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Joanne Bischof

Wo mein Herz

zu Hause ist

ROMAN

Amanda – für alles

Copyright © 2016 by Joanne Bischof

Translated from the English language: THE LADY AND THE LIONHEART

First published by: MASON JAR BOOKS

Titel der Originalausgabe: The Lady and the Lionheart

© 2016 Joanne Bischof

Originalausgabe veröffentlicht bei Mason Jar Books.


Bibelzitate sind entnommen der Ausgabe:

Lutherbibel, revidiert 2017,
© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.








© 2017 Brunnen Verlag Gießen

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlagfoto: Mark Owen/Trevillion Images

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN Buch 978-3-7655-2082-2

ISBN E-Book 978-3-7655-7488-7
www.brunnen-verlag.de

Die Wunden, die wir tragen, mögen bleiben;
doch es gibt eine Liebe, die alles neu zu machen vermag.

Inhalt

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Epilog

1

Roanoke, Virginia
Frühling 1890

Zum Zischen von Bügeleisen und umgeben von Seifengeruch trug Ella einen Stapel Betttücher die Treppe hinauf. Verschneites Abendlicht sickerte kühl und grau durch das Treppenhausfenster des Stadthauses, das nun als Krankenhaus diente. Nachdem Ella den Nachmittag im Keller verbracht hatte, vermochte sogar der Anblick von Nebel und sanft fallenden Flocken ihre Stimmung zu heben. Eigentlich unspektakulär, aber in diesen Tagen – vielmehr: Jahren – war sie dankbar für überhaupt etwas. Während der Wind den Schnee in Böen durch die Straße wirbelte, blieb ihr Blick an einem Farbtupfer hängen, der mit den Flocken dahintrieb. Ein Stück Schnur mit bunten Wimpeln. Nass vom Winterwetter trudelte das Band mit den fröhlichen Fähnchen über den Schnee. Rasch trat Ella näher ans Fenster, aber da war der Farbklecks schon aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Trotzdem lächelte sie.

„Entschuldigung, Fräulein Spülmagd.“

Beim Klang von Claras Stimme machte sich Ella im engen Treppenhaus so dünn wie möglich. „Kommen Sie vorbei?“

Clara fixierte sie mit ihren Augen, während sie sich vorbeizwängte. „Kaum. Und auf diese Betttücher warte ich schon den ganzen Tag.“ Mit einem missbilligenden Zungenschnalzen rückte die Krankenschwester ihre Haube auf dem Haar zurecht, das etwas dunkler war als Ellas blasses Hellblond, und stieß ihr dabei beinahe den schweren Wäschestapel aus der Hand. Ella hob den Blick, bemüht, weder die Geduld noch das Gleichgewicht zu verlieren. Noch ein Stockwerk. Und sie war kein Küchenmädchen. Sie war auch Krankenschwester.

Na ja … so gut wie.

Als sie sich in der Privatklinik von Dr. Penske vorgestellt hatte, hatte der Arzt nicht lange gebraucht, um aus ihr herauszubekommen, dass sie keine abgeschlossene Ausbildung hatte. Zwar hatte sie zu Hause ein paar Jahre die Schule besucht, sie aber vor dem Abschluss wieder verlassen. Stattdessen hatte sie sich selbst, so gut es ging, weiter in der Kunst der Krankenpflege unterrichtet – und das nicht nur aus den Standardlehrbüchern, sondern mithilfe der Lektüre medizinischer Fachzeitschriften.

Doch das hatte den Doktor keineswegs beeindruckt.

Trotzdem hatte er sie eingestellt, mit der strikten Anweisung, dass sie in der Spülküche blieb: Geschirr und Wäsche wusch, heißes Wasser bereitete, Besorgungen erledigte. Auf jeden Fall nicht mit den Patienten in Kontakt kam. Aber hin und wieder ergab sich eine Situation, in der sie einspringen und helfen konnte, wo Not am Mann war. Fertige Schulausbildung hin oder her.

Schule. Wie sie das Wort verabscheute. Noch ein Scheitern, das sie verfolgte.

Aber es war keine Zeit gewesen, die Ausbildung abzuschließen. Nicht, als sie mit knapp fünfzehn in ihrem Bett gekniet und das Kind eines Fremden zur Welt gebracht hatte. Hinter sich acht Monate voller Angst und Sorgen und dann Stunden voller Schmerz, nur um am Ende mit leeren Armen und einem gebrochenen Herzen dazustehen. Und dann all das selbstgerechte Getuschel der feinen Gesellschaft, dass es doch so besser sei – Gott sei Dank.

Aber für sie war der Tod ihres Sohnes verzweifelt weit entfernt davon, Gnade zu sein, wie alle behaupteten.

Heiße Schauer überliefen Ella, während sie gegen die Erinnerung an diese dunklen, freudlosen Tage ankämpfte und die saubere Wäsche nach oben trug. Als sie das oberste Stockwerk fast erreicht hatte, brachte der Klang von stürmischen Schritten sie dazu, sich umzudrehen. Ein Baum von einem Mann polterte fast in sie hinein – mit der ganzen Wucht seines von einem Trenchcoat umhüllten Körpers.

Ella steckte ein Aufschrei in der Kehle, aber der Anblick des Babys, das er im Arm hielt, brachte sie abrupt zum Schweigen. Aus purer Überraschung fiel ihr die Wäsche aus der Hand, während der Fremde Halt suchend nach dem Geländer griff.

