image

Ulrich Giesekus

Liebe, die gelingt

und den Alltag besteht

Mit Illustrationen von Jan-Philipp Buchheister

image

Für Heidrun
und unsere Kinder Björn, Jens, Hannah und Ester

4. Auflage 2010

Inhalt

Vorwort

1 Du bist du. Und ich bin anders.

Warum Zusammenleben manchmal so schwierig ist

2 Anfang gut – Ende offen?

Festhalten oder Loslassen als Lösung

3 Vorsicht, Hochspannung!

Kindheitsprägungen im Widerstreit

4 Der Mythos lebt!

Die beliebtesten Irrtümer über das Leben zu zweit

5 X trifft Y

Der kleine Unterschied und seine großen Wirkungen

6 Frauen reden, Männer handeln

Was Beziehung ausmacht

7 Die Starken und die Guten

Selbstwert, Macht und Entfaltung bei Männern und Frauen

8 Miteinander reden

Das kleine 1 x 1 in Beziehungen

9 Sexualität

Wie man miteinander das gleiche Spiel spielen kann, auch wenn die Regeln sich unterscheiden

10 Kampf und Krampf statt Lust und Liebe

Störungen der Sexualität

11 Ehe gebrochen – Ehe zerbrochen?

Vertrauen nach dem Betrug

12 Pornografie

Konsum hat Folgen

13 Scheiden tut weh

Zerbruch und Neubeginn

Mut zum Ja?!

Anmerkungen

Vorwort

Ganz ehrlich: Ich bin gerne verheiratet. Und ich kann mich bei bestem Gewissen nicht daran erinnern, dass es seit unserer Hochzeit im Frühsommer 1979 irgendwann einmal eine Situation gegeben hätte, in der ich mein Ja bereut hätte. Und was ich noch besser finde: Meiner Frau geht’s genauso.

Was nicht heißt, dass der „Alltag der Liebe“ spurlos an uns vorübergegangen wäre. Reibungslos oder gar mühelos schon gar nicht. Die ersten zehn Jahre in den USA, in Delaware und San Diego, seitdem fünfzehn Jahre in Deutschland, als Studentenehe mit kleinen Kindern oder jetzt mit zum Teil Erwachsenen, die ihren Weg finden – manchmal ging es und geht es noch drunter und drüber, es ist spannend und aufregend. (Manchmal ist es aufregend schön, manchmal rege ich mich auch einfach nur auf.)

Schon bevor ich selbst verheiratet war und durch all die Jahre bis heute habe ich persönliche Erfahrungen mit der Praxis der Familientherapie gemacht. Die Paare und Familien, die ich dort „hinter den Kulissen ihres Lebens“ kennen lernen konnte, waren gute Lehrer. Und das durchaus nicht nur in der Rolle als abschreckende Beispiele: Die Art und Weise, wie manche Paare um ihre Liebe kämpfen, ihre Zähigkeit und ihr Durchhaltevermögen haben mich oft beeindruckt. Und es gibt manche, die ich zutiefst bewundere, davon etliche, die es „nicht geschafft haben“.

Das Bild vom Leben als Paar, das diesem Buch zugrunde liegt, wäre nicht vollständig, wenn die Erfahrungen mit der dunklen Seite des Familienlebens nicht auch einfließen würden. Wer Ehe- und Familientherapie macht, erlebt auch, zu welch schrecklichen Dingen Menschen fähig sind. Quälerei, sexueller Missbrauch, brutale Gewalt und seelische Grausamkeit gibt es in jeder sozialen Schicht, in jeder Kultur, bei gläubigen und ungläubigen Menschen. Die einzige Erklärung für die Meisterschaft, die manche Leute darin entwickeln, anderen wehzutun, ist die, dass dieses Vermögen eigentlich nicht dazu gedacht war, anderen Schmerzen zuzufügen. Dass der Raum, den unser Herz für die Liebe hat, auch mit Schmerz und Hass gefüllt werden kann.

Dieses Buch soll Paaren helfen, mit realistischen Erwartungen einen gemeinsamen Weg zu finden. Es soll helfen, die Bedingungen für Wachstum und Liebe zu schaffen und das aus dem Weg zu räumen, was die Liebe zerstört. Bei all dem ist Bescheidenheit geboten: Es gibt keine Garantie für ein gemeinsames Leben voller Liebe. Wer liebt, geht immer ein Risiko ein.

Gesunde Ehen haben von allem etwas: ein bisschen Himmel, eine deftige Portion Erde, gewürzt mit einer Prise Hölle – was überwiegt, entscheidet sich daran, wie die Liebe den Alltag besteht.

