschiedet sich mein Vater von uns. Er ist tief bewegt; ich dagegen hauptsächlich verlegen und peinlich berührt. Kaum ist er wieder am Ufer, heitert sich unsere Stimmung vergleichsweise geradezu auf. Mein Bruder zeigt mir das Schiff und erzählt mir von all den anderen Schiffen in Sichtweite. Er ist ein erfahrener Reisender und ganz Mann von Welt.

Eine gewisse angenehme Erregung überkommt mich. Mir gefällt, wie sich die Lichter backbord und steuerbord im öligen Wasser spiegeln, das Rattern der Winden, der warme Geruch aus der Luke des Maschinenraums. Wir legen ab. Die schwarze Fläche zwischen uns und dem Kai wird breiter; ich spüre das Pochen der Schrauben unter mir. Bald gleiten wir den Lough entlang; man schmeckt Salz auf den Lippen und der Lichterhaufen, der sich achtern von uns entfernt, ist alles, was ich je gekannt habe.

Als wir später unsere Kojen aufsuchen, erhebt sich ein starker Wind. Es ist eine raue Nacht und mein Bruder wird seekrank. Absurderweise beneide ich ihn um diese Leistung. Er verhält sich schließlich so, wie es sich für erfahrene Reisende gehört. Mit großer Mühe gelingt es mir, mich zu übergeben, aber das Ergebnis ist armselig – ich war und bin ein unerschütterlich guter Seefahrer.

Kein Engländer wird meine ersten Eindrücke von England nachvollziehen können. Als wir von Bord gingen, ich nehme an gegen sechs Uhr morgens (obwohl es mir wie Mitternacht erschien), fand ich mich in einer Welt wieder, die mich augenblicklich mit Abscheu erfüllte. Die flache Küste von Lancashire am frühen Morgen ist wirklich ein trostloser Anblick; auf mich wirkte sie wie die Ufer des Styx. Die fremden englischen Akzente, die von überallher auf mich eindrangen, kamen mir vor wie die Stimmen von Dämonen.

Doch das Schlimmste war die englische Landschaft zwischen Fleetwood und Euston. Selbst für mein erwachsenes Auge scheint diese Hauptstrecke durch den langweiligsten und unfreundlichsten Streifen der Insel zu verlaufen. Doch für ein Kind, das bis dahin immer in Sichtweite der See und hoher Bergkämme gelebt hatte, sah es so aus, wie wohl Russland für einen englischen Jungen aussehen würde. Diese Flachheit! Diese Endlosigkeit! Diese Meilen über Meilen gleichförmiger Landschaft, die einen von der See abschneidet, einsperrt, erstickt! Nichts stimmte; statt Steinwällen und Hecken gab es hölzerne Zäune, Bauernhäuser aus roten Ziegeln statt weißer Landhäuser, die Felder zu groß, die Heuschober nicht in der richtigen Form. Zu Recht heißt es im Kalevala, dass im Haus des Fremden der Boden voller Knorren ist. Inzwischen ist die Feindschaft begraben, aber in jenem Augenblick erfasste mich ein Abscheu vor England, der erst nach vielen Jahren heilte.