Sein zerzaustes braunes Haar stand zu Berge, als ob tausend Sorgen daran zögen. „Ich brauche einen Arzt“, keuchte er. Mit einer Geschmeidigkeit, die jeder Logik – und da er Ella dabei sehr nahe kam, auch jedem Anstand – widersprach, stieg er über den Wäschehaufen auf den Treppenstufen. Dabei kitzelte irgendetwas Ellas Nase, ein Geruch von Kohlenrauch und … Karamell?

Ella wollte einen Schritt zurückmachen, konnte jedoch nicht ausweichen. Aber was spielte das auch für eine Rolle, als sie erneut erblickte, was er da im Arm hielt. Das Baby war in eine schneebestäubte Decke gehüllt und glänzte von Schweiß oder vielleicht auch Tränen. Ella streckte die Arme nach dem Kind aus, aber der junge Mann drückte es nur fester an sich.

„Einen Arzt!“ Seine blassgrünen Augen funkelten grimmig.

Ella verschlug es fast die Sprache. „Ähmm … folgen Sie mir.“

Sie schob die Wäsche beiseite und eilte die letzten Stufen hinauf, der junge Mann dicht neben ihr. Noch ein paar Stufen und sie drängte sich durch die Tür zur Kinderstation.

„Hierher“, rief sie über die Schulter und sah sich suchend nach dem Arzt um. „Dr. Penske. Hier ist ein Baby, das anscheinend hohes Fieber hat.“

Der Doktor wandte sich von dem Jungen ab, den er gerade untersuchte, und ließ den Blick über den geflickten Mantel und die ungebundenen Stiefel des Fremden schweifen, die polternd neben Ella zum Stehen kamen. Der Brustkorb des Fremden hob sich, während er nach Luft rang.

„Anscheinend?“ Dr. Penskes Tonfall war ebenso herablassend wie sein Blick.

„Ich … habe das Kind nicht untersucht“, erwiderte Ella.

Der Arzt schaute sich um. Weiter hinten im Saal waren zwei Schwestern mit irgendwelchen Verrichtungen beschäftigt. Er wischte sich mit dem Handrücken eine Locke aus der Stirn. „Also … warum tun Sie es dann jetzt nicht?“

Ich? Bisher hatte man ihr nur die niedrigsten Arbeiten anvertraut – Nachttöpfe leeren und Betten beziehen. Hoffentlich ahnte der Fremde das nicht. „Bitte legen Sie es hierher.“ Ella trat an eines der Kinderbetten und ließ das Gitter an einer Seite herunter. „Ich messe die Temperatur.“

Der Mann beäugte sie misstrauisch, tat aber, was sie sagte. Ellas Finger zitterten plötzlich, als sie das Kissen unter dem kleinen blonden Köpfchen zurechtschob. Noch nie hatte man ihr einen Patienten zugewiesen. Nicht ein einziges Mal. Aber sie hatte ihre Krankenpflegebücher vorwärts und rückwärts studiert und die anderen Schwestern Tag und Nacht beobachtet. Außerdem war sie die Älteste von fünf Geschwistern. Ella zwang sich zur Ruhe. Wenn es um Fieber ging, wusste sie, was zu tun war.

Sie prüfte den Puls des Kindes – knapp über einhundertzwanzig.

Ella wickelte das Baby aus der Decke und warf sie ans Fußende des Bettes. In einem zerknitterten Kleidchen und Pullover lag das kleine Mädchen vor ihr. „Wie heißt sie?“

Der Mann kniete jetzt auf der anderen Seite des Bettes, wo er das Gitter ebenfalls heruntergeklappt hatte. „Holland.“

Ein kurzer Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass er das ernst meinte. Ella strich dem Baby mit dem Handrücken über die rundliche Wange. Sie griff nach einem Thermometer und lockerte die Kleidung so weit, dass sie die Glasspitze unter den Arm des Kindes schieben konnte. „Wie alt ist sie?“

„Sieben Monate.“

„Seit wann hat sie Fieber?“

„Seit ein paar Tagen. Aber heute ist es schlimmer geworden.“

Das Quecksilber stieg. „Gut, dass Sie sie hergebracht haben.“ Ella wartete noch eine Minute, nahm dann das Thermometer heraus und atmete tief durch, als sie den Wert sah. Sehr gut sogar, dass er gekommen war. „Hatte sie Krämpfe?“ Ella zog dem Kind die Lederschühchen von den Füßen.

„Nein.“

„Ganz sicher?“

„Das wüsste ich doch wohl.“ In seiner Stimme schwang Ärger.

Ella hob besänftigend die Hand. „Der Doktor ist gleich bei ihr. Bitte setzen Sie sich doch.“

Sie wies auf einen Stuhl neben dem Bett. Der Fremde zog ihn heran und setzte sich so nah zu dem Kind, wie er konnte.

„Hat sie etwas getrunken?“, fragte Ella. „Und gegessen?“

„Gegessen kaum. Getrunken ein wenig Wasser.“ Er sah sich ratlos im Raum um und dann wieder das Kind an. „Wir haben sie kaum dazu gebracht, etwas zu trinken. Sie war so schläfrig.“ Der junge Mann beugte sich vor und strich mit einer Hand, die aussah, als könne er die Kleine damit in einem Schwung hochheben, über die winzigen Fingerchen. „Hey“, sagte er sanft und strich ihr die blonden Locken zurück. „Wach auf, meine Kleine.“

„Sie ist lethargisch“, sagte Ella, als das Kind die Augen nicht aufschlug. „Ich mache einen Tee und wir probieren, ob wir ihr nicht ein bisschen Flüssigkeit einflößen können.“

Ella entschuldigte sich und eilte davon. In der Küche füllte sie warmes Wasser in einen Topf und tat ein wenig Süßholzwurzel und eine kräftige Prise Zucker hinein.

