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Max Schimke

Freund unter Feinden

Wie ich als junger Soldat
den Zweiten Weltkrieg überlebte

herausgegeben von Werner Schimke

© Brunnen Verlag Gießen 2017
Umschlagfotos: privat
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
ISBN Buch 978-3-7655-0984-1
ISBN E-Book 978-3-7655-7500-6

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Vorwort von Werner Schimke

Die „Reichskristallnacht“ im November 1938

Frankreichfeldzug

An der Ostfront

Begegnung fürs Leben

Auf dem Weg nach Stalingrad

Aufbruch Richtung Balkan

Kriegshochzeit

Der Krieg nähert sich dem Ende

In Kriegsgefangenschaft

Dankbarer Blick zurück und getroste Hoffnung für die Zukunft

Nachwort von Werner Schimke

Vorwort von Werner Schimke

Gott sei Dank, ehrlich und von ganzem Herzen, denn der junge Soldat, der den Zweiten Weltkrieg überlebte, wurde mein Vater. Im Herzen Berlins war er in ärmsten Verhältnissen und in einer großen Hausgemeinschaft unter armen Menschen aufgewachsen. Er hatte auf so vieles verzichten müssen und Schicksale miterlebt und kennengelernt, die sein ganzes späteres Leben beeinflussen und prägen sollten.

Schon als Jugendlicher verlor er im Alter von fünfzehn und siebzehn Jahren Vater und Mutter. Mit seiner Arbeitsstelle, einem jüdischen Teppichgeschäft, wo er gelernt hatte und anschließend als Dekorateur weiterbeschäftigt wurde, fühlte er sich sein ganzes Leben lang innerlich verbunden. Dort erfuhr er viel Gutes, sodass er stets mit Dank und Bewunderung an all die Menschen zurückdachte, die so viel für ihn getan hatten. Zum größten Teil waren dies jüdische Menschen, die in den Kriegsjahren sicherlich alle umgekommen sind. Gerade auch in der Zeit zwischen 1933 und 1939, seiner eigentlichen Jugendzeit, ereignete sich so viel politisch und weltanschaulich wie wohl in keiner anderen Zeit zuvor oder danach. Wenn Max Schimke sich auch aus all den politischen Veranstaltungen heraushalten konnte und nie etwas mit den Nazis zu tun hatte, musste er doch hautnah miterleben, was für ein großes Unrecht gerade an den Juden, mit denen er doch nur die besten Erfahrungen gemacht hatte, in dieser Zeit begangen wurde.

Als Zwanzigjähriger wurde er zum Militärdienst einberufen und kämpfte sechs Jahre lang unter manchen Todesgefahren als Soldat an verschiedenen Kriegsfronten. Dazwischen lernte er die Frau seines Lebens kennen und heiratete sie. In der Nachkriegszeit baute er mit ihr zusammen, trotz vieler Entbehrungen und Einschränkungen, eine Familie und eine neue Existenz mit eigenem Haus und großem Garten in dörflicher Idylle auf. Im Krieg war ein großer Teil seiner geliebten Heimatstadt Berlin fast völlig zerstört worden. Und 1961 kam dann noch die schreckliche Todesmauer dazu, die für die Einwohner von Berlin so manche Tragödie mit sich brachte.

Seine packende und bewegende Lebensgeschichte hat Max Schimke in den letzten Jahren für seine Kinder und Enkel in fünf handgeschriebenen Büchern ausführlich festgehalten und mit vielen Fotos dokumentiert. Die Aufzeichnungen, wie mein Vater als junger Soldat den Zweiten Weltkrieg sechs Jahre lang überlebte, sollten aber nicht nur seinen Angehörigen vorbehalten bleiben, sondern auch einen Beitrag gegen das Vergessen der wahnsinnigen Grausamkeit des Zweiten Weltkrieges leisten mit den etwa 55 Millionen Kriegstoten und den vielen unsinnigen Zerstörungen sowie der Sinnlosigkeit von Krieg im Allgemeinen (Schätzungen über den Zweiten Weltkrieg, die Verbrechen und Kriegsfolgen einbeziehen, reichen bis zu 80 Millionen Toten). Denn es gibt ja heute kaum noch lebende Zeitzeugen dieser schrecklichen Ereignisse. Deshalb habe ich dieses spannende und auch berührende Buch aus den Aufzeichnungen meines Vaters zusammengestellt.