Freudenstadt im Frühjahr 2004                        Ulrich Giesekus

Kapitel 1

Du bist du. Und ich bin anders

Warum Zusammenleben manchmal so schwierig ist

image

Wenn man Menschen fragt, warum sie ihren Partner gewählt und geheiratet haben, bekommt man Antworten, die etwa lauten: „Wir wollten miteinander glücklich werden“, oder: „Ich war verliebt“, oder: „Uns war einfach klar, dass wir den Rest unseres Lebens miteinander verbringen möchten.“

Die Erwartungen, mit denen wir eine Ehe beginnen, sind trotz hoher Scheidungsraten von romantischen Vorstellungen geprägt. Die Ehe wird zuerst einmal als eine Institution gesehen, die uns Glück bringen soll. Und das geschieht ja glücklicherweise auch häufig, aber eben nicht ständig. Denn zu einer guten Ehe gehört nun einmal auch, dass sie uns an den richtigen Stellen unglücklich macht. Lust und Frust in der Ehe ergeben ein Zusammenspiel, welches uns im Idealfall die bestmöglichen Voraussetzungen für eine lebenslange Persönlichkeitsreifung präsentiert.

Persönlichkeitsreifung ist ein lebenslanger Prozess. So wie ein dreijähriges Kind für seine psychologische Entwicklung bestimmte Reifungsaufgaben bewältigen muss, müssen auch Teenager, junge Erwachsene, Menschen in der Lebensmitte, Ältere und Hochbetagte spezifische Aufgaben erfüllen. Oft bieten biologische Tatsachen, wie zum Beispiel die hormonelle Veränderung in der Teenagerzeit oder das Abnehmen körperlicher Kräfte im fortgeschrittenen Alter, einen Hintergrund für diese Entwicklung. Doch obwohl unser Körper spätestens mit dem 18. Lebensjahr schon wieder beginnt abzubauen (der Bauch wird dicker, die Haare dünner …), geht es bei der seelischen Reifung um eine stetige Fortentwicklung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Das Denken soll differenzierter werden, die Gefühle sollen zu einer besseren Selbstwahrnehmung führen, die Wahrnehmung in zwischenmenschlichen Beziehungen muss geschärft werden, die Fragen nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Bedeutung immer klarer beantwortet werden …, bis ein Mensch in der Lage ist, am Ende seines Lebens ein Ja auch dazu, nämlich zu diesem Ende zu finden.

Für alle diese Entwicklungsschritte benötigen wir ein ausgewogenes Verhältnis von Frustration und Bestätigung. Wenn die positiven Bedingungen, wenn Ressourcen fehlen, dann können wir es uns nicht leisten, neue Verhaltensweisen einzuüben und Vertrautes aufzugeben. Auf der anderen Seite: Wenn wir mit uns ganz und gar glücklich und zufrieden sind, bleiben wir auch so, wie wir sind, und verändern uns nicht. So wie es ein Kind zu seiner psychologischen Entwicklung braucht, Eltern zu haben, die es bedingungslos lieben und mit den nötigen Ressourcen versorgen, die ihm aber auch Grenzen setzen und zuweilen dafür sorgen, dass dieses Kind auch einmal unglücklich ist, ganz genau so brauchen auch Erwachsene diese beiden Pole in ihrem Leben.

Wenn glücklich verheiratete Paare auf eine lange Lebensbeziehung zurückblicken, stellen sie in der Regel fest, dass auch Krisen ihrer Ehe eine wichtige Zutat zu ihrem gemeinsamen Glück darstellten. Jüngere Paare dagegen sind häufig sehr erschrocken, dass es auch in ihrer Ehe zu schmerzhaften Auseinandersetzungen kommt. Und je stärker ihre romantische Vorstellung von Liebe ist, desto eher beginnen sie sich zu fragen, ob sie vielleicht doch den Falschen geheiratet haben. Das Hollywood-Modell einer Ehe hat keinen Raum für Streit, Schmerz und Unglück. Die Bibel ist in Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen da sehr viel realistischer: „Wie ein Messer das andere wetzt, so schärft ein Mensch den anderen“ (Sprüche 17,27). Reifung ist also ein Ergebnis von Reibung. Natürlich geht es bei diesem „Messerwetzen“ nicht darum, die Klingen zu kreuzen und den anderen nach Kräften zu verletzen, sondern um ehrliche, offene und auf Gegenseitigkeit beruhende Auseinandersetzungen. In dem oben genannten biblischen Bild heißt es eben nicht, dass ein Stein ein Messer schärft, sondern ein Messer das andere. Das Ergebnis: Beide werden schärfer. Bei Paaren, die ihre Klingen kreuzen, haben hinterher beide eine Macke. Und umgekehrt: Partner, die die eigene Klinge immer in Schaumgummi verpacken, bleiben stumpf. Ein durch überzogenes Harmoniebedürfnis bedingtes Konfliktvermeidungsverhalten ist ebenso schädlich wie aggressiv ausgetragene Streitigkeiten: Beides führt zu Defiziten im seelischen Reifungsprozess.