„Ist er … ein Mensch?“

Ella musste aufschauen, um zu erfahren, dass die geflüsterte Frage von ihrer Freundin Abigail gekommen war. „Wovon redest du?“

„Sieh dir doch nur sein Gesicht an.“ Abigail zog die Augenbrauen hoch und erschauderte gekünstelt, aber ihr durchtriebener Gesichtsausdruck strafte sie Lügen. „Er macht ein bisschen zu sehr auf vernarrten Vater. Wie kann man so attraktiv sein und gleichzeitig so eine Glucke?“

„Er ist vielleicht einfach ein bisschen komisch.“ Ella zog ihre Schürzenbänder fest und strich sich die Uniform glatt. Mit einem hastigen Griff nach einem Mulltuch stieß sie beinahe den Korb mit Verbandszeug um.

„Na, er ist sicher ein bisschen mehr als das, denkst du nicht? Und da stellt sich mir die Frage …“

„Hast du nichts zu tun?“ Ella suchte nach einer Pipette, und als sie sie gefunden hatte, machte sie ein Tablett fertig.

„Seit der Zirkus da ist, treiben sich gerade eine Menge merkwürdiger Gestalten in der Stadt herum. Kurz vor dem Sturm sind sie angekommen und jetzt heißt es, bei dem Wetter sitzen sie hier fest.“ Abigails Blick hellte sich bei ihrer Entdeckung auf. „Ich wette, er kommt von dort.“

„Aus dem Zirkus?“ Ella dachte wieder an die bunte Schnur, die der Wind vor sich hergetrieben hatte.

„Liest du keine Zeitung? Und diese absonderlichen Geräusche heute Morgen – das waren wohl Elefanten.“

Ella musste sich beherrschen, nicht aus dem Fenster zu spähen, während Abigail ihr zuflüsterte, es sei ein Jammer, dass er nicht sie angerempelt hatte.

„Er hat mich nicht angerempelt“, murmelte Ella, als Abigail an ihr vorbei aus dem Raum ging und Dr. Penske seinen Kopf zur Tür hereinsteckte.

„Ich hab mir das Kind gerade angesehen. Wie hoch ist das Fieber?“, fragte er, während er seine Brille mit dem Saum seines Jackets polierte.

„Neununddreißig acht.“

Der Arzt warf einen Blick auf den Tee, den sie gerade abgoss. „Gut. Sie braucht viel Flüssigkeit, keine Decke, kalte Kompressen. Ich bin gleich wieder bei ihr. Behalten Sie sie gut im Blick.“

„Jawohl, Sir.“ Mit einem leichten Schaudern, dass man ihr eine solche Aufgabe anvertraute, trug Ella das Tablett ans Bett des Kindes.

Der Fremde auf dem Stuhl starrte das Kind so intensiv an, dass Ellas Schritte sich unwillkürlich verlangsamten. Er hatte dunkle Ringe um die Augen. Ella hatte schon früher besorgte Eltern gesehen, aber er übertraf sie noch. Sein finsterer Blick fiel auf Ella. Unwillkürlich raufte er sich die Haare. Etwas verunsichert stellte sie das klappernde Tablett ab. Der Mann richtete sich auf, aber sein wachsamer Blick haftete weiter an ihr.

Der Zirkus …

Ella begann, die Knöpfe am Pullover des Kindes aufzuknöpfen. Jetzt war vermutlich nicht der richtige Moment, um zu erwähnen, dass sie keine richtige Krankenschwester war. Vielleicht würde sie es einfach für sich behalten. Der Mann rieb sich das leicht stoppelige Kinn. Wenn sie ihn so betrachtete, musste Ella sich sehr viel Mühe geben, so zu tun, als wüsste sie nicht, was Abigail so ins Schwärmen gebracht hatte. Olivfarbene Haut setzte sich gegen blassgrüne Augen ab, die sie noch immer so eindringlich fixierten, dass sie beinahe den letzten Knopf vom kleinen gelben Pullover abgerissen hätte.

Sie war sich nicht sicher, ob sie schon jemals einen gesehen hatte, aber unvermittelt schoss ihr das Wort Zigeuner durch den Kopf. Ella nahm ein kaltes feuchtes Tuch und presste es auf die Wange des Kindes.

Mit gefurchter Stirn lehnte der junge Mann sich vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und faltete die Hände. Die Augenlider des Kindes zuckten, öffneten sich aber nicht.

Ella strich dem Mädchen eine feuchte Locke aus der Stirn. „Holland“, sagte sie leise, überrascht vom Klang des Namens, der allerdings erstaunlich gut zu dieser kleinen Elfe mit ihren blonden Locken und Rosenknospenlippen passte. Wie winzig sie war. Und in der Obhut dieses Mannes …

„Ihre – die Kleine?“

Der Mann nickte, während Ella dem Kind den Pullover auszog.

„Bekommen Sie Geld?“ Er griff in seine Jackentasche.

„Nicht jetzt. Darüber können wir uns später Gedanken machen.“

„Sind Sie sicher?“

„Ganz sicher.“ Ella schenkte dem Fremden ein hoffentlich beruhigendes Lächeln, setzte sich aufs Bett und nahm das Baby auf den Schoß. Holland war ganz schlaff, wie sie befürchtet hatte. „Hallo, meine Kleine“, flüsterte Ella. Die rundliche, winzige Gestalt des Mädchens zeigte, wie jung sie war. Ihr Kleid bestand aus etlichen farbigen Flicken, die Strumpfhose war an den Knien dünn. Nahm man noch die gestrickte Zipfelmütze hinzu, die Ella schon zur Seite gelegt hatte, sah die Kleine ebenso sehr wie ein Zigeuner aus wie ihr Vater. Ella sog etwas Tee in die Pipette und schob sie dem schlafenden Baby in den Mund. Sie drückte kurz auf das Gummi, sodass ein paar Tropfen herausliefen, und Hollands Kehle reagierte.

