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DIETRICH BONHOEFFER

Gemeinsames
Leben

Herausgegeben und mit einer Einführung versehen
von Peter Zimmerling

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Nachdruck der 4., unveränderten Auflage 1940 (München:
Evangelischer Verlag Albert Lempp, früher Chr. Kaiser Verlag)
Rechtschreibung wurde aktualisiert.

Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlagfoto: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Celia Friedland
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-7402-3

Inhalt

Zu dieser Ausgabe

Einführung von Peter Zimmerling

Vorwort

Gemeinschaft

Der gemeinsame Tag

Der einsame Tag

Der Dienst

Beichte und Abendmahl

Index

Anmerkungen

Zu dieser Ausgabe

Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 von den Nazis hingerichtet. 2015 waren es 70 Jahre, dass dieses Verbrechen geschah. Nach 70 Jahren werden die Bücher eines Verstorbenen „gemeinfrei“. Das schien dem Brunnen Verlag und mir eine gute Gelegenheit, vier zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Bücher Bonhoeffers neu herauszugeben: „Das Gebetbuch der Bibel“, „Gemeinsames Leben“, „Nachfolge“, „Schöpfung und Fall“. Durch sie ist er schon zu seinen Lebzeiten einer größeren Lesergemeinde bekannt geworden. Alle vier Bücher sind nach den beiden wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, der Dissertation „Sanctorum Communio“ und der Habilitation „Akt und Sein“, erschienen. Zwischen diesen beiden ersten und den vier folgenden Büchern liegt Bonhoeffers Hinwendung zu einem persönlichen Christusglauben. Wesentliche Anstöße dazu erhielt er während eines Studienaufenthalts in New York 1930/1931. Seitdem führte er ein geregeltes geistliches Leben, das die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst einschloss. Bemerkenswerterweise wirkte sich die spirituelle Wende auf die Sprache seiner Bücher aus: Bonhoeffer verzichtet fortan auf den üblichen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat und bedient sich einer auch dem theologischen Laien verständlichen Sprache.

Noch etwas anderes kommt hinzu: Als er 1935 aus dem Auslandspfarramt in London nach Deutschland zurückkehrte, um die Leitung eines Predigerseminars der Bekennenden Kirche zu übernehmen, ging Bonhoeffer in die Illegalität. Staat und offizielle Kirche lehnten seine Vikarsausbildung ab. Streng genommen bekamen damit alle in der Folgezeit entwickelten theologischen Überlegungen als „Theologie der Illegalität“ einen besonderen Akzent. Das gilt gleichermaßen für die „Nachfolge“, das „Gemeinsame Leben“ und das „Gebetbuch der Bibel“. Bonhoeffer steht dabei in einer Reihe mit dem Apostel Paulus, der einen Teil seiner Briefe im Gefängnis verfasste, und dem Reformator Martin Luther, der während seiner Schutzhaft auf der Wartburg eine Reihe bedeutender Schriften, vor allem aber die Übersetzung des Neuen Testaments anfertigte. Nirgends besser als im Ernstfall erweist sich die Tragfähigkeit theologischer Überlegungen.

Die vier Bände Bonhoeffers werden hier in der Fassung der letzten, zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Auflage abgedruckt. Ihnen ist jeweils eine Einführung vorangestellt, in der Entstehung, Eigenart, Inhalt und die Bedeutung für heute skizziert werden.

Wir möchten mit dieser Ausgabe der allgemein verständlich geschriebenen Werke gerade auch dem theologischen Laien die Lektüre Bonhoeffers ans Herz legen. Wer nach einer Vertiefung seiner eigenen Spiritualität sucht, wird in den Gedanken und dem Vorbild Bonhoeffers einen Schatz von bleibendem Wert finden, der an Aktualität bis heute nichts verloren hat.