In einer guten Ehe geht es also nicht darum, Konflikte und Auseinandersetzungen prinzipiell zu vermeiden, sondern sie erstens zu nutzen und zweitens auf eine Art und Weise auszutragen, die dem Partner ermöglicht, das für ihn oder sie notwendige Feedback überhaupt bekommen zu können.

Wenn man wissenschaftliche Aussagen zur Partnerdynamik ansieht, fällt auf, dass Gottes Schöpfung bereits bei den Gesetzmäßigkeiten der Attraktivität und Partnerwahl darauf angelegt ist, dass sowohl Gegenseitigkeit als auch Gegensätzlichkeit bei den meisten Paaren in ausreichendem Maße vorhanden sind. Wenn zwei Menschen beginnen sich zu lieben, steht in vieler Hinsicht das Motto „gleich und gleich gesellt sich gern“ im Vordergrund. Zum Beispiel ist die soziale Attraktivität von zwei Partnern in der Regel gleich stark ausgeprägt. „Die Schöne und das Biest“ gibt es wohl nur in Hollywood – und selbst da ist das Biest am Ende schön. Auch für den sozialen Status der Herkunftsfamilie, für Bildungsgrad, religiöses Engagement, grundlegende Werte und finanzielle Möglichkeiten gilt, dass die Partner sich hier meistens ähneln. Damit wird erreicht, dass sie sich als gleichwertige und ebenbürtige Gegenüber begegnen können. In anderen Worten: Bei den Menschen geht es auch nicht sehr viel anders zu als in einer Affenherde. Das Alpha-Männchen bekommt ein Alpha-Weibchen, was ihre Ehe allerdings auch nicht unbedingt einfacher macht als die der beiden „durchschnittlich attraktiven“, die eine Beziehung eingehen, oder die der zwei gleichmäßig verkorksten Typen, die dann auch wieder gut zueinander passen.

Ganz anders sieht es bei den Unterschieden aus, die die Psyche der zukünftigen Partner betreffen. Hier verlassen wir eindeutig das Terrain der Affen und sind ganz Mensch. Die Persönlichkeitsstruktur eines sehnsuchtsvoll erwünschten Partners folgt der Regel „Gegensätze ziehen sich an“, und da werden die Dinge deutlich komplizierter. Wie kommt es, dass ein Socken-in-der-Wohnung-Verteiler sich ausgerechnet in eine Miss Perfect verliebt, die niemals auf die Idee käme, ohne peinlichst genau ausgeführte Morgentoilette auch nur zum Briefkasten zu gehen? Oder dass eine eher reservierte, etwas kühle und sachliche Frau ausgerechnet den warmherzigsten Kuschelbär, den es in ihrer Umgebung gibt, auserkoren hat? Dass jemand, der in seiner Herkunftsfamilie gelernt hat, jeden Cent dreimal umzudrehen, sich in jemanden verliebt, der sich für Geld überhaupt nicht interessiert und spontane Kaufentscheidungen gewohnt ist? Dass ein auf die Sekunde genauer Partner unbedingt jemanden heiraten will, der noch niemals vor dem Orgelvorspiel eine Kirche betreten hat?