„Sehr gut, Schätzchen.“ Sie spürte den Blick des Mannes auf sich, als bohre er sich in sie hinein. Ella wischte dem Kind ein wenig Speichel ab und legte es in ihre Armbeuge. Ein weiterer Versuch war erfolgreich und bald war die Pipette leer.

Sie sah den Mann an. „Wir geben ihr alle fünfzehn Minuten ungefähr 30 Milliliter. Und ich versuche es auch mit ein bisschen Eis. Ich hole gleich etwas.“

Er nickte.

Besorgt darüber, wie das Baby bei ihrer Berührung zusammengezuckt war, legte Ella die Kleine wieder auf das Bett und klappte das Gitter hoch. Dann wischte sie dem Kind die Stirn ab und reichte dem Fremden das Tuch mit einer Geste, die bedeutete, er solle es so machen wie sie. Aber oh … sie musste ja noch die Angaben zur Person der Patientin aufnehmen. Dr. Penske führte in seiner Klinik ein strenges Regiment.

„Ich bin gleich wieder da.“ Eilig holte Ella das dicke Patientenregister und war im Handumdrehen zurück. Mit gezücktem Bleistift fragte sie so bestimmt wie möglich: „Ihr Nachname? Hollands Nachname?“

Er zögerte einen winzigen Moment. „Löwenherz.“

Ella neigte den Kopf ein wenig und wusste, dass ihre hochgezogenen Augenbrauen sie verrieten.

Der junge Mann wies mit der Hand auf das Register. „Schreiben Sie’s einfach auf.“

Beinahe hätte sich Ella entschuldigt, während sie den Namen aufschrieb, und fürchtete sich, die nächste Frage zu stellen. „Ihr Name, Sir?“

„Charlie. Und wie sie – Löwenherz.“

Bevor sie das notierte, warf Ella ihm einen Blick zu. „Charlie. Von Charles?“

„Nein, von Richard. Wie der König.“

Gegen ihren Willen musste Ella lachen.

„Meine Eltern hatten Sinn für Humor.“ Die Augenbrauen des jungen Mannes hoben sich steil.

Ella beendete ihre Eintragungen und legte das Buch zur Seite. Hollands Kopf war noch immer hochrot und Ella zog ihr kurzerhand das Flickenkleidchen aus, sodass sie nur noch in einer Windel dalag. Sie nahm das Kind auf den Arm und betastete den schweißnassen Rücken. „O meine Süße.“

Sanft wiegte sie die Kleine und hoffte, die kühle Luft würde dem Kind helfen. Sie selbst gab sich Mühe, nicht zu beachten, was die kleine Gestalt des Kindes – dieses leichte Gewicht – in ihrem Herzen anrichtete. Charlie Löwenherz beobachtete sie; er sah auf einmal sehr verletzlich aus. Auffallend verletzlich.

Er hatte dieselben dichten Wimpern wie das Baby und seine Haut war zwar dunkler, aber sein Profil wies eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem des Kindes auf. Während sie schwiegen, zog er sich ein Seidentuch vom Hals und steckte es in seine Tasche, wobei dunkle, fingerlose Handschuhe sichtbar wurden.

„Sind Sie Schausteller?“, fragte Ella in der Hoffnung, ihn zu beruhigen, während sie Holland im Arm wiegte.

„Wie bitte?“ Der junge Mann strich sich mit einer kräftigen Hand über das Gesicht, das schon etliche Tage kein Rasiermesser mehr gesehen hatte.

„Der Zirkus. Gehören Sie zum Zirkus?“

Meine Güte, das war sicher das Falscheste, was sie hatte sagen können.

Der Fremde machte keine Anstalten, ihre Frage zu beantworten, und griff stattdessen in die Tasche. „Wird dies …“ – er nahm eine Handvoll Münzen heraus – „wird dies reichen?“ Die Unsicherheit in seinem Blick hätte ihm seine eigene Frage beantworten können.

Ella brauchte nur einen Moment, um die kleine Summe zu überschlagen. Sie atmete langsam durch die Nase ein. „Ja.“ Aber es fühlte sich an wie eine Lüge.

Charlie musste das gespürt haben. „Für wie lange?“

„Für eine Nacht.“ Und das nur knapp. Ella strich mit der Hand über Hollands heiße Wange. Sie wünschte, es wäre anders, aber Dr. Penske vertrat strikte Grundsätze, was dieses Hospital anging, das sich um die oberen Zehntausend von Roanoke kümmerte. Sie waren schließlich im Privathaus des Doktors und der war nicht gerade ein Menschenfreund.

Davon hatte dieser Fremde sicher nichts geahnt, als er auf der Straße vor dem dreistöckigen Gebäude gestanden hatte. Dr. Penske gab sich zwar gelegentlich auch mit Ratenzahlungen für sein Honorar zufrieden, aber wenn dieser Mann zum fahrenden Volk gehörte, wusste sie nicht, wie großzügig der Doktor sein würde.

Charlie blinzelte rasch. „Schön. Ist das … ähem, genug Zeit, dass sie gesund wird?“

Ella gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Als der junge Mann sich hastig im Raum umsah, wusste sie, dass ihr das nicht gelungen war.

„Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?“ Er blickte wieder sie an. „Das ist alles, was ich habe.“

„Alles?“ Es war kaum genug, um eine warme Mahlzeit zu kaufen.

„Wollen Sie auch noch die Kleider, die ich am Leib trage?“

„Nein.“

Holland auf ihrem Arm wimmerte und Ella schaukelte sie leise.

„Mr Löwenherz …“

„Charlie.“

„Charlie, Sir … wir konzentrieren uns jetzt erst einmal auf heute Abend und auf Holland. Vielleicht geht es ihr morgen früh schon viel besser. Wir werden sie gut beobachten und alles für sie tun, was wir können. Wenn sie morgen noch weitere Behandlung braucht, überqueren wir diese Brücke, wenn wir da angekommen sind.“ Ella hielt seinem Blick stand und betete im Stillen, dass der Doktor sie nicht Lügen strafen würde. „Nur wegen ein bisschen Geld werden wir nicht zulassen, dass Holland etwas passiert.“

Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wurde sanfter, als sie seine Kleine beim Namen nannte. Schließlich nickte er. Sie spürte, dass die Atmosphäre zwischen ihnen sich veränderte, als er sie nahezu vertrauensvoll ansah.

„Danke“, sagte er.

„Keine Ursache. Sollten … können Sie die Mutter des Kindes irgendwie verständigen?“

„Die Mutter?“

„Ihre Frau?“

Charlie starrte auf die Matratze hinab und strich sich dann mit den Fingerspitzen über die Stirn, ohne aufzusehen. „Ich hatte nie eine Frau“, erwiderte er mit einem Tonfall, der ihr Gespräch wie heißes Wachs versiegelte.

In diesem Moment tauchte Abigail auf und bat Ella, ihr die Kampfertinktur in der Küche suchen zu helfen. Damit lenkte sie Ellas Gedanken von dem ab, was der Mann gerade angedeutet hatte, und richtete sie auf die Pflichten, die es zu erledigen galt. Es tat ihr weh, das Kind aus dem Arm zu legen und auf die kleine Matratze zu betten. Dann fiel ihr das Eis wieder ein. „Ich bin in ein paar Minuten zurück.“ Sie stellte das Tablett zurecht, sodass die feuchten Tücher in Charlies Reichweite waren.

Er dankte ihr mit einem leichten Nicken.

Als Ella vom Bett wegtrat, beugte er sich vor und küsste Holland auf die Stirn. In der Küche legte Ella die Pipette ins Waschbecken und warf über die Schulter einen Blick zurück, wo sie hörte, wie Charlie dem Baby leise etwas zuflüsterte – es klang beinahe wie ein Gedicht. Er sang nicht direkt, aber sie erkannte doch eine Art von Lied. Eines, das ihr bekannt vorkam. Wieder strich seine große Hand dem Kind die blonden Locken glatt. Sein Arm lag um die Kleine, als ob seine bloße Berührung jeden auf Abstand halten könnte, der hier eindringen und die beiden trennen wollte.

Sein Kummer war spürbar und Ella musste den Blick abwenden. Sie erinnerte sich erneut an ihre eigene Angst und dass es keine Rolle gespielt hatte, dass sie die Hoffnung nicht hatte aufgeben wollen. Trotzdem hatte sie sich auf den Knien wiedergefunden – nichts in den Händen als kalte Erde und kalten Stein. Und die Blumen, die sie auf ein Grab legte, das so klein war, dass man es fast übersehen konnte. Ihre Trauer war so tief, dass es sie nicht kümmerte, dass die Leute sie eine Dirne nannten. Sie wollten nicht wissen, dass sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Und dass man die eigene Seele nicht verkaufen musste und sie einem doch gestohlen werden konnte.

Mit einem weiteren Blick über die Schulter sah Ella, wie Charlie aufstand, Holland das Kissen zurechtzog und sich wieder auf die Stuhlkante hockte.

Vielleicht war das Ganze eine sehr schlechte Idee gewesen. Vielleicht war die Spülküche doch der beste Platz für Ella. Da war es sicher. Zwischen Bettpfannen, Flaschen und Schrubbern musste ihr Herz nicht auf das Leben reagieren.

Voll Kummer über ein kleines Mädchen namens Holland und einen kleinen Jungen, dessen Mutter es nicht übers Herz gebracht hatte, ihm einen Namen zu geben, stahl Ella sich davon.

2

Charlie lehnte sich im Stuhl zurück und schob damit versehentlich seinen Mantel von der Lehne. Er hob ihn auf und stopfte Schal und Handschuhe zurück in die Tasche. Dann fiel ihm Hollands kleiner Stofftiger ein, der in der anderen Tasche steckte. Er nahm das Tier heraus und legte es ihr in den winzigen Arm. Der Tiger war klein und der Stoff schon fadenscheinig, aber es gab nur wenige Momente, in denen sie ihn nicht bei sich hatte – selbst wenn sie um das Zelt herumkrabbelte oder das Spielzeug auf dem Bett in Charlies Wagen hin- und herdrehte. Und die blauen Augen leuchteten dabei vor Mutwillen.

Charlie wurde die Kehle trocken.

Es brachte ihn um, hier zu sitzen und nichts tun zu können, aber er hielt sich an das, was man ihm gesagt hatte: Flüssigkeit, kalte Umschläge und Medikamente, die sie nur hier bekommen konnten. Im Lauf der Stunden und mit der Hilfe dieser Frau war Hollands Fieber gesunken. Beim Gedanken daran griff Charlie wieder zu einem feuchten Tuch und wischte der Kleinen damit sanft über den Hals und die bloße Brust.