Leipzig, im Herbst 2015
Peter Zimmerling

Einführung von Peter Zimmerling

Entstehung und Hintergrund

Das „Gemeinsame Leben“ ist Dietrich Bonhoeffers Buch mit den weitaus meisten Auflagen.1 1939 erstmals veröffentlicht, erlebte es bereits im gleichen Jahr zwei weitere Auflagen. 1940 erschien eine 4. Auflage, die nächste dann allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Buch ist inzwischen in alle wichtigen Weltsprachen übersetzt worden. Bonhoeffer hat die ungefähr hundert Seiten an einem Stück niedergeschrieben, und zwar im September und Oktober 1938, ein Jahr, nachdem die Gestapo das Predigerseminar der Bekennenden Kirche und das aus ihm hervorgegangene Bruderhaus in Finkenwalde (heute: Zdroje) bei Stettin versiegelt hatte.2 Die Arbeit konnte jedoch im Untergrund als sogenannte Sammelvikariate getarnt weitergehen. Bonhoeffers Tätigkeit als Predigerseminardirektor und Leiter des Bruderhauses bildet den Wurzelboden für das „Gemeinsame Leben“. Darum ist es zum Verständnis des Buches unerlässlich, sich das Leben im Predigerseminar und im Bruderhaus vor Augen zu stellen.

Das Finkenwalder Predigerseminar unterschied sich gravierend von heutigen Einrichtungen dieser Art, die es in allen evangelischen Landeskirchen gibt. Die ungefähr 30 Personen des Seminars und die etwa 10 Pfarrer des seit dem zweiten Vikarskurs angegliederten Bruderhauses lebten entsprechend der Bergpredigt von der Fürsorge Gottes: Sie waren angewiesen auf Nahrungsmittel- und andere Sachspenden, die von Gemeinden und Einzelpersonen kamen, die meist zur Bekennenden Kirche gehörten.3 Dabei ging Bonhoeffer selbst mit gutem Beispiel voran. So lebten die Mitglieder des Bruderhauses zeitweise mehr oder weniger ausschließlich von seinem Pfarrgehalt.4 Der ehemalige Seminarist Wolf-Dieter Zimmermann schreibt: „Wer in einer derartigen Unsicherheit leben muss, lernt Gottes Bewahrung und menschliche Hilfe in besonderer Weise kennen. Darüber hinaus bekommt aber auch die biblische Botschaft in solch einer Lage eine ungewöhnliche Kraft. Je weniger Sicherungen der Mensch für sein eigenes Leben hat, desto stärker achtet er auf das, was ihm von der Bibel vermittelt wird. Denn: ‚Gott will ein Helfer sein.‘ Wenn jede Selbst-Sicherung ausfällt, erweist sich erst Gottes Stärke.“5

Neben der finanziellen Unsicherheit war die relative Abgeschiedenheit ein weiteres Merkmal von Finkenwalde, das in ländlicher Umgebung lag; etwa 20 Minuten dauerte die Fahrt mit dem Auto vom Stettiner Stadtzentrum dorthin. Die Fahrt ging durch das Oderbruch zwischen fließenden und stehenden Flussarmen hindurch: Eine reizvolle Flusslandschaft, die die Seminaristen ausgiebig zum Wassersport nutzten.6 Die seit 1938 eingerichteten Sammelvikariate hatten ihren Sitz in den Superintendenturen von Köslin (Koszalin), 160 km nordöstlich von Stettin, und Schlawe (Slawno), nochmals 40 km weiter östlich, außerdem im nahe gelegenen Dörfchen Groß-Schlönwitz (Slonowice) bzw. später auf dem wenige Kilometer entfernten Sigurdshof. Die ländliche Lage von Finkenwalde und später die Abgeschiedenheit der Sammelvikariate war eine wichtige Voraussetzung des spirituellen Lebensstils der Vikarsgemeinschaften. Die Distanz gegenüber fremden geistigen Einflüssen war hilfreich für die Konzentration auf die Beschäftigung mit Bibel und Gebet. Am 29.1.1940 schrieb der Großstädter Bonhoeffer vom Sigurdshof: „Ich finde ja überhaupt mehr und mehr, dass doch die Existenz auf dem Land, besonders in solchen Zeiten, viel menschenwürdiger ist als in der Stadt. Alle Massenwirkungen fallen eben hier fort. Der Gegensatz zwischen Berlin und diesem abgelegenen Hof ist nun wohl besonders groß.“7