Werner Schimke im Juni 2017

Die „Reichskristallnacht“ im November 1938

Es war am 8. November 1938, ein Tag, den ich in meinem Leben nie vergessen werde, mein vorletzter Arbeitstag, denn am 11. November sollte ich zum Arbeitsdienst einberufen werden. Schon Tage davor wurden von den nationalsozialistischen Parteiorganen Parolen gegen die Juden herausgegeben, die Schaufenster jüdischer Geschäfte verschmiert und zum Teil jüdische Bürger, die ja den Judenstern tragen mussten, öffentlich beschimpft. Doch was sich an diesem 8. November ereignet hat, das kann man mit Worten fast nicht beschreiben.

Im September hatte ich mir von einem jüdischen Schneider, der mir von meinem Geschäft aus, wo ich als Dekorateur arbeitete, besonders empfohlen wurde, einen Anzug machen lassen. Er war auch sehr preiswert und kostete nur 60 Reichsmark. Ich konnte ihn sogar in drei Monatsraten bezahlen. Darum machte ich mich am 8. November nach Geschäftsschluss auf den Weg zu meinem Schneider, um die letzte Rate zu bezahlen. Er wohnte in einem ausgesprochenen Judenviertel, nicht weit von meinem Geschäft entfernt. Doch in dieser Straße da war die Hölle los, denn so konnte man es nur nennen, was sich dort abspielte. So zogen Männer der SA, der uniformierten und bewaffneten paramilitärischen Sturmabteilung, wie die Kampf-, Schutz- und Propagandatruppe der Nationalsozialisten genannt wurde, Juden aus ihren Häusern, schnitten ihnen die Bärte und zum Teil auch die Haare ab und schlugen sie mit Schlagstöcken.

Ich konnte nur mühsam bis zum Haus meines Schneiders gelangen, und als ich schon im Treppenhaus war und gerade hinaufgehen wollte, kamen mir mehrere SA-Männer entgegen. Höhnisch lachend zerrten sie meinen Schneider die Treppe hinunter, der sich ja nicht wehren konnte, denn er war schon ein etwas gebrechlicher älterer Mann. Sie zerrten ihn an mir vorbei auf die Straße und auch mich brüllten sie an, was ich wohl in diesem Haus wolle. Ich konnte meine Tränen nicht verbergen und ein unsagbarer Hass stieg in mir auf. Ja, ich schämte mich, dass ich einfach nur dastand und zuschaute, ohne helfen zu können. Aber ich wusste, wenn ich auch nur ein einziges Wort gesagt hätte, hätten sie mich auch mitgenommen. So konnte ich nur sprachlos mit ansehen, wie sie meinen Schneider beschimpften, ihm den Bart abschnitten und ihn schlugen.

Dieser Mann, der niemandem etwas Böses getan hatte, schaute mich völlig hilflos an, als wenn er fragen wollte, ob ich ihm denn nicht helfen könnte. Er ließ alles geduldig über sich ergehen, ohne sich auch nur mit einem Wort zu rechtfertigen. Ich konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen und lief fort, so schnell ich nur laufen konnte.

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf, denn ich sah immer nur den Hilfe suchenden Blick meines Schneiders vor mir. Ich kam mir wie ein erbärmlicher Verleugner und Verräter vor und hatte danach nicht einmal mehr den Mut, ihm die restlichen 20 Mark zu bringen, die ich ihm ja noch schuldete. So sehr schämte ich mich, diesem Menschen noch einmal unter die Augen treten zu müssen, obwohl ich ihm so gerne gesagt hätte, wie abscheulich ich dies alles empfunden hatte. Ich zahlte ihm das restliche Geld per Zahlungsüberweisung mit der Post ein. Doch mein Gewissen ließ mich nicht zur Ruhe kommen und ich überlegte ständig, wie ich diesem armen Mann wohl helfen könnte. Aber ich sah einfach keine Möglichkeit und ich dachte eigentlich nie daran, dass ich diesem Mann je noch einmal begegnen würde.