„Hey“, flüsterte er und stützte die Unterarme auf das Bett. „Du musst gesund werden. Ich brauche dich nämlich. Regina braucht dich auch. Und alle anderen ebenfalls, hörst du?“

Holland atmete langsam und schläfrig. Während sich ihre Brust hob und senkte, stützte Charlie das Kinn auf die gefalteten Hände und betrachtete das kleine Wesen. Hollands Hand war zur Faust geballt. Mit einem Finger, der beinahe so dick war wie ihr Handgelenk, strich Charlie darüber.

Fels des Heils, geöffnet mir …

Das Lied ging ihm nicht aus dem Kopf – wieder und wieder kamen die Worte, wie immer, wenn er nicht wusste, was er tun sollte, wenn ihm die Luft zu schwer wurde.

Birg mich, ew’ger Hort, in dir.

Er starrte auf ihre blasse Haut, dachte daran, wie oft diese winzigen runden Fingerchen ihn am Haar gezogen hatten oder an seiner Kappe, an allem, was sie zu packen bekamen. Er erinnerte sich an ihr Lachen, das von ganz tief unten kam und das er mit ein paar leidenschaftlichen Küssen auf ihren Nacken, ihre Wangen … oder die pummeligen Beinchen hervorlocken konnte. Charlie lächelte bei diesem Gedanken und hob Hollands schlaffe Finger an seinen Mund, um seine Lippen darauf zu pressen.

„Wie geht es ihr?“

Beim Klang der Stimme sah er auf, direkt in die blauen Augen der Schwester, die immer wieder gekommen und gegangen war. Die junge Frau legte die gebrauchten Tücher in einen Eimer. Wie hieß sie noch? Sie füllte die Pipette und versuchte zum wiederholten Mal, Holland ein wenig Tee einzuflößen, was nur mit Mühe gelang. Hatte die Schwester nicht Eis holen wollen?

Charlie knetete Hollands blaue Strickmütze in den Händen. Faltete sie zusammen und wieder auseinander.

Wie oft, wusste er nicht.

Schweigend machte sich die Schwester an Holland zu schaffen. „Das Fieber ist wieder gesunken. Das geschieht oft gegen Morgen. Das wird ihr eine kleine Erholungspause verschaffen.“ Sie untersuchte Holland eingehender, schaute ihr in den Mund und tastete den Hals ab. „Ich fürchte, das ist nicht nur eine einfache Erkältung. Ich werde heute ein bisschen nachlesen müssen.“

„Was ist mit dem Doktor?“

Dem Doktor, der kaum zwei Minuten Zeit für Holland gehabt hatte.

Wie diese Schwester zu dem Mann mit den aufgekrempelten Hemdsärmeln hinübergesehen hatte, das hatte Charlie nicht gefallen. Und auch nicht das Misstrauen, das er in ihrer Miene las. Beunruhigt sah Charlie erst zum Doktor, dann wieder zu der Schwester. „Ich habe vergessen, Sie nach Ihrem Namen zu fragen.“

Sie neigte den Kopf, sodass der goldblonde Zopfkranz um ihren Kopf sichtbar wurde. „Ella. Schlicht und langweilig Ella.“ Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Meine Eltern hatten wohl vergessen, dass sie auch Humor haben.“

Charlie sah sie forschend an und stellte fest, dass sie ihn aufzog. Noch jemand, der über seinen Namen lachte. Sarkasmus stieg ihm die Kehle hoch. „Sie sind wirklich witzig, wissen Sie das?“

Ella verdrehte die Augen und Charlie hätte seine zynische Bemerkung bedauert, wenn sie sie nicht verdient gehabt hätte. Dabei hatte er gerade angefangen, sie zu mögen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass es noch immer neblig war und leicht schneite. Noch ein Tag, an dem der Zirkus keine Vorstellung geben konnte. „Schneit es in Roanoke immer um diese Jahreszeit?“, fragte er abwesend, ohne eine Antwort von der schlichten und langweiligen Ella zu erwarten.

„Ich könnte mich nicht erinnern“, erwiderte sie trotzdem. „Es ist doch schon spät für Schnee. Ich hatte schon gehofft, dass der Frühling kommt …“

Ja, das hatte der Zirkus auch. Alle hatten es nur als einen Zwischenstopp betrachtet – drei Tage mit Vorstellungen und dann würden sie weiterziehen. Stattdessen saßen sie nun in dieser Stadt fest. Charlie sah auf Holland in ihrem Bett hinab und wusste, es war gut, dass er den Tag freihatte.

Den Blick auf die Schwester gerichtet, beobachtete er sie – zu intensiv, wie er bemerkte, als sie errötete. „Wie spät ist es?“, fragte Charlie hastig.

Was sie nicht im Geringsten zu stören schien. Sie warf einen Blick zur gegenüberliegenden Wand.

„Fast fünf Uhr morgens.“

Vielleicht könnte er sie doch mögen.

„Wie lange bleiben Sie noch?“, fragte er.

„Ich gehe in einer guten Stunde. Dann wird sich eine andere Schwester um Holland kümmern. Sie versteht etwas von ihrer Arbeit und ist sehr nett.“

„Danke.“ Aber er wollte nicht, dass diese junge Schwester ging. Sie reizte ihn zwar immer wieder, aber sie machte ihre Sache mit Holland gut.

In diesem Moment stürmte der Doktor in den Raum, offensichtlich erzürnt, sein pechschwarzes Haar wirr. Er knurrte etwas von fehlenden Laken und Ellas Wangen färbten sich, als sie eingestehen musste, dass die Wäsche noch im Treppenhaus lag. Der Doktor begleitete sie zu einem Schrank in der Nähe, wo eine längere Predigt über Sauberkeit und prompte Erledigung von Aufgaben auf sie niederging. Charlie versuchte nicht zu lauschen, aber er hörte doch, wie der Arzt sagte, er würde ihr den Lohn kürzen.