Dennoch waren Finkenwalde und die Sammelvikariate kein Idyll. Die kirchenpolitische Situation8 bildet die dunkle Folie, auf deren Hintergrund die Arbeit erst die richtige Kontur gewinnt. Die Herausgeber der Bonhoeffer-Gesamtausgabe haben zu Recht den Titel „Illegale Theologenausbildung“ für Bonhoeffers damalige Tätigkeit gewählt. Die jungen Vikare, die sich für Finkenwalde und die Sammelvikariate als Predigerseminar entschieden, und die Mitglieder des Bruderhauses wollten für die Erneuerung der Kirche aus dem Geist der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem kämpfen. Dafür waren sie bereit, ihren ganzen Einsatz zu geben. Aufgrund der Illegalität der Predigerseminare der Bekennenden Kirche mussten die Vikare damit rechnen, nach dieser Zeit weder ein festes Gehalt noch eine feste Anstellung noch ein Pfarrhaus zu bekommen. Trotzdem sind insgesamt 184 Vikare durch Finkenwalde und die Sammelvikariate gegangen.

Bonhoeffer ging davon aus, dass das verbindliche gemeinsame Leben eine wesentliche Voraussetzung für das Einüben von Spiritualität darstellte. Die Seminaristen verpflichteten sich vor dem Eintritt ins Seminar, sich ganz in die Gemeinschaft zu integrieren und dafür teilweise auf ihr Privatleben zu verzichten. Das gemeinsame Leben wurde durch eine Tagesordnung strukturiert, die von allen Mitgliedern der Seminargemeinschaft einzuhalten war. Daraus sollte eine seelsorgerliche Gemeinschaft, eine Bruderschaft erwachsen. Bonhoeffers Entwurf einer Anweisung für die Kandidaten zur Vorbereitung auf das Pfarramt der Bekennenden Kirche wurde später mit geringfügigen Veränderungen von der Vorläufigen Kirchenleitung so beschlossen:

„Der Kandidat wird im Predigerseminar in einen durch Morgen- und Abendandacht, durch feste Meditationszeit streng geordneten Tageslauf hineingestellt. Er soll die Hilfe solcher Ordnung für die rechte Ausrichtung seiner Arbeit und für sein persönliches Leben erfahren. Der Kandidat soll in dieser Zeit ganz, auch an den Sonntagen, der Seminarbruderschaft gehören und nicht privaten Interessen nachgehen. Er soll in täglicher Gemeinschaft des Gebetes, des Gottesdienstes und der Arbeit lernen, gute Bruderschaft zu halten und zu jedem, auch dem geringsten, Dienst an den Brüdern bereit zu sein. Er soll so im Seminar mit Brüdern oder Lehrern zu der seelsorgerlichen Gemeinschaft kommen, die er braucht und sucht. Er soll wissen dürfen, dass Lehrer und Brüder ihm in dieser Hinsicht jederzeit zur Verfügung stehen. […] Die Seminarzeit soll bei aller Arbeit eine Zeit der stillen Sammlung im Blick auf das Amt sein, das der Kandidat in der Ordination zu übernehmen bereit sein soll.“9

Zu den spirituellen Basics in Finkenwalde gehörten die tägliche persönliche Bibellese, die Meditation anhand der Meditationstexte, Gebet und Fürbitte, Morgen- und Abendandachten, Inanspruchnahme und Gewährung von Seelsorge, die Möglichkeit zur persönlichen Beichte, der regelmäßige Empfang des Abendmahls, theologisch-wissenschaftliche Arbeit (vor allem auf dem Gebiet der Praktischen Theologie), verbindliches gemeinsames Leben und Bruderschaft. Mit vielen dieser Basics betrat Bonhoeffer gegenüber der traditionellen Vikarsausbildung Neuland. Die Einübung in geistliche Lebensvollzüge, in ein spirituelles Leben, wurde zu einem vorrangigen Ziel.