Die Antwort ist eigentlich relativ einfach: Weil das funktioniert. Eine gute Küche profitiert ja auch nicht von zwei Kühlschränken, wenn der Herd fehlt. Für die Aufzucht der Jungen ist es von entscheidender und lebensbejahender Bedeutung, dass die beiden Eltern sich ergänzen und der eine seine Fähigkeiten dort hat, wo der andere Teil Schwächen erlebt. Stellen Sie sich vor, zwei „Kühlschränke“ würden eine Familie gründen: Woher sollte die Wärme, Zuneigung und Herzlichkeit kommen, die Kinder zu ihrer seelischen Entwicklung brauchen? Oder umgekehrt: Wie in aller Welt soll es den Kindern von zwei „Backöfen“ gelingen können, sich, wenn sie erwachsen werden, aus der verschworenen Gemeinschaft der Familie zu lösen und eigene, herzliche und tiefe Bindungen zu entwickeln? Schließlich gilt seit Urzeiten, dass ein Mensch sich von den Eltern lösen muss, um eine starke Partnerbindung zu entwickeln. Oder stellen Sie sich vor, Ihre Eltern wären beide „Chaoten“ gewesen. (Falls das tatsächlich so gewesen sein sollte – manchmal passieren Fehler –, sind Sie wirklich zu bedauern.) Dann hätten Ihre Chancen sehr gut gestanden, dass Sie als Kind dieser Familie schnell lernten, den Laden zu managen. Das ist aber für Kinder nicht gut. Kinder sollen Kinder sein, und Eltern Eltern. Das ist leicht gesagt. Oft genug übernehmen jedoch Kinder Aufgaben, die eigentlich von ihren Eltern erledigt werden müssten, und nicht wenige leiden deshalb ein Leben lang unter dem Verlust ihrer Kindheit. Manche entwickeln erst gar kein „inneres Kind“ und bleiben extrem verantwortliche Menschen ohne die Fähigkeit zur Freude. Andere versuchen ihr Leben lang nachzuholen, was nicht nachzuholen ist. Sie werden nicht wirklich erwachsen, obwohl sie es eigentlich längst sind und auch sein müssen.

Wenn Sie das kennen, wünschen Sie sich vielleicht, Ihre Eltern wären beide ein Vorbild an Effektivität, guter Organisation und Zuverlässigkeit gewesen. Aber das ist auch oft nicht besser. In einer solchen Familie kann man ohne „gut zu sein“ nicht bestehen, Leistungsdruck und Erwartungen prägen das Leben und das Selbstwertgefühl. „Ich bin, was ich leiste“, lautet das geheime Familienmotto, und das hat Folgen für das Selbstbild des Einzelnen. Die einen schaffen es, den Anforderungen zu genügen, und erzählen dann am Ende ihres Lebens stolz, dass sie auch nach dem zweiten Herzinfarkt noch fünfzig Stunden in der Woche gearbeitet haben, die anderen können den Anforderungen nicht genügen und erleben sich zeitlebens als Versager.

Wenn Sie also manchmal unter den Konflikten Ihrer Eltern gelitten haben sollten oder wenn Sie unter Konflikten in der eigenen Ehe leiden – danken Sie Gott, dass er uns so gemacht hat, dass wir nicht „reibungslos leben“, sondern mit einem Potenzial für Konflikte. Denn das heißt, dass wir auch gute Fähigkeiten der Konfliktbewältigung entwickeln können. Und sollten Sie zu den Eltern gehören, die meinen, dass die Hauptsache bei der Erziehung sei, dass man sich immer einig ist – vergessen Sie diesen Quatsch. Das geht nicht. Zwei unterschiedliche Menschen aus zwei unterschiedlichen Familien und mit unterschiedlichem Geschlecht sollen in einer der kompliziertesten Angelegenheiten unseres Lebens, nämlich zu entscheiden, was unsere Kinder brauchen, immer das Gleiche denken – wie, bitte, soll das gehen? Die einzige Möglichkeit, um das zu erreichen, wäre Herrschaft, also die Unterdrückung des Andersdenkenden.

Ganz anders sollte es aussehen: Zwei unterschiedliche Eltern mit einer Vielfalt von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten präsentieren einen reich gedeckten Tisch an möglichem Modellverhalten, von dem die Kinder sich bedienen können. Was Kinder wirklich belastet, sind Eltern, die ihre Konflikte dadurch austragen, dass sie die Kinder mehr oder weniger subtil auf ihre Seite zu ziehen versuchen. Das tun die Eltern aber nur, wenn „Andersdenken“ nicht erlaubt ist. So entsteht ein Teufelskreis: Um für die Kinder eine gute Atmosphäre zu schaffen (die diese wirklich brauchen), wollen die Eltern sich immer einig sein. Alle Differenzen werden dann als Angriff auf die Liebesbeziehung erlebt. Als Ergebnis versuchen beide mehr oder weniger verzweifelt, den Partner zur „richtigen“ Sicht zu bekehren. Oder einer (meistens der Vater) kapituliert und überlässt die Erziehung dem anderen (der Mutter).