Jener Abend, an dem ich all das Schreckliche miterlebt hatte, war allerdings nur der Anfang der Reichskristallnacht gewesen. In dieser schrecklichen Nacht wurden in Berlin die Synagogen angezündet und in einem großen Teil der jüdischen Geschäfte die Schaufenster eingeschlagen. Auch in meinem Geschäft sah es verheerend und trostlos aus. Wie konnte so etwas geschehen?

Ich musste mich schmerzlich daran erinnern, wie, zwei Tage nachdem mein Vater begraben worden war, am 30. Januar 1933 die Zeit des Nationalsozialismus unter der Führung von Adolf Hitler begonnen hatte. Bis spät in die Nacht hinein hatte es Fackelzüge der SA gegeben, die sich durch alle Straßen von Berlin bewegten. Damals hatte ein ganz neuer Zeitabschnitt gerade hier in Berlin begonnen. Doch die Mieter in unserem Haus und die meisten Bewohner unserer Straße hatten sich mit dieser neuen Regierung und mit Adolf Hitler als Reichskanzler nicht identifizieren können. Der Bezirk Mitte war der Bezirk in Berlin gewesen, wo die Nationalsozialisten am wenigsten Stimmen bekommen hatten. Unser Haus Köpenickerstraße 35 war sogar als die „Rote Burg“ bezeichnet worden. Ja, schon nach wenigen Tagen waren einige unserer Hausbewohner von der SA abgeholt worden und wir hatten sie nie wieder gesehen. Wie wir später erfahren hatten, waren sie in das Konzentrationslager Oranienburg im Norden von Berlin gebracht worden. Im Grunde war ich beinahe froh gewesen, dass mein Vater vorher gestorben war, denn auch er war wohl auf der Liste der SA gestanden, und eine Festnahme und den Abtransport in ein Konzentrationslager hätte meine Mutter damals sicherlich nicht überlebt.

Von da an hatten wir auf der Hut sein müssen, denn überall gab es jetzt Spitzel, die nur darauf warteten, Menschen den Nazis auszuliefern. Das hatte schon in der Schule begonnen, und ganz besonders schlimm war es in den staatlichen Organen sowie bei den Behörden. So sollten nach Möglichkeit die Erwachsenen in die Partei oder in die SA, die Jugendlichen in die Hitlerjugend und die Kinder dem sogenannten Jungvolk beitreten. Mein Bruder und ich hatten uns in der ganzen Zeit, auch in den kommenden Jahren, aus allem raushalten können und wir hatten es immer verstanden, zum Nazisystem Abstand zu halten. Wir hatten aber auch nur Freunde und Bekannte, die so wie wir gesinnt waren, und so ist es uns nicht allzu schwergefallen, unsere bisherige Gesinnung zu bewahren. Wenn wir uns jedes Jahr einmal, am 1. Mai, am Tag der Arbeit, im Lustgarten neben dem Berliner Dom zum Aufmarsch hatten versammeln müssen, so waren wir die Ersten, die unbemerkt wieder verschwunden waren. In den ganzen Jahren bis zum Kriegsausbruch 1939 hatte ich sonst an keiner politischen Veranstaltung teilgenommen und hatte auch den Führer, wie Adolf Hitler genannt wurde, nie in Berlin gesehen. Und jetzt war ich echt froh, Berlin für ein halbes Jahr verlassen und meinen Arbeitsdienst antreten zu können. Doch diese schreckliche Reichskristallnacht würde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen können.

Beim Arbeitsdienst

Niemals vorher hätte ich geglaubt, dass ich einmal so gerne meinen Arbeitsdienst antreten würde. Aber ich brauchte einfach eine neue Umgebung und wollte vergessen können. Die letzten Tage hatten mich so geschockt, dass ich mich darauf freute, Berlin für einige Zeit verlassen zu können. Mein Arbeitsdienstlager war in Segendorf, 12 Kilometer von Neuwied im Rheinland, am Rande des Westerwaldes. Es war wunderschön auf einer Anhöhe am Waldrand gelegen. Unsere Arbeitsaufgabe bestand darin, ein Waldstück zu roden und nutzbares Ackerland daraus zu machen.