Nach dem Weggang von Finkenwalde wurde angestrebt, dass die ehemaligen Vikare auch während des Gemeindedienstes an der im Predigerseminar eingeübten Spiritualität und der dort entstandenen brüderlichen Gemeinschaft festhielten. Dem dienten die gemeinsamen Meditationstexte, die gegenseitige Fürbitte, die Finkenwalder Rundbriefe,10 die persönlichen Briefe nach und von Finkenwalde, die Teilnahme an den Freizeiten, die von Finkenwalde aus für die Brüder im Amt angeboten wurden, die gegenseitigen Besuche, die Durchführung von Volksmissionen mit Finkenwalder Vikaren, die Bereitschaft, den Weg der Bekennenden Kirche weiter mitzugehen, die Bitte um Übersendung von eigenen Predigten mit dem Angebot der Durchsicht durch Dietrich Bonhoeffer. Er selbst war der Inspirator des Ganzen.

Unmittelbar im Anschluss an den ersten Vikarskurs in Finkenwalde beantragte Bonhoeffer bei der Leitung der Bekennenden Kirche die Einrichtung eines sogenannten Bruderhauses.11 Damit ging er noch einen Schritt über die von vornherein auf ein halbes Jahr befristete Lebensgemeinschaft des Predigerseminars hinaus: „Die Brüder verpflichten sich auf längere Zeit zur Arbeit im Bruderhaus, sind jedoch jederzeit frei zum Austritt“, heißt es im Gründungsantrag.12 Das bloß kurzzeitige gemeinsame Leben des Predigerseminars sollte in eine längerfristige Lebensgemeinschaft überführt werden. Die Theologengemeinschaft des Bruderhauses sollte der Veranschaulichung und Einübung für das von Bonhoeffer während der Vikarskurse in Vorlesungen, Seminaren und Übungen Gelehrte dienen. Dem Antrag wurde entsprochen, sodass Bonhoeffer sich im Herbst 1935 mit sechs Kandidaten aus dem ersten Vikarskurs zur wahrscheinlich ersten evangelischen Kommunität mit gemeinsamem Leben im 20. Jahrhundert zusammenschließen konnte.13 Die Mitglieder des Bruderhauses verpflichteten sich zu einem zölibatären Leben auf Zeit, zu gemeinsamer Kasse und zu gemeinsamem Dienst im Rahmen der Bekennenden Kirche und speziell des Finkenwalder Predigerseminars, wobei Bonhoeffer als Leiter des Bruderhauses sie in ihre Arbeit einwies.14 Er hat damit monastisch geprägter Frömmigkeit im Protestantismus wieder Heimatrecht verschafft.15

Bonhoeffer konzipierte das Bruderhaus von Anfang an als spirituelles Zentrum für die gesamte Kirche. Es entstand auf Beschluss der Gesamtkirche, d. h. der Bekennenden Kirche. Zu seinen Aufgaben gehörte auch das Angebot von Einkehrzeiten für Pfarrer und Laien. Im Katholizismus stand der Kirche seit jeher in den Orden eine entsprechende dienstbereite Gruppe zur Verfügung. Mit dem Bruderhaus wollte Bonhoeffer eine vergleichbare Dienstgemeinschaft im Raum der evangelischen Kirche schaffen. Am 14.1.1935 hatte er in einem Brief an seinen Bruder Karl-Friedrich geschrieben: „Die Restauration [Erneuerung] der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln.“16

Eigenart

Das „Gemeinsame Leben“ ist weit mehr als ein Erfahrungsbericht vom geistlichen Leben einer Theologengemeinschaft.17 Es ist ein geistliches Übungsbuch, ein Exerzitienbuch für die evangelische Kirche insgesamt, das in der Nachfolge von so berühmten christlichen Exerzitienbüchern wie der Regel des Benediktinerordens, der „Nachfolge Christi“ von Thomas à Kempis und den „Exerzitien“ von Ignatius von Loyola steht. Ganz neu für die evangelische Kirche ist, dass Bonhoeffer in seinem „Gemeinsamen Leben“ den Versuch unternimmt, eben nicht nur die Gestaltung des persönlichen geistlichen Lebens, sondern auch die des gemeinsamen geistlichen Lebens zu bedenken. Schon im Vorwort weist er ausdrücklich darauf hin, dass er der Kirche als Ganzer mit seinen Überlegungen dienen will. „Da es sich nicht um eine Angelegenheit privater Zirkel, sondern um eine der Kirche gestellte Aufgabe handelt, geht es auch nicht um mehr oder weniger zufällige Einzellösungen, sondern um eine gemeinsame kirchliche Verantwortung.“ Bonhoeffer ist sich der vielen Vorbehalte bewusst, die dieser Aufgabe entgegenstehen, und fährt deshalb fort: „Die begreifliche Zurückhaltung in der Behandlung dieser kaum neu erfassten Aufgabe muss allmählich einer kirchlichen Bereitschaft zur Mithilfe weichen.“ Auch wenn der ursprüngliche Sitz im Leben der im Buch beschriebenen geistlichen Übungen eine Theologengemeinschaft war, entfaltet Bonhoeffer seine Überlegungen im Hinblick auf weitere Formen christlicher Gemeinschaft und damit der Kirche insgesamt, z. B. einer christlichen Hausgemeinschaft, einer Familie und unterschiedlicher Formen von Bruderschaften, die nur auf Zeit zusammenleben.