Unterschiede sind nicht nur für Kinder gut. Um noch einmal an das bereits zitierte Bibelwort zu erinnern: „Wie ein Messer das andere wetzt, so schärft ein Mensch den anderen.“ Durch Reibung an der richtigen Stelle und auf die richtige Art werden wir „scharfe Typen“. Der sozial gleichwertige, aber psychisch anders strukturierte Ehepartner präsentiert auch für die eigene Persönlichkeitsreifung eine Fülle von Verhaltensweisen, die als Vorlage für eigene Lernprozesse dienen können. Aber eben nicht als Ersatz dafür! Die anfängliche Illusion der Verliebten lautet: Wenn ich dich gewonnen habe, bin ich komplett – du tust, was ich nicht kann, und bist, was ich nicht bin. Die Enttäuschung folgt bald: Neben dir sehe ich mit meinen Fehlern und Schwächen noch stümperhafter aus, und deine Schwächen gehen mir auf die Nerven. Dabei ist jetzt eine Steilvorlage gegeben, um sich gegenseitig in der Entwicklung weiterzubringen. Entscheidend dabei ist natürlich, wie man mit Frustration und Konflikten umgeht: Wer den anderen bestraft, wird in der Regel bestraft. Wer den anderen versteht, wird in der Regel verstanden. Wer dem anderen hilft, bekommt in der Regel Hilfe.

Kapitel 2

Anfang gut – Ende offen?

Festhalten oder Loslassen als Lösung

image

Eigentlich ist es verblüffend: Obwohl wir in einer Gesellschaft leben, in der Partnerschaften zunehmend instabil werden, haben sich die grundlegenden Vorstellungen von guten Beziehungen nicht geändert. Bei verliebten Teenies ist nichts so klar wie die Erwartung: „Bei uns beiden bleibt die Liebe.“ Werden Menschen hier von ihren Keimdrüsen ohne Rücksicht auf Verluste in die Brunft geschickt? Macht Liebe tatsächlich blind? Ist zumindest die Verliebtheit eine Hormonstörung mit ernsthafter Beeinträchtigung der Selbst- und Fremdwahrnehmung?

Das Bis-über-beide-Ohren-verliebt-Sein ist für die Entwicklung einer guten Partnerschaft zwar nicht unbedingt nötig, aber es ist auch kein Risikofaktor. Doch was so hoffnungsvoll von der Startbahn abhebt, endet häufig mit einer Bruchlandung. Erheblicher Schaden, Verletzungen und überdauernde Flugunfähigkeit sind nicht selten die Folge.

In den Medien – egal ob in Spielfilmen, Talkshows oder Dokumentationen – wird ein Bild gemalt, in dem das Ende von Ehen als „das ganz normale Chaos der Liebe“ dargestellt wird. Der Krimi-Kommissar sitzt mit seiner Ex, der Journalistin, ganz friedlich im Café, und zusammen lösen sie den schwierigen Fall. Schauspieler und andere Personen des öffentlichen Lebens trennen sich von ihrem Lebenspartner scheinbar einfacher und häufiger, als Otto Normalverbraucher sich von seinem Auto trennt. Und regelmäßig titelt die Boulevardpresse unter einem großen Foto mit einem Paar, das sich den Rücken zuwendet: „Wir bleiben Freunde.“

Wir werden älter als frühere Generationen. Wir können es uns finanziell leisten, in einer Familie zwei Haushalte zu führen, ohne zu verhungern. Und wir können als Geschiedene und Wiederverheiratete uns in der Gesellschaft zeigen, ohne dass mit dem Finger auf uns gezeigt wird.

Und das ist gut so. In der Menschheitsgeschichte ist das ein relativ neuer Sachverhalt, und auch der betrifft nur die wohlhabenden zehn Prozent der Weltbevölkerung. In anderen Gesellschaften war bzw. ist der äußere Druck zum Erhalt der Ehe oft so extrem groß, dass Brutalität, Aggression, Angst und Depressionen ausgehalten werden müssen, egal zu welchem Preis.

Gehört es zu den Errungenschaften der modernen Gesellschaft, dass Gesundheit, Wohlstand und Toleranz die Probleme „ermöglichen“, die unsere Vorfahren vielleicht gerne gehabt hätten – inklusive des Verlusts von lebenslangen, treuen Beziehungen zwischen Partnern? Ist es eher ein Segen, dass wir als Gesellschaft lässig und locker mit Scheidung und Partnerwechsel umgehen? In vieler Hinsicht ist das sicherlich so. Doch wenn es scheint, dass der moderne Mensch eine Scheidung „wegsteckt“ und nach kurzer Trauer fröhlich weiterlebt, trügt dieser Eindruck.