Der junge Mann setzte sich auf und blickte zu den beiden hinüber.

Ella entschuldigte sich und verschwand dann für etliche Minuten, vielleicht, um die Wäsche zu holen. Als sie zurückkam, machte sie sich schweigend daran, Hollands Nachttisch aufzuräumen. Charlie strich sich über die Wange. Vielleicht sollte er dem Doktor sagen, dass er daran schuld war, dass sie die Wäsche aus der Hand gelegt hatte. Aber er hatte so eine Ahnung, dass sie das nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen würde.

Der blasse Schatten unter ihren Augen erinnerte ihn daran, dass sie nicht geschlafen hatte – und er ebenfalls nicht. Nicht geschlafen und nichts gegessen. Und er trug immer noch das halbe Kostüm von der Parade gestern, die im Schneetreiben untergegangen war. Die Weste war jetzt aufgeknöpft und er hatte die Handschuhe ausgezogen, aber es gehörte sich nicht, sich in der Öffentlichkeit ohne Handschuhe zu zeigen. Er überlegte, sie wieder anzuziehen, aber die Erschöpfung hielt ihn davon ab.

Seit sie hier in der Stadt waren, hatte er Holland nur allein gelassen, wenn er arbeiten musste, und war immer so schnell wie möglich zu seinem Zelt zurückgeeilt. Aber als er gestern seinen Mantel ausgezogen und sich neben Hollands Bett gekniet hatte, hatte er gewusst, dass es ihr nicht besser ging … sondern schlechter.

Charlie rieb sich mit Fingern und Daumen über die Stirn, um die aufziehenden Kopfschmerzen zu vertreiben. Die Kleine schlief, er konnte wohl auch die Augen schließen. Nur für ein paar Minuten.

„Was bedeutet das?“, fragte die Schwester leise. „Diese Schrift.“

Er sah zu ihr hoch. „Hmmh?“

„Auf Ihrer Hand.“

Charlie verdrehte die Hände, um zu sehen, welche Hand sie meinte. „Ach, das … Carpe Diem.“ Er rieb sich wieder die Stirn und ließ dann die Arme sinken. Auf ihren fragenden Blick hin, fügte er hinzu: „Es bedeutet: Nutze den Tag.“

„Oh.“ Ihre Stimme war leise. Sie betrachtete seine Hand erneut. „Ist es ein …“

Er kniff die Augen zusammen und wartete ab. Zögernd biss Ella sich auf die Unterlippe.

„Ein Tattoo“, beendete er den Satz für sie.

Wieder starrte sie auf die feine schwarze Schrift. „War das sehr schmerzhaft?“

Charlie warf ihr einen raschen Blick zu. „Dieses nicht.“ Als ihre Augen sich weiteten, wusste er, dass die Bemerkung unangebracht war. „Finden Sie das anstößig?“

Ella schob die Lippen vor. „Warum haben Sie es machen lassen?“

„Damit ich es nicht vergesse.“

Sie hob die Augenbrauen. „Geht es wieder ab?“

Charlie schüttelte den Kopf und nahm Ellas Gesichtsausdruck in sich auf. Die unausgesprochenen Gedanken, die er auf ihrer Stirn lesen konnte. Er hatte sie nicht schockieren wollen, hatte es aber doch getan. Er sprach kaum je mit Zeiseln – Menschen von außerhalb der Zirkuswelt. Jedenfalls nicht außerhalb des Zirkusplatzes. Und nicht offen. Etwas an diesem Gespräch faszinierte ihn. Vor allem da sie nicht wusste, mit wem – besser mit was – sie da sprach.

Wenn sie es wüsste, wäre sie noch deutlich blasser geworden als beim Anblick seiner Hand.

„Hat der Doktor es vielleicht gesehen?“, fragte sie sanft.

„Ich weiß nicht. Warum? Würde er dann denken, ich sei kriminell?“

Ella presste die Lippen zusammen und warf einen Blick auf den dunkelhaarigen Mann hinten im Raum. Antwort genug war, dass sie rasch blinzelte, als ob sie eine geheime Sorge abschüttelte. Sie stellte eine leere Schüssel und eine Tasse auf das Tablett. „Ich komme noch einmal vorbei und sehe nach Holland, bevor ich gehe. Möchten Sie ein bisschen Wasser? Oder etwas zu essen? Sie müssen hungrig sein.“

„Nein, danke, ich habe alles.“ Er wollte ihr keine Mühe machen.

Die Schwester wollte schon fortgehen, blieb aber am Fußende des Bettes noch einmal stehen. Charlie sah zu ihr auf und diese Bewegung verstärkte das Pochen in seinem Kopf.

„Nutze den Tag“, sagte sie. „Ein schöner Gedanke.“

Gegen seinen Willen lächelte er ein wenig. „Ja, ich nehme an, es gibt wirklich Schlechteres.“

Jetzt erreichte ihr Lächeln auch ihre Augen und ein paar Minuten später brachte sie ihm doch ein Glas Wasser und eine Scheibe Brot.