Bonhoeffer geht davon aus, dass die geistliche Übung für jeden Christen unerlässlich ist, weil sie dem Glauben zur Gestaltwerdung verhilft. Geistliche Übungen stellen die Gnade, die Gott dem Menschen im Glauben an Jesus Christus schenkt, in keiner Weise infrage – im Gegenteil. Gegenüber Bonhoeffers Plädoyer für die Notwendigkeit spiritueller Übungen wurde schon bald der Vorwurf der Gesetzlichkeit erhoben. Die Kritik Karl Barths ist das prominenteste Beispiel dafür. Nach der Lektüre der Finkenwalder „Anleitung zur Schriftmeditation“18 schrieb er: „Und wiederum störte mich in jenem Schriftstück ein schwer zu definierender Geruch eines klösterlichen Eros und Pathos …“19 Für Bonhoeffer schwächt die spirituelle Übung den Geschenkcharakter des Glaubens nicht, sondern lässt ihn erst zur persönlichen Erfahrung werden und so zur Entfaltung kommen. In einem Brief an Karl Barth vom 19.9.1936 hält Bonhoeffer fest: „Daß aber sowohl theologische Arbeit wie auch wirkliche seelsorgerliche Gemeinschaft nur erwachsen kann in einem Leben, das durch morgendliche und abendliche Sammlung um das Wort, durch feste Gebetszeit bestimmt ist, ist gewiß […]. Der Vorwurf, das sei gesetzlich, trifft mich wirklich gar nicht. Was soll daran wirklich gesetzlich sein, daß ein Christ sich anschickt zu lernen, was beten ist und an dieses Lernen einen guten Teil seiner Zeit setzt?“20

Im Grunde geht es Bonhoeffer im „Gemeinsamen Leben“ darum zu zeigen, wie die Rechtfertigungslehre einem evangelischen Christen sowohl als Einzelnem als auch in der Gemeinschaft zur Sache der Erfahrung werden kann. Dazu knüpft er an die spirituellen Erfahrungen katholischer Orden an – sie galten und gelten als Fachleute für Spiritualität – und macht diese für evangelische Frömmigkeit fruchtbar. Bonhoeffer ist überzeugt, dass jeder Christ ein verbindliches geistliches Leben nötig hat. Denn nicht nur der innere Glaube wirkt sich auf das äußere Verhalten aus, sondern genauso hat das äußere Verhalten Auswirkungen auf den inneren Glauben. Geistliche Übungen und ein lebendiger Glaube bedingen sich gegenseitig. Die im „Gemeinsamen Leben“ entfalteten geistlichen Übungen sind mit der traditionellen evangelischen Spiritualität kompatibel. Bonhoeffer formuliert seine Überlegungen ausdrücklich im Anschluss an die reformatorische Spiritualität Martin Luthers. An vielen Stellen nimmt er Ausführungen aus dessen Katechismen und dessen „Sermon vom hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi“21 auf und setzt diese in Beziehung zur „Imitatio Christi“ von Thomas à Kempis.

Der Aufbau des „Gemeinsamen Lebens“ zeigt, dass Bonhoeffer das geistliche Grundgesetz, das Frère Roger Schutz von Taizé nach dem Zweiten Weltkrieg mit der griffigen Formel „Kampf und Kontemplation“ weltweit bekannt machte, bereits in Finkenwalde erkannte. Der Dienst als Ziel christlicher Existenz wird flankiert von Überlegungen zum gemeinsamen und einsamen Tag bzw. zur Beichte und zum Abendmahl. Schon im Antrag auf Errichtung des Bruderhauses hatte Bonhoeffer 1935 formuliert: „Nicht klösterliche Abgeschiedenheit, sondern innerste Konzentration für den Dienst nach außen ist das Ziel.“22 Im „Gemeinsamen Leben“ zeigt er, dass das gelebte Christsein der geistlichen Sammlung bedarf, wenn es nicht zum bloßen Versuch der Weltverbesserung verwässern soll.

Zum Inhalt

Die Themen der einzelnen Kapitel des „Gemeinsamen Lebens“ sind: Gemeinschaft, der gemeinsame Tag, der einsame Tag, der Dienst, Beichte und Abendmahl. Zentrale Formen der Spiritualität sind dabei Andacht, Gebet, Bibellese, Beichte und Abendmahl.

Die Morgen-, Mittags- und Abendandachten strukturieren den Tagesablauf. Bonhoeffer knüpft hier an die Vorstellung der Hauskirche Martin Luthers an. Jahrhundertelang bildete im Luthertum neben dem Sonntagsgottesdienst die tägliche häusliche Andacht die zweite Säule evangelischer Spiritualität. Die Andachten sollen nach Bonhoeffer Psalmgebet, Schriftlesung, Lied, Gebet und Fürbitte enthalten. Der von Bonhoeffer vorgeschlagene Ablauf der Andachten ist Luthers Gottesdienstverständnis verpflichtet. Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes besteht nach dem Reformator in der Anrede Gottes an den Menschen und in dessen Antwort an Gott. In seiner Predigt anlässlich der Einweihung der ersten neu gebauten evangelischen Kirche, der Schlosskirche zu Torgau an der Elbe am 5. Oktober 1544, hielt Luther fest: „Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt dies neue Haus einsegnen und unserem Herrn Jesus Christus weihen. […] dass nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang.“23

Durch seine eigene Beschäftigung mit der Musik in Theorie und Praxis und durch seine Vorliebe für den Psalmengesang war Bonhoeffer die Bedeutung des Kirchenlieds für die evangelische Kirche aufgegangen. Er hat damit Anteil am hymnologischen Aufbruch der Bekennenden Kirche. Im „Gemeinsamen Leben“ fordert er, das evangelische Kirchenlied einstimmig zu singen, weil nur das einstimmig gesungene Gemeindelied seine geistliche Funktion zu erfüllen vermag. Nur das einstimmige Lied lasse erkennen, dass wirklich mit dem ganzen Herzen gesungen wird, dass zur Ehre Gottes gesungen wird, dass es das Wort Gottes ist, das im Lied zum Klingen kommt und dass die Gemeinde in geschwisterlicher Eintracht singt. Bonhoeffer fordert rigide, den mehrstimmigen Gemeindegesang zu verbieten.

Er war einer der ersten evangelischen Theologen im 20. Jahrhundert, der Alleinsein und Schweigen als wichtige spirituelle Mittel entdeckte. Die entsprechenden Ausführungen finden sich im Kapitel „Der einsame Tag“. Erst im Schweigen vor Gott wird der Mensch zum Einzelnen und damit zur Person. Dass ein Christ vor Gott Einzelner sein kann, war auch ein Gegenprogramm zur damals vorherrschenden Naziideologie mit der Vorstellung: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Dagegen Bonhoeffer: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft.“

Die Frage nach dem persönlichen Bibellesen ließ ihn zu einem Pionier der Meditation im Protestantismus werden. Von Anfang an gehörte zum Tagesablauf in Finkenwalde eine halbe Stunde zweckfreie Meditationszeit nach dem Frühstück.24 Der Meditation lagen, jeweils für eine Woche gleichbleibend, einige wenige gemeinsam vereinbarte Bibelverse zugrunde. Beim Meditieren durfte nicht auf Lexikon, Kommentar oder Urtext zurückgegriffen werden. Bonhoeffer brachte die Idee zur regelmäßigen Meditation aus England mit. Bevor er sein Amt als Predigerseminardirektor antrat, hatte er im März 1935 die wichtigsten englischen Klöster bereist:25