Es war eine Arbeit, die nicht leicht war, aber dennoch Spaß machte. Wir waren den ganzen Tag in der frischen Luft und bekamen einen guten Appetit, woran es mir bis dahin meistens gefehlt hatte. Zugleich wurden wir auch militärisch geschult, wenn auch nur mit dem Spaten, aber Disziplin musste sein. Für viele von uns war es sicherlich kein Fehler, ein wenig Ordnung zu lernen. Mir fiel das allerdings ziemlich leicht, und so wurde ich schließlich sogar als Vorbild wegen meiner Schrankordnung und meines Bettenbaus hingestellt. Die ganze Abteilung, und das waren immerhin 160 Mann, musste meinen Schrank und meinen Bettenbau besichtigen und ich war bald im ganzen Lager bekannt. Dies stärkte schon mein Selbstvertrauen und tat mir sichtlich gut. Wahrscheinlich lag es an meinem Beruf, denn als Dekorateur war ich gewohnt, alles exakt und dekorativ zu gestalten.

Ich konnte jedoch noch einen weiteren Titel erwerben. Jeden Morgen wurden fünf Männer zum Kartoffelschälen in die Küche abkommandiert, sodass jeder einmal mit dieser Arbeit drankam. Da ergab es sich fast von selbst, dass man den schnellsten Kartoffelschäler ermitteln wollte. Jeder musste zehn etwa gleich große Kartoffeln schälen, wobei die Zeit gestoppt wurde. Obwohl ich gar nicht damit gerechnet hatte, konnte ich mir den Titel als Meister im Kartoffelschälen holen. Wenn dieser Titel auch kein ruhmreicher war, so durfte ich doch feststellen, dass ich dadurch so manche Vergünstigung hatte. Ich gehörte sogar zu den zehn Auserwählten, die zu Weihnachten fünf Tage in Urlaub fahren durften, was ich natürlich auch gerne in Anspruch nahm. So traf ich am Abend des 23. Dezembers an meinem zwanzigsten Geburtstag in Berlin ein und konnte zusammen mit meinem Bruder Werner bei meinem Stiefbruder Willy und seiner Familie sowohl meinen Geburtstag als auch das Weihnachtsfest feiern. Damals wusste ich noch nicht, dass es die letzte Feier in Berlin sein sollte. Am 27. Dezember musste ich wieder zurückfahren und hatte mich schnell wieder eingelebt. Doch meine Zeit im Arbeitslager verging sehr schnell und ich war froh, als ich am 1. April wieder im Zug saß und Berlin in Sicht war.

Die Einberufung

Als ich an einem Samstagabend im August vom Geschäft nach Hause kam, war ich nicht wenig erschrocken, einen Bescheid mit der Einberufung zum Militärdienst vorzufinden. So sollte ich mich schon zwei Tage später am Montag um neun Uhr morgens auf einer Sammelstelle in Berlin-Charlottenburg melden. Ich war völlig am Boden zerstört, denn ich konnte nicht einmal mehr meine Firma davon in Kenntnis setzen, sodass mein Bruder Werner dies am Montag für mich erledigen musste.

Es erschien mir alles so unendlich trostlos, bis mein Freund Kurt mich am Sonntag aufsuchte und mir berichtete, dass auch er einen Einberufungsbefehl für Montag zur gleichen Sammelstelle bekommen hatte. Das war für mich ein Lichtblick, denn geteiltes Leid war eben nur noch halbes Leid, und so sah schon alles nicht mehr ganz so dunkel aus. Also trafen wir am Montag gegen Mittag in Rathenow in der Mark Brandenburg, etwa 90 Kilometer von Berlin entfernt, in einer Kraftfahrerkaserne ein. Dort sollte eine Kraftfahrerkompanie neu aufgestellt werden.