Obwohl sie den Mantel gegen die Kälte eng um sich gezogen hatte, zitterte Ella. Sie vergrub das Kinn hinter dem Kragen und überquerte die schlammige Kreuzung von Campbell und Second Street. Fast hätte sie das schwarz- und cremefarbene Plakat übersehen, das am Zaun vor der Rorer Hall hing. Sie trat näher und strich über das Papier, auf dem die Tuschezeichnung eines Trapezkünstlers über den fetten Buchstaben Die spektakulärste Show prangte. Ihre Finger glitten weiter hinunter zu den Umrissen von drei Löwen. Einem Clown auf einem Einrad. Eintritt zehn Cent, stand da. Nur drei Tage. Die Daten waren durchgestrichen und durch Termine später in der Woche ersetzt worden. Ella lächelte erleichtert, als ihr klar wurde, dass das bedeutete, dass Holland mehr Zeit hatte, gesund zu werden.

Die junge Frau beeilte sich, das Mietshaus zu erreichen, in dem sie wohnte. Ihre Füße klagten, dass sie drei Stockwerke erklimmen mussten, bevor Ella den Schlüssel in die Tür stecken konnte. Sie trat in den kleinen Raum, der Wohnzimmer und Küche zugleich war. An der Seite war das Schlafzimmer, das sie sich mit ihrer Mitbewohnerin Margaret teilte, die oft in der anderen Schicht arbeitete. Ella ließ sich auf das verschlissene Sofa sinken, schnürte die feuchten Stiefel auf und schob sie näher an den heißen Kaminofen heran.

Mit der Vorfreude auf eine Tasse Tee legte sie im Ofen ein paar Kohlen nach. Während das Wasser heiß wurde, wusch sie sich Gesicht und Hände. Dann löste sie ein paar Haarnadeln und der Zopf fiel herab. Ella warf ihn über die Schulter zurück und blies sich ein paar hellblonde Haarlocken aus der Stirn, während sie den kleinen Raum durchquerte. Nachdem sie ihre Schürze aufgehängt hatte, strichen ihre Finger über ihr Mieder und sie dachte an das kleine Mädchen, das sie den größten Teil der Nacht in den Armen gehalten hatte. Daran, wie mühsam Holland geatmet hatte. An ihr Wimmern, wenn Ella sie zu heftig bewegte. Und dann war da noch eine Frage …

Ella griff sich ihr Krankenpflegelehrbuch aus dem Regal, goss eine Tasse Tee auf, zog sich ihr Nachthemd an und kroch ins Bett. Dann zog sie die Wolldecke eng um sich, nahm einen Schluck des heißen Getränks und kuschelte sich noch tiefer in die Decken.

Eifrig blätterte sie im Buch herum, las zuerst über Mandelentzündung. Nein. Das war es nicht. Sie schlug das Stichwortverzeichnis auf und suchte nach Lungenentzündung. Seite 564. Dort las sie: „Eine verbreitete Kinderkrankheit. Der Husten ist meist hartnäckig und beschwerlich.“ Holland hatte nicht gehustet. Ella überflog die Seite bis zum Ende und nippte an ihrem Tee. „Hmm …“ Jetzt kam ihr ein anderer Gedanke und rasch fand sie auch das Stichwort: Rheumatisches Fieber.

„Rheumatisches Fieber – eine höchst ansteckende Krankheit … Entzündung der Gelenke, die sehr schmerzhaft ist.“

Ella verzog den Mund.

„Die Hauptverursacher sind Mandelentzündung, Unterkühlung und Mangelernährung.“ Sie dachte an Charlie und seine wenigen Münzen. An den Schneesturm, der so plötzlich losgebrochen war. Hollands dünnes Kleid. Ellas Herz zog sich zusammen, als sie weiterlas. „Die Temperatur der Patienten liegt zwischen 39 und 40 Grad und kann stark schwanken.“

Sie las den Abschnitt über das Fieber noch einmal und verglich das Gelesene mit den Symptomen des Kindes. Nun ergaben die Ereignisse der letzten zwölf Stunden einen Sinn. Sorgfältig studierte sie, welche Behandlung empfohlen wurde, war froh, dass sie getan hatte, was sie konnte, und merkte sich ein paar weitere Maßnahmen für den nächsten Tag vor.

„Der Patient sollte sich nicht im Geringsten anstrengen; alles, was das Herz zusätzlich belastet, muss unbedingt vermieden werden.“

Ella würde es Holland so angenehm wie möglich machen. Und sie würde genau hinsehen, ob sich ein Ausschlag entwickelte.

Sie rutschte noch tiefer in die Kissen und nahm einen letzten Schluck Tee. Ihr Blick blieb am Rand der Tasse hängen und sie erinnerte sich, wie finster Dr. Penske Hollands Vater angesehen hatte. Wie er ihn regelrecht gemieden hatte.

„Ich weiß nicht. Warum? Würde er dann denken, ich sei kriminell?“, hatte Charlie gefragt.

Ella dachte an einen Vorfall im Winter, als ein Matrose mit einem Anker-Tattoo auf der Schulter in die Klinik gekommen war. Der Doktor hatte den Mann wirklich schlecht behandelt. Und allen Mitarbeitern hatte er erklärt, er habe eine Studie gelesen, dass man an Tattoos Menschen leicht als Straftäter erkennen könne, weil Tattoos meist im Gefängnis erworben würden. Die Schwestern hatte er zur Vorsicht gegenüber derart unangenehmer Gesellschaft ermahnt.

Ella dachte an Charlie, an die zärtliche Sorge, die er für dieses kleine Mädchen hegte, und versuchte sich einen Reim auf alles zu machen. Ein Blick zur Uhr sagte ihr, dass sie nur noch ein kurzer Schlaf vom Beginn ihrer nächsten Schicht trennte. Also stand Ella auf, schloss die Vorhänge, um das Licht auszusperren, und schlüpfte zurück ins